Disclaimer: Die Rammsteiner gehören nicht mir, sondern sich selber. Die Geschichte ist frei erfunden und wird so oder ähnlich hoffentlich nie passieren. Eventuelle Parallelitäten zu anderen Geschichten oder wahren Begebenheiten sind unbeabsichtigt. Ich bekomme kein Geld für diese Story, höchstens ein paar Kommis, wenn ich Glück hab^^
Alles klar? Na denn entscheu^^
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Die folgende Geschicte ist mein Baby, gleichzeitig diejenige, die der härteste Tobak ist. Warnings und Rating unbedingt beachten!
Der Disclaimer gilt für alle Kapitel.
Wenn ihr wissen wollt, ob es ein Happy End gibt, einfach mit der Maus die Zeile hinter "Happy End" markieren 
Status: In Arbeit.
Seiten bis jetzt: 133
Kapitel bis jetzt: 22
Rating: P18/Slash
Pairings: Keine
Genre: Drama
Warnings: rape, sad, angst, Gewalt, physische und psychische Folter
Happy End: ja
Fortsetzung: ja
Prolog
„Lalelu, nur der Mann im Mond schaut zu, wenn die kleinen Babys schlafen. Drum schlaf auch du...“, sang ein junger Mann und ordnete seine Instrumente. Heute würde es beginnen. „Lalelu, vor dem Bettchen stehn zwei Schuh und die sind genauso müde...“ Er stockte, er hatte doch tatsächlich einen Fleck entdeckt. Schnell nahm er einen Lappen und putzte das Messer, um es dann zu den anderen Messern, Pinzetten, Zangen und solchen herrlichen Sachen zu legen. Ein irres Grinsen. „...gehn jetzt zur Ruh...“
„Hast du wirklich keine Lust, mit uns noch einen trinken zu gehen?“ Paul sah Richard fragend an. „Nö du, lass mal, ich muss morgen zeitig raus, da macht sich ein Kater nicht so gut...“, erwiderte der schwarzhaarige Gitarrist grinsend. Es einmal wieder sehr spät im Tonstudio geworden. Olli und Till waren schon früher gegangen und nun zogen noch die restlichen vier durch Berlins Straßen. Doch bald würden sie nur noch zu dritt sein, denn Richard hatte keine Lust, sich jetzt noch besaufen zu gehen. Und so verabschiedete er sich mit einem „Wir sehen uns.“ und bog in eine der Nebengassen ein, während die anderen drei eifrig diskutierten, in welchen Club sie heute gehen wollten.
Der Schwarzhaarige lächelte vor sich hin, als er eine seiner „Abkürzungen“ nahm und an seine Freunde dachte. Es war immer noch wie in alten Zeiten, genauso verrückt und man hatte das Gefühl, als wären sie kein bisschen erwachsener in den vergangen fast 10 Jahren geworden.
Gerade wollte Richard, immer noch lächelnd, den Kopf schütteln, als ihn ein schwerer Gegenstand dumpf auf diesen traf. Vor seinen Augen wurde es schwarz und er brach bewusstlos zusammen. Ein junger Mann trat aus dem Schatten.
„Lalelu, nur der Mann im Mond schaut zu...“
Rache, der erste Teil
Als Richard erwachte, dröhnte sein Schädel, als hätte er in der vorherigen Nacht nicht nur einen über den Durst getrunken, sondern vielleicht zwei oder mehr. Doch er spürte, dass etwas nicht stimmte. Mit seinen Händen wollte er an seinen Kopf fassen, aber das ging nicht. Erstaunt schlug er die Augen auf und sah, dass er in einer Art Lagerhalle oder ähnlichem war. Er war an den Handgelenken mit Ketten in die Höhe gezogen worden, sodass er sich in einer einigermaßen aufrechten Position befand. Zudem war er, bis auf die Unterhosen, nackt. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er auch ziemlich stark fror, es war eiskalt hier. Was war passiert? Er wusste es nicht mehr. Er konnte sich nur noch daran erinnern, dass er sich von seinen Bandkollegen verabschiedet hatte und dann? Nichts mehr. Nur noch Schwärze.
Er hörte ein quietschendes Geräusch und drehte den Kopf, soweit es ging, nach rechts. Da kam jemand. Eine vermummte Gestalt schob einen kleinen Rolltisch vor sich her. Daher wahrscheinlich auch das Quietschen. Richard ließ den Kopf wieder hängen, es war zu anstrengend, ihn ständig so zu verdrehen. Dann kam der kleine Rollwagen in sein Sichtfeld. Seine Augen weiteten sich vor Schreck und was er sah, ließ in ruckartig in die Höhe fahren, sofern es seine Fesseln ihm erlaubten. Dadurch bekam er nun die Gestalt zu Gesicht. Viel erkennen, konnte er nicht, außer einem Paar dunkelbrauner, fast schwarzer Augen, die ihn überrascht ansahen.
„Soso, da ist der Herr also von alleine aufgewacht. Wie praktisch, da brauch ich das hier nicht...“, meinte eine gehässige, offenbar männliche Stimme. Die Gestalt zeigte auf einen Eimer, in dem sich offensichtlich Wasser befand. Eine dünne Eisschicht hatte sich schon darauf gebildet. „Obwohl...wenn ich’s mir richtig überlege...damit du auch wirklich wach bist...“ Der junge Mann nahm den Eimer von dem Rollwagen und schob diesen vorsichtig, ja geradezu liebevoll beiseite. Richard ahnte, was da wohl auf ihn zukam und versuchte sich innerlich dagegen zu wappnen. Das half allerdings herzlich wenig, denn als ihn das eiskalte Wasser traf, schnappte er entsetzt nach Luft und ein kleiner Aufschrei entfuhr ihm. Auf seinem gesamten Körper bildete sich sofort Gänsehaut.
„Gut gut“, sagte die gehässige Stimme wieder, „Bis jetzt läuft es ja ganz prächtig.“ Die Gestalt zog den Rollwagen zu sich heran und betrachtete die Instrumente darauf mit einem liebevollen Blick. „Ich bin sicher, dass wir uns bestens amüsieren werden, meinst du nicht auch? Oh ja, wir werden uns ganz lange amüsieren...“ Dann verschwand der junge Mann und mit ihr diese Stimme wieder aus Richards Blickfeld. „Hey!“, rief er ihr nach. Die Gestalt drehte sich um. „Wir reden später.“, meinte die Stimme und dann war sie endgültig wieder verschwunden.
Richard sah ihm nach mit Millionen Fragen im Kopf. Was sollte das alles? Wenn das ein Scherz sein sollte, dann war er eindeutig nicht lustig. Allerdings glaubte der Schwarzhaarige nicht, dass es das war. Dieser Mann wollte ihm bestimmt nichts Gutes und wenn er an das Zeug auf dem Rollwagen dachte. Er schauderte, was aber auch von dem eisigen Wasser und auch sonst von der Kälte hier kam. War ja eigentlich auch logisch, es war schließlich Winter. Draußen herrschten Minusgrade und hier drinnen? Richard zitterte jetzt schon vor Kälte. Was wollte der Typ von ihm? Ihn hier erfrieren lassen? Das glaubte Richard kaum. Wieder kamen ihm die Instrumente auf dem Rollwagen in den Sinn. Skalpelle, Messer, Zangen, Scheren usw. Er wollte gar nicht wissen, was man damit alles anstellen konnte.
Er hörte etwas und drehte den schmerzenden Kopf in diejenige Richtung. Die Gestalt war wiedergekommen, nur diesmal nicht vermummt, man konnte das Gesicht erkennen. Es war tatsächlich ein Mann, allerdings war er viel zu weit weg, als dass Richard Einzelheiten ausmachen konnte. Dann erschrak er zum zweiten Mal. In der einen Hand hielt Richards offensichtlicher Entführer einen Benzinkanister, der auch noch voll zu sein schien. Was sollte das jetzt wieder? In der anderen Hand entdeckte der Schwarzhaarige ein Brötchen, in welches der junge Kerl jetzt genussvoll hineinbiss. Bei diesem Anblick meldete sich nun auch Richards Magen geräuschvoll zu Wort und er sah dem anderen sehnsüchtig beim Essen zu.
„Hunger? Hmm, vielleicht hab ich später was für dich, mal sehen...“ Der Entführer machte sich kauend daran, einen Stapel Holz in einiger Entfernung von Richard aufzuschichten, weit genug weg, damit der von der entstehenden Wärme nichts abbekam. „Ich dachte mir, ich mach ein kleines Feuer, ist doch ziemlich kalt hier drin, meinst du nicht auch?“
„Sag mal, was soll das alles hier?“, setzte Richard an, doch schon war sein Peiniger hinter ihm, nahm ein Skalpell und schnitt ihm tief in die Schulter. Der Gefesselte schrie auf.
„DU sprichst nur, wenn ich es dir erlaube, hast du mich verstanden?“ Ein Nicken. Spätestens jetzt wusste er, dass dies bestimmt kein Scherz war.
„Gut...“ Damit wandte sich der Mann wieder dem Stapel Holz zu, den er nun mit dem Benzin überschüttete. Er nahm ein Streichholz, zündete es vorsichtig an und setzte das Holz in Flammen. Dann verschwand er wieder, kam aber kurz darauf mit einer Eisenstange zurück. Am Ende von dieser war ein gebogenes Stück Metall angeschmiedet, welches der Mann jetzt ins Feuer legte. „Gut, das kann jetzt ein paar Minuten dauern. Wird Zeit, die letzten Vorbereitungen für die große Show zu treffen.“ Feixend ging er zu einem PC, den Richard jetzt erst bemerkte, und brachte offensichtlich eine Webcam an. Die richtete er auf den Schwarzhaarigen aus. Nachdem alles zu seiner offensichtlichen Zufriedenheit eingestellt war, begab er sich nun zu seinem Opfer.
Jetzt erst sah Richard, dass der junge „Mann“ wirklich noch sehr jung war. Er sah aus, wie ein pickeliger Teenager, trotzdem schätzte Richard ihn auf vielleicht Anfang 20. Sein Gesicht war so nichtssagend, wie seine gesamte Gestalt, doch seine Augen wirkten gefährlich genug.
„So, ich nehme mal an, dass du wissen willst, was hier los ist, richtig?“ Wieder ein Nicken. Der Schwarzhaarige unterließ es tunlichst, ein Wort zu sagen, der Schnitt auf seiner Schulter brannte tierisch und er spürte, wie im das Blut aus der Wunde den Rücken hinunter lief.
„Nun, um es ganz einfach zu sagen: Ich will Rache. Oder besser gesagt: Ich werde Rache nehmen.“ Richards Augen weiteten sich überrascht.
„Rache?“ Er konnte sich diesen Ausruf nicht verkneifen, was ihm aber sofort einen weiteren Schnitt mit dem Skalpell einbrachte. Richard verbiss sich ein Schreien.
„Ich merke schon, du musst noch viel lernen...“ Kopfschüttelnd wurde er betrachtet. „Aber ja, ich will Rache.“ Damit knöpfte der junge Mann sein Hemd auf und zeigte auf etwas auf seinem Bauch.
„Weißt du, was das ist?“ Der Schwarzhaarige sah auf die Stelle. Auf der Haut konnte er eine dicke, weiße Narbe erkennen. Eine Narbe in Form eines großen R. Verwundert schüttelte er den Kopf.
„Nein? Du weißt nicht, was das ist? Wirklich nicht? Nun ich hätte dich vielleicht auch fragen sollen, wofür es steht. Nun? Kannst du dir das vielleicht denken?“ Richard überlegte, dann kam ihm eine Erkenntnis. Aber...das war doch unmöglich! Soweit konnte doch niemand gehen, oder? Wieder spürte er einen Schnitt, diesmal auf seinem Arm.
„Rede!“, wurde er brutal aufgefordert. Der Schwarzhaarige brauchte eine Weile, um seine Stimme wiederzufinden.
„Rammstein.“, flüsterte er dann, „Das R steht für Rammstein.“
„Oh gut, sehr gut sogar. Sicher fragst du dich jetzt, warum ich dir dies zeige, oder?“
„Nun ja...“ Richard schluckte hart, dann entschied er sich, es darauf ankommen zu lassen. „Vielleicht bist du ja ein sehr fanatischer Fan, oder so?“ Er schloss die Augen und erwartete noch weitere Schmerzen, doch die blieben aus, vorerst. Stattdessen hörte er nur ein lautes, kaltes Lachen. Verwundert blickte er auf. „Oohh, die Idee ist gut, wirklich...“ Richards Entführer unterbrach sich und bekam einen weiteren humorlosen Lachanfall. Mit einem Mal stoppte er jedoch und sah Richard kalt an. „Weißt du, da ist nämlich sogar was dran.“ Er ging zum Feuer und legte Holz nach. Dabei redete er weiter.
„Ich war tatsächlich einmal ein Fan von euch, ein ziemlich großer Fan sogar...“
„Und jetzt bist du es nicht mehr?“ Der Schwarzhaarige biss sich auf die Zunge, doch es war schon zu spät. Ein weiterer tiefer Schnitt gesellte sich zu den bereits vorhanden. Wieder verkniff er sich einen Schrei. „Unterbrich mich nicht, verstanden? Dazu hast du kein Recht!“ Ein erneutes Nicken. Der junge Mann ging wieder zum Feuer und sprach weiter, als wäre nichts geschehen. Richard fand es beängstigend, wie schnell sein Entführer von einer Ton- und Gefühlslage in die andere wechseln konnte.
„Wo war ich? Ahja, ich war ein Fan von euch, hmm. Die Musik hatte mir sehr viel gegeben, weißt du...leider hat das meinem Umfeld überhaupt nicht gepasst, dass ich sowas gut fand.“ Er drehte die Eisenstange in der Glut, das Ende fing schon an zu glühen. „Nun ja, um ehrlich zu sein wurde ich dafür verachtet und ausgegrenzt, dass ich Rammstein-Fan war.“ Er ging zu dem Schwarzhaarigen, stellte sich hinter ihn und legte einen Finger auf einen der Schnitte.
„Sie haben mir wehgetan, dafür.“, flüsterte er ihm ins Ohr, dann drückte er seinen Finger tief ins Fleisch. Richard stöhnte, versuchte aber, nicht zu schreien. Die Genugtuung wollte er dem Kerl nicht geben.
„Oha, einer von der ganz tapferen Sorte, was? Glaub mir mein Lieber, du wirst noch sehr häufig schreien, dafür werde ich sorgen!“, hörte er nun wieder die gehässige Stimme. „Du wirst dir wünschen, nie geboren worden zu sein, wenn ich mit dir fertig bin. WENN ich überhaupt irgendwann einmal mit dir fertig bin...“ Er nahm den Finger aus der Wunde und wischte das Blut an Richards Körper ab.
„Auch ich war tapfer, muss ich dir sagen. Am Anfang sind wir doch alle tapfer, oder? Aber das wurde mir bald ausgetrieben.“ Die gehässige Stimme klang jetzt auf einmal bitter. „Nun, wie dem auch sei. Sicher würdest du gerne erfahren wollen, was nun genau passiert ist, hab ich Recht?“ Der Schwarzhaarige nickte, das wollte er tatsächlich wissen.
„Gut, ich erzähl es dir, bin ich nicht nett? Ich hab heute mal wieder meine soziale Ader, wirklich wahr...“ Richard wäre am liebsten auf diesen selbstgefälligen Kerl losgegangen, was aber, verständlicherweise, nicht möglich war. Trotzdem klirrten die Ketten.
„Na sieh mal einer an, da bin ich schon so nett und du hast auch noch Einwände, also wirklich, das geht doch so nicht. Naja, das werd ich dir schon noch austreiben, aber immer hübsch eins nach dem anderen. Erst muss ich dir ja noch erklären, was nun passiert ist, schließlich will ich dich ja nicht dumm sterben lassen.“ Ein höhnisches Lachen.
„Also gut, wo fang ich an? Am besten vorne, ja, das ist immer am übersichtlichsten, wenn man vorne anfängt...Ich war auf einem Internat, musst du wissen. Ich hatte da zwar nie Freunde, aber bis zu einem gewissen Tag auch nie echte Feinde. Ich wurde zwar immer komisch angeschaut, weil ich nicht nur Rammstein, sondern auch andere, hmm...schwarze? Kommt das hin? Schwarze Musik? gehört habe, aber sie konnten damit leben. Aber dann...eines Tages, oder eher Abends, wurde der Sohn der Internatsleiterin überfallen und brutal zusammengeschlagen. Er erlag im Krankenhaus später seinen Verletzungen. Das hatte sie alle natürlich tief getroffen, aber dann kam raus, dass sich die Täter nicht nur mit Drogen und Alkohol zugedröhnt hatten, sondern auch noch vorher auf einem Rammstein-Konzert waren. Und ab da schlug die Stimmung entgegen meinen Gunsten um...“
„Das ist nicht dein Ernst!“, entfuhr es Richard fassungslos. Das konnte und wollte er nicht glauben.
„Oohh, das ist mein voller Ernst, aber ich kann dir sagen, dass ich am Anfang ähnlich gedacht hab. Ich hab es solange gedacht, bis mir die Sticheleien und das Mobbing zu viel wurden. Und dann hab ich mich nur noch gefragt: Warum? Aber weißt du“, der Mann trat näher zu seinem Opfer, während er mit dem blutigen Skalpell spielte, „im Nachhinein denke ich mir, dass sie einfach nur einen Sündenbock brauchten. Den brauchen die Leute doch immer. Einer muss schließlich an den ganzen Missständen schuld sein, oder nicht? Einen, auf den sie mit dem Finger zeigen können, während sie selber mit reinem Gewissen schlafen gehen. Der ist dann schuld, aber nie man selbst. Aber weißt du, trotz allem hab ich nie behauptet, plötzlich kein Fan mehr zu sein. Zum einen hätten sie es mir nicht geglaubt und zum anderen hätte es auch nicht gestimmt. Aber als sie mir dann diese Narbe machten...da war dann für mich der Punkt erreicht, wo ich einen Schlussstrich gezogen habe. Da hab ich dann Rache geschworen. Rache an den Leuten, die dafür verantwortlich waren, für mein lausiges Leben. Und vor allem Rache an dem Mann, der diese Leute zusammengebracht hat.“
„Natürlich...“, murmelte Richard leise, er war wie vor den Kopf geschlagen, „Ich bin der Gründer...“
„Richtig! Ich sehe, du begreifst sehr schnell, das ist lobenswert.“
„Aber...“ Der Schwarzhaarige blickte verwirrt auf. „Aber dann benutzt du mich doch auch nur als Sündenbock...und die Band auch. Du tust doch damit genau das, was du an den anderen verurteilst...“
„Oh, ich hab nie gesagt, dass ich es verurteile, oder? Nein, ich hab festgestellt, dass es sogar sehr angenehm sein kann, einen Sündenbock zu haben. Der Trick besteht einfach darin, es nicht selber zu sein. Und weißt du, du hast einen unschätzbaren Vorteil, den die meisten Sündenböcke dieser Welt nicht haben, willst du wissen, welchen?“ Richard nickte, aber eigentlich wollte er es gar nicht wissen. Er war immer noch viel zu geschockt davon, dass Menschen so weit gehen konnten. Wieder hörte er die Stimme an seinem Ohr:
„Du weißt, WARUM du es bist. Dein Herr, der dir die Sünden aufgeladen hat und dich damit nun in die Wüste schickt, hat es dir verraten.“
„Noch immer keine Spur von ihm?“ Paul tigerte rastlos im Zimmer auf und ab. Er stellte diese Frage jetzt wohl schon zum 50. Mal.
„Nein Paul und jetzt setz dich wieder hin, du machst mich noch ganz nervös!“ Flake sah genervt zu seinem Bandkollegen, der sich jetzt auf einen Stuhl setzte, gleich darauf jedoch wieder aufstand und wieder damit begann, im Zimmer auf- und abzulaufen.
„Aber er muss doch irgendwo sein! Niemand verschwindet einfach so spurlos und vor allem nicht Richard! Das sieht ihm gar nicht ähnlich!“
„Paul!“ Der Angesprochene stockte und setzte sich wieder hin, blieb diesmal aber auch sitzen. Till meldete sich zu Wort: „Aber es stimmt doch. Richard würde nie, ohne eine Nachricht zu hinterlassen, einfach so verschwinden. Oder nicht zu einem Termin erscheinen. Das passt nicht zu ihm...“
Sie alle saßen in Richards Wohnung und zerbrachen sich den Kopf darüber, was mit ihrem Freund wohl passiert sein mochte. Heute früh hatte ein Bandmitglied von Emigrate sich bei Till gemeldet, nachdem Richard weder ans Telefon, noch ans Handy gegangen war. Till war überrascht von dem Anruf gewesen und hatte, nachdem er gesagt hatte, dass er auch nicht wusste, wo sein Freund steckte, die anderen fünf angerufen, aber die wussten ebenfalls von nichts. Paul wäre am liebsten sofort zur Polizei gegangen und hätte eine Vermisstenanzeige aufgegeben, doch Schneider erinnerte ihn daran, dass dies bei volljährigen Personen erst frühestens 24 Stunden nach dem Verschwinden möglich war. Und so saßen sie jetzt tatenlos in dem Wohnzimmer ihres Bandkollegen herum und überlegten, was sie vielleicht übersehen haben könnten. Ein entsetztes „Ach du Scheiße!“ von Olli riss sie aus den Gedanken.
Der surfte schon seit Stunden im Internet und graste sämtliche größeren und kleineren Fanforen ab, in der Hoffnung, einen Hinweis auf Richards Verbleib zu entdecken, ein Unterfangen übrigens, das die anderen erst recht als sinnlos empfanden. Jetzt schien er aber tatsächlich etwas entdeckt zu haben. „Was ist los?“, fragte Schneider müde. Es war gestern doch ziemlich spät geworden. „Ich hab hier in einem Forum einen Link zu einem Video entdeckt und...das was da an Kommentaren steht, hört sich gar nicht gut an...“ Die anderen kamen neugierig näher und sahen auf den Bildschirm. Während das Video lud, lasen sie sich die Kommentare in dem Forum durch. Der Eröffnungsbeitrag zu dem Thema „Was ist mit unserem Rich los?“ enthielt folgenden Text:
-Leute, ich hab DAS HIER(diese beiden Wörter waren der Link zu dem Video) gerade im Internet gefunden. Wer schwache Nerven hat, sollte es sich lieber nicht antun. Was soll das? Ist das ein Fake? Ich hoffe für Richard, dass es das ist, wenn nicht...daran will ich gar nicht denken. Was haltet ihr davon?.- Darunter dann der nächste Post:
-Ich habs gerade gesehen und, scheiße! Ich glaub nicht, dass das ein Fake ist. Wenn es einer ist, dann ist er eindeutig nicht lustig! Ob das die anderen fünf auch schon gesehen haben? Aber es sieht nicht, wie ein Fake aus. Scheiße! Mehrere heulende Smilys.-
-OMG, OMFG, das ist doch nicht wahr, oder? *sprachlos is*-
-Ey, jetz kriegt euch mal wieder ein, das is bestimmt nich echt! Wie denn auch? Aber wenn es echt is...ne, das is net echt!- Der letzte Poster wurde vom nächsten zitiert, unter dem Zitat stand dann:
-Aber warum sollte sich jemand die Mühe machen und sowas faken? Ich glaub net, dass des ein Fake ist, dazu sah es zu echt aus. Scheiße, armer Rich. Wie kann ein Mensch sowas einem anderen bloß antun?-
Es folgte ein seitenlange Diskussion, ob das Video nun echt war oder nicht und was sich für Konsequenzen jeweils daraus ergaben.
Die fünf Rammsteiner sahen sich beunruhigt an. Sicher, die Leute in den Foren übertrieben gern einmal, doch der allgemeine Tenor war, dass sie schockiert über das Video waren und alle hofften, dass es nicht echt war.
Besagter Film war fertig geladen und Olli klickte auf Play. Zuerst einmal war es dunkel und es wurde weiß der Titel „Rache, der erste Teil“ eingeblendet. Dann hörten sie eine Stimme. Eine höhnische Stimme:
„Einen wunderschönen guten Tag, meine Damen und Herren. Ich begrüße sie zu unserer Dokumentationssendung ‚Wie bringe ich einen Menschen zum Schreien?’“ Erste schockierte Blicke.
„Nun, ich sprach gerade im Plural, ich bin natürlich nicht alleine hier. Begrüßen sie alle recht herzlich meinen Gast, Richard Kruspe!“
Und dann sahen sie ihren Freund, der, mit Ketten an den Handgelenken in die Höhe gezogen, aufrecht von der Decke hing. Es ging ihm offensichtlich gar nicht gut. Er machte einen müden, abwesenden Eindruck. Paul und Schneider schlugen sich entsetzt die Hand vor den Mund, die anderen drei waren zu keiner Regung fähig, sondern starrten einfach nur fassungslos auf den Bildschirm.
„Ich denke mal, einige von ihnen werden den Herrn hier kennen, für die, die es allerdings nicht wissen sollten: Das hier ist einer der Gitarristen von Rammstein und, nebenbei bemerkt, auch der Bandgründer.“ Bei dem letzten Wort hob Richard den Kopf und flüsterte irgendetwas vor sich hin. Daraufhin kam eine vermummte Gestalt ins Bild, zückte ein Skalpell, an dem schon Blut klebte und schnitt mit diesem tief in die Schulter des Schwarzhaarigen. Der stöhnte auf, schrie allerdings nicht.
„Scheiße!“ Tills Stimme zitterte bedenklich.
„Oh, das tut mir jetzt leid, wir müssen wohl immer noch lernen, aufeinander zu hören, aber wir kennen uns ja auch noch nicht so lange, da ist das verständlich, nicht wahr?“ Die Gestalt legte einen Finger auf den frischen Schnitt und drückte ihn tief in die Wunde. Richards Körper verspannte sich, dann schrie auf.
„Und jetzt sage ich es dir zum letzten Mal: DU redest nur, wenn ich es dir sage, verstanden? Sonst muss ich wohl leider zu härteren Maßnahmen greifen.“ Richard nickte und sein Peiniger nahm den Finger aus der Wunde, um ihn, wie beim letzten Mal, an Richards Körper abzuwischen, der wieder erschlaffte.
„Dieses Aas! Dieses kleine widerliche Aas!“ Paul war einfach nur fassungslos und angeekelt, am liebsten hätte er weggesehen. Aber dann er dachte sich, dass er das seinem Freund schuldig war und so schaute er weiter zu. Mittlerweile war die Gestalt kurz verschwunden und dann mit einer Eisenstange wieder aufgetaucht, deren gebogenes Ende rot glühte.
„Oh nein...das tut er nicht wirklich, oder?“ Doch Olli ahnte schon die Antwort auf seine Frage. Die Gestalt trat mit der Eisenstange in der Hand auf ihr Opfer zu. „So, als erstes werde ich nun also meinen Gast ein wenig kennzeichnen, damit sie uns auch auseinanderhalten können...“
„Als ob das so schwer wäre...“, murmelte Flake vor sich hin.
„Gut, mein Lieber, wo möchtest du es denn gerne hinhaben? Einen besonderen Wunsch vielleicht? Nein? Nun gut, dann tu ich es dir dahin, wo ich es auch habe...“
Richards Augen weiteten sich, als er erkannte, was das gebogene glühende Stück Metall darstellte: Ein großes R! Er wusste, was jetzt kam, aber alles in ihm sträubte sich, es einfach so hinzunehmen. Doch was konnte er schon machen? Sich wehren? Wie denn? Vielleicht hatte er es ja auch verdient?
‚Ach Quatsch, das ist Unsinn, was kann ich denn dafür, dass es ihm so dreckig ging?’ Trotzdem ließ ihn diese bohrende Frage nicht in Ruhe. Doch alles in seinem Kopf wurde verdrängt, als er die Hitze des nahenden Metalls spürte.
„Komm schon...wehr dich. Mir egal, was du tust, aber mach IRGENDWAS, bitte!“ Tills Stimme zitterte immer stärker, trotzdem blieb sein Blick gebannt auf dem Bildschirm haften. Er konnte sich einfach nicht von dem Anblick losreißen. Die Eisenstange kam immer näher. Plötzlich zischte es, als sie die nackte Haut verbrannte und Richard schrie auf. Rauch stieg auf und die fünf Menschen hinter dem Bildschirm meinten, das verbrannte Fleisch förmlich riechen zu können. Der Entführer ließ das glühende Ende viel länger als nötig auf Richards Haut, dessen Schreien zu einem Wimmern verkommen war.
„Tuts weh? Ich hoffe es doch sehr, dann weißt du, wie es mir gegangen ist. Jetzt siehst du so aus, wie ich...“ Endlich nahm er das Metall ruckartig von der Haut, was Richard einen erneuten Aufschrei entlockte. Doch damit war es noch nicht vorbei. Ein Skalpell erschien vor seinen Augen, ein anderes, größeres diesmal. Und bevor Richard auch nur einen klaren Gedanken fassen konnte, schnitt der andere mit dem Skalpell in das frisch verbrannte Fleisch. Immer und immer wieder. Richard biss sich auf die Unterlippe, um nicht noch einmal zu schreien, was ihm auch leidlich gelang. Sein Peiniger hörte auf.
„Was denn? Ist schon nichts mehr los mit dir? Schade, aber naja, ich bin sowieso fertig. Sieht doch gut aus, meinst du nicht auch? Aber hmm, irgendwas fehlt noch...“ Richard stöhnte, die Schmerzen waren unerträglich. Auch schienen sie von der Wunde aus über seinen gesamten Körper zu strahlen. Dazu kamen die Schnitte auf dem Arm und auf den Schultern, aber diese Schmerzen kamen ihm jetzt, im Vergleich zu den neuen, geradezu lächerlich vor. Dann kam sein Entführer wieder in sein Blickfeld. In seiner Hand hielt er eine große Menge weißen Pulvers. „Hier, damit das ganze auch die richtige Würze hat.“ Ein höhnisches Lachen. „Ein bisschen Salz kann nie schaden, meinst du nicht auch? Ich hab gehört, du kochst gerne...“ Olli schnappte entsetzt nach Luft.
„Dieser Mistkerl!“, kam es von Paul. Auch Richards Augen hatten sich vor Schreck geweitet. „Fuck you!“, keuchte er. Sein Peiniger lachte kalt auf.
„Falsche Antwort!“, sagte er dann grinsend und rieb ihm das Salz auf die verbrannte, aufgeschnittene Haut. Richard schrie. Er schrie, was seine Lungen hergaben, aber selbst das machte es nicht erträglicher. Doch schließlich hatte sein schmerzgepeinigter Körper keine Kraft mehr und übergab Richards Verstand friedlicher Bewusstlosigkeit, eine Welt ohne Schmerzen. Seine Freunde sahen es, als der Schwarzhaarige auf einmal aufhörte zu schreien, sein Kopf zur Seite kippte und sein Körper erschlaffte. An dieser Stelle wurde das Bild wieder schwarz und es wurde weiß ein „To be continued“ eingeblendet. Dann war das Video zu Ende und ein großes „Replay“ erschien.
Die fünf Rammsteiner saßen geschockt vor dem Computer und versuchten zu verarbeiten, was sie da gerade gesehen hatten. Sie alle waren den Tränen nahe. Immer wieder hatten sie die Bilder ihres Freundes vor Augen, der brutal gefoltert wurde. Und sie konnten nichts dagegen tun. Jeder von ihnen stellte sich wohl in diesem Moment die gleiche Fragen: Warum? Warum tat dieser Verrückte das? Warum gab es überhaupt Menschen, die anderen Lebewesen so etwas antun konnten? Sie wussten es nicht. Sie wussten nur, dass sie ihrem Freund so schnell wie möglich helfen mussten. Paul war der erste, der sich wieder zu Wort meldete: „Gibt es jetzt noch irgendwelche Einwände, dass wir zur Polizei gehen?“
Richard erwachte wie ein Taucher, der langsam die einzelnen Wasserschichten nach oben durchquert, aus der Bewusstlosigkeit. Zuerst wusste er nicht, wo er war und was passiert war, aber die dumpfen Schmerzen brachten ihm schnell die Erinnerung an das Geschehene zurück. Er erschrak und betaste sich vorsichtig die Stelle, wo sein Entführer ihm die Haut verbrannt und noch viel mehr damit angestellt hatte und stöhnte leise auf, als die entsprechenden Schmerzen kamen. Dann sah er sich um. Er war nicht mehr, an den Armen hochgezogen, halb sitzend, halb kniend, mit Ketten gefesselt, sondern lag in einer Art kleinen Käfig auf dem kalten Boden. Richard zitterte, er fror erbärmlich. Immer noch war er fast nackt. Seine Verletzungen brannten, vor allem die, wo dieser Verrückte das Salz hineingerieben hatte. Außerdem taten ihm die Arme und die Schultern weh, da an diesen schließlich ein Teil seines Gewichtes gehangen hatte. Dazu kam sein schmerzender Schädel. Als er seinen Hinterkopf betastete, fühlte er das verkrustete Blut in seinen Haaren. Offensichtlich hatte er eine Platzwunde davon getragen. Wie lange sollte das wohl so gehen? Wie lange würde er hier bleiben müssen? Ob seine Freunde sein Verschwinden bereits bemerkt hatten? Und wenn ja, ob sie ihn auch finden würden?
Mit diesen Fragen im Kopf machte er sich daran, sein Gefängnis zu untersuchen. Der Käfig war so hoch, dass er zwar darin gebückt sitzen, aber nicht stehen konnte. Außerdem war er nicht lang oder breit genug, als dass der Schwarzhaarige sich hätte voll ausstrecken können. Er musste die Beine immer leicht angewinkelt halten, denn die Gitterstäbe standen zu eng, um die Beine hindurchzustecken. Einen Weg aus dem Käfig sah er nicht. Natürlich nicht.
Bei seiner „Erkundung“(als ob es viel zu erkunden gab) bemerkte Richard einen Teller und eine größere Schüssel mit Wasser. Auf dem Teller lag ein bisschen hartes Brot, ein angeknabberter Apfel und ein altes Stück Käse, das schon ziemlich verschrumpelt aussah. Küchenabfälle eben. Der Schwarzhaarige überlegte. Sollte er das wirklich essen?
‚Er hat mich gefoltert und gebrandmarkt, vielleicht will er mich jetzt vergiften? Aber das kann ich mir nicht vorstellen, schließlich sagte er, dass wir uns...lange „amüsieren“ wollen. Da glaube ich nicht, dass er mich vergiften will...’
Schließlich beschloss er, es darauf ankommen zu lassen, mehr als sterben, konnte er eh nicht. Da er Durst hatte, kostete Richard zuerst das eiskalte Wasser und hätte es am liebsten sofort wieder ausgespuckt.
‚Bah, das schmeckt ja eklig. Aber wer weiß, wann ich wieder was bekomme? Ich sollte es lieber trinken...’ Das tat er dann auch, genauso wie er sein „Essen“ hinunterwürgte. Er wusste nicht, wie spät es war, vermutete aber, dass es wohl schon früher Abend sein musste. Er war also bereits einen Tag lang hier. Der Schwarzhaarige überlegte und beschloss dann, dass es vielleicht ganz gut sei, sich die Tage hier zu merken. Der Boden bestand nicht aus Stahl, wie der restliche Käfig, sondern aus festgestampfter Erde. Richard kratzte mit dem Fingernagel einen Strich hinein. In diesem Augenblick nahm er eine Bewegung wahr. Er sah hoch und erblickte den jungen Mann, der offenbar ganz zufrieden mit sich war.
„Oh, wie ich sehe, hast du aufgegessen, da fühlen sich meine Kochkünste aber geehrt. Falls es dir zu fad war, entschuldige, das passiert mir manchmal, aber du müsstest ja noch ein bisschen Salz zum Würzen dahaben, oder?“, fragte er mit höhnischem Grinsen. Richard schnaubte.
„Hast du was gesagt? Hmm, du scheinst wohl immer noch nicht begriffen zu haben, dass du nur sprichst, wenn ich es dir sage. Das scheint dir sehr schwer zu fallen. Schade eigentlich, denn ich hatte hier etwas für dich, das deine erste Nacht vielleicht etwas angenehmer gestaltet hätte.“ Damit hielt Richards Entführer ihm eine Decke vor die Gitterstäbe.
„Nun ja, aber da du dich immer noch nicht zu benehmen weißt, kann ich dir das nicht geben.“ Damit drehte er sich um und wollte gehen, doch sein Opfer rief ihm nach.
„Nein warte! Ich hab nichts gesagt, Entschuldigung, wenn du es so verstanden hast. Bitte! Es war wirklich nichts, ich bin auch ruhig, bitte, es ist so kalt...bitte...“
Der junge Mann hielt inne, Richards Flehen war Musik in seinen Ohren. Dann drehte er sich langsam wieder um.
„So, es war also WIRKLICH nichts, ja?“ Richard nickte schnell. „Und dir ist also kalt, ja?“ Wieder ein Nicken. „Nun, da bist du doch selber dran schuld, was rennst du hier auch, nur mit Unterhosen bekleidet, durch die Gegend? Da kann ich dir auch nicht helfen. Aber vielleicht überleg ich’s mir...morgen. Wenn du das tust, was ich sage....“ Und damit verschwand er endgültig.
Richard sah ihm fassungslos nach. Jetzt zitterte er noch stärker, aber nicht nur vor Kälte, sondern auch vor Angst. Mit einem Mal hatte er mitbekommen, dass er diesem Kerl hilflos ausgeliefert war. Er bestimmte, ob der Schwarzhaarige etwas zu essen bekam oder nicht. Oder ob er etwas Wärme bekam oder nicht. Oder wie stark die Schmerzen wurden, oder ob er überhaupt welche erdulden musste. Doch er würde sich nicht so einfach unterkriegen lassen!
In dem Moment schwor er sich, zu kämpfen. Dieser Kerl konnte ihm antun, was er wollte, doch seinen Willen würde er nicht brechen können. Gerade noch hatte er gefleht, doch das würde er nicht noch einmal tun. Mit diesen, mehr oder weniger tröstlichen, Gedanken suchte Richard sich das weichste Stück Boden aus und rollte sich, immer noch zitternd, zusammen, in der Hoffnung, dass ihm so wenigstens ein bisschen warm wurde.
„Was machen die eigentlich so lange da drin? Es kann doch nicht so lange dauern, ein Video auf Echtheit zu überprüfen. Als ob es da auch viel zu überprüfen gäbe! Das sieht man doch, dass das echt ist! Dass dieser kranke Psycho Richard...“
Paul brach ab. Er tigerte wieder rastlos herum, nur diesmal nicht in der Wohnung seines Freundes, sondern auf dem Polizeirevier. Die anderen vier saßen einfach nur da und warteten. Nachdem Olli sich noch schnell den Link zu dem Video notiert hatte, waren sie so schnell wie möglich zur Polizei gegangen. Dort wurden sie dann einzeln befragt, aber alle fünf konnten nur das Gleiche erzählen: Sie hatten ein paar neue Lieder eingespielt, Olli und Till waren schon eher gegangen. Die anderen vier waren noch ein wenig durch die Straßen gezogen, dann hatte Richard sich verabschiedet und sich allein auf den Heimweg gemacht, während Paul, Flake und Schneider sich noch einen Club gesucht hatten, um noch was zu trinken.
Ein paar Spezialisten hatten dann das Video unter die Lupe genommen, um es auf Echtheit zu überprüfen. Das taten sie jetzt immer noch. Die 5 Rammsteiner konnten nichts anderes tun, als warten. Und warten. Und warten.
„Wir hätten ihn mitschleifen sollen...“, kam es dann von Paul. „Wenn ich das gewusst hätte...“ „Ach, das ist doch Unsinn! Das konnte keiner wissen. Und jetzt hör auf, dir Vorwürfe zu machen!“, meinte Flake müde. Immer noch saß der Schock des Gesehenen tief. Und immer wieder stellten sie sich ein und dieselbe Frage: Warum? Sie wussten es nicht. Sie würden es wahrscheinlich auch nie ganz herausfinden.
Die Tür öffnete sich, der leitende Kommissar trat heraus. Es war sofort eine Soko eingerichtet worden. Die Analyse de Videos hatte ergeben, dass es zweifellos echt war. Und genau das bereitete ihm Kopfzerbrechen. Sie hatten noch einen Psychologen hinzugezogen, der darauf hingewiesen hatte, dass dieser Mensch zu allem fähig war. Und dass er sich noch um ein Vielfaches steigern würde. Eigentlich hätte er das den Freunden des Vermissten schon vor Stunden mitteilen können, aber er musste selbst erst einmal verdauen, was er da gesehen hatte. Paul sprang von seinem Stuhl auf. „Na endlich!“, sagte er. „Was ist jetzt?“ Der Ermittler seufzte, dann begann er zu berichten.
Rache, der zweite Teil
Als Richard erwachte, hing er wieder an Ketten von der Decke, nur diesmal so, dass seine Füße gerade noch so den Boden berührten, um seinen Körper zu stützen. Es wunderte ihn, dass er überhaupt geschlafen hatte, die Erschöpfung war wohl doch zu groß gewesen. Seine Arme und Schultern schmerzten, die ersten Krämpfe würden wohl nicht lange auf sich warten lassen. Dazu würden vermutlich heute noch ganz andere Sachen kommen, wer konnte schon wissen, was dieser Verrückte mit ihm vorhatte? Und noch etwas anderes machte Richard Sorgen: Er hatte Halsschmerzen. Na klasse. Unter den Bedingungen hier war es eigentlich logisch, dass er sich was wegholte, aber trotzdem hätte er gerne darauf verzichtet.
Er sah sich um, die Szenerie hatte sich nicht geändert. Wie lange er hier wohl schon hing? Und warum hatte er es nicht mitbekommen, als sein Entführer ihn aus seinem Käfig geholt hatte? Ihm war kalt, immer noch und als er einen gefüllten Eimer mit einer dünnen Eisschicht darauf sah, wusste er, dass sich dieser Zustand wohl nicht so schnell ändern würde. Richard zitterte. Wie gerne würde er jetzt eine rauchen. Über diesen Wunsch wunderte er sich. Müsste nicht das Verlangen nach Nahrung viel stärker sein? Sicher, er hatte auch Hunger und Durst, doch er vergaß, dass sein Körper schon viel zu sehr an die tägliche Dosis Nikotin gewöhnt war. Gestern hatte er nicht einen Gedanken an Zigaretten verschwendet, aber heute? Es überraschte und schockierte ihn ein wenig, dass er augenscheinlich schon so davon abhängig war. Hätte er nie für möglich gehalten. Sicher, er rauchte viel, aber eigentlich hatte er immer gedacht, dass er jederzeit aufhören könnte. Sein Körper und sein Gehirn belehrten ihn jetzt jedoch eines Besseren. Er war physisch und psychisch abhängig. Super!
Doch dann wurde Richard von etwas ganz Anderem abgelenkt. Er spürte einen ziehenden dumpfen Schmerz im rechten Arm, der allmählich stärker wurde. Was war das? Er dachte nach. Seinen Entführer hatte er heute noch nicht gesehen, er hatte ihm heute noch nichts angetan, oder? Aber wie konnte er das so genau wissen? Doch plötzlich wusste er, was das mit seinem Arm war. Scheiße! Richard versuchte noch, gegenzudehnen, aber es war schon zu spät. Der Krampf raste den Arm hinauf, der sich augenblicklich verspannte. Mit einem Schlag war der Schwarzhaarige hellwach. Der Schmerz war unglaublich. Richard schrie. Der Krampf dauerte länger, als normal, weil der Muskel keine Möglichkeit hatte, sich zu entspannen, doch schließlich ließ der Schmerz nach. Richard kam die Zeit bis dahin vor, wie eine Ewigkeit. Vorsichtig bewegte er den schmerzenden Arm, was aber nicht sehr viel brachte. Dabei überlegte er sich, dass es eigentlich schon Folter genug war, ihn den ganzen Tag hier hängen zu lassen. Doch er war sich hundertprozentig sicher, dass es ihm dieser Psychopath nicht so einfach machen würde. Fast hoffte er auch schon darauf, dachte er sich doch, dass eventuelle neue Schmerzen von den noch kommenden Krämpfen ablenken würden. Er konnte ja nicht ahnen, wie richtig er mit dieser Vermutung liegen sollte.
Er bemerkte eine Bewegung und schaute auf. Ein, ihm inzwischen wohlbekanntes, Gesicht erschien mit einem selbstgefälligen Grinsen darauf.
„Oh du bist also schon wieder wach, ich wusste doch, dass ich was gehört hab.“, sagte Richards Peiniger und spielte damit auf den Schmerzensschrei des Schwarzhaarigen an, den der vorhin wegen des Muskelkrampfes hatte.
Richard schluckte. Ob dafür auch eine „Bestrafung“ folgen würde? Aber selbst wenn, es würde ihm egal sein. Er würde sich nicht von diesem Idioten sagen lassen, was er zu tun und zu lassen hatte. Dass er sich eigentlich gar nicht in der Situation für irgendwelche Sturheiten befand, war ihm herzlich egal.
„Nun gut, dann bist du eben wach, aber jetzt sei mal ehrlich: Hast du dich heute schon gewaschen?“ Der Schwarzhaarige sah den Mann verständnislos an. Was sollte das jetzt schon wieder? Aber dann fiel ihm der Eimer mit dem Eiswasser ein. ‚Nein!’, dachte er sich, ‚Nicht schon wieder!’ Doch er konnte nichts dagegen tun. Schon traf ihn das eiskalte Wasser und er war wieder klatschnass. Richard begann jetzt erst recht zu frieren. Er schüttelte leicht den Kopf, um das Wasser aus dem Gesicht zu bekommen. Dabei lief ihm aber auch einiges in den Mund und er schmeckte Salz. Moment mal! Salz? Der Schwarzhaarige sah seinen Entführer schockiert an. Er ahnte, was der damit bezweckte. Seine Vermutungen trafen ein. Der junge Mann holte seinen geliebten Rollwagen auf dem diesmal nur Messer unterschiedlichster Art und Weise lagen. Große, Kleine, Dünne, Dicke, solche mit glatten und gezahnten Klingen.
„So, ich nehme mal an, dass du weißt, was ich vorhabe, oder?“ Richard konnte nur nicken. Er wollte das nicht. Alles in ihm sträubte sich dagegen. Er wollte sich wehren, doch wie sollte er das tun? Er war heute in einer noch unangenehmeren Position als gestern. Der nächste Krampf bahnte sich schon an. Und er wusste, dass es heute nicht nur ein oder zwei Stunden gehen würde. Nein, heute würde sein Peiniger den ganzen Tag lang sein krankes Spiel mit ihm treiben. Was konnte er bloß machen?
Der Mann ging zum Computer und stellte die Kamera ein. Als er fertig war, sagte er mit zufriedenem Gesicht: „Soo, das wärs erst mal. Jetzt können uns wieder alle sehen...“ Dann fing er an zu singen: „Lalelu, und die ganze Welt schaut zu...“
Richard brauchte einen Moment, um die volle Bedeutung des Gesagten(und Gesungenen) zu verarbeiten. Er stellte die Videos wirklich ins Internet? Dann konnten alle zusehen: Leute, die er nicht kannte und die ihn nicht kannten, seine Fans und, am schlimmsten, seine Freunde! Das machte ihn am meisten fertig. Wie gerne hätte er ihnen diesen Anblick erspart. Er wusste zwar, dass sie sich anhand der Verletzungen, die jetzt schon da waren, einiges zusammenreimen konnten, wenn er hier rauskam, und daran zweifelte er bis jetzt nicht eine Sekunde, aber das... Verdammt! Das war einfach nicht fair! Die Stimme seine Entführers riss ihn aus seinen trüben Gedanken: „Soo, dann wollen wir mal...Hmm, wirst du heute tun, was ich dir sage?“
In Richard flammte heiße Wut auf. Schlimm genug, dass er das alles über sich ergehen lassen musste, aber seine Freunde da reinzuziehen? Das ging einfach zu weit! Er holte aus und spuckte seinem Peiniger ins Gesicht. Der sprang überrascht zurück, wurde jedoch trotzdem getroffen.
„Na sieh mal einer guck.“, meinte er und wischte sich grinsend den Speichel aus dem Gesicht. „Ich nehme mal an, das heißt nein. Nun, das werde ich dir schon noch austreiben...“ Immer noch grinsend holte er einen metallenen Gegenstand aus der Tasche. „Ich dachte mir schon, dass es nicht so einfach wird mit dir. Aber keine Angst, mein Lieber. Ich hab vorgesorgt.“ Damit hielt er Richard das Metallstück vor die Nase. Dessen Augen weiteten sich erschrocken, als er einen Schlagring erkannte. Auf der Vorderseite der Fingerringe waren Dornen angebracht.
„Eigentlich hatte ich ja gehofft, dass wir uns das sparen könnten“, meinte er mit anscheinend aufrichtigem Bedauern in der Stimme, „aber wer nicht hören will...muss fühlen!“ Sein Opfer schloss die Augen und wartete. „Oh nein! Doch nicht jetzt schon! Wo bleibt denn da der Spaß? Immer hübsch eins nach dem anderen, du kennst mich doch.“, sagte er grinsend. Richard schlug erstaunt die Augen wieder auf. Wenn er ihn jetzt nicht „bestrafen“ wollte, wann denn dann?
Sein Entführer machte wieder ein kleines Feuer, natürlich so weit entfernt, dass der Schwarzhaarige die Wärme nicht spürte, schaltete die Kamera ein und kam dann näher, ganz nah an sein Opfer heran. Er hielt ein Messer in der Hand, ein kleineres.
„So“, flüsterte er ihm ins Ohr, „und jetzt werde ich ein für alle Mal dafür sorgen, dass du doch tust, was ich dir sage. Zuerst einmal verbiete ich es dir für heute zu schreien, hast du mich verstanden?“ Er senkte das Messer auf Richards Achsel und schnitt dann tief in die Haut. Salzwasser kam in die Wunde und Richard stöhnte auf. Zum Schreien war ihm aber nicht zumute, noch nicht.
„Und warum sollte ich auf dich hören? Mehr als mir Schmerzen zufügen und mich töten kannst du nicht!“, flüsterte der Schwarzhaarige zurück.
„Oh, vielleicht hast du damit recht, aber...“ Der Mann zog das Messer quer über die Brust und diesmal war sein Opfer schon näher an einem Schrei. „Aber ich kann deinen ach so geliebten Freunden das Gleiche antun, wie dir...“
Richards Augen weiteten sich. Daran hatte er bis jetzt noch nicht gedacht! Das wollte er nicht. Reichte es nicht schon, dass sie das alles mit ansehen mussten? Er bezweifelte keineswegs, dass sie es sich ansahen, dazu kannte er sie viel zu gut. Nein, sie würden sich alles ansehen, jede Kleinigkeit, jedes dreckige Video, was dieser Verrückte drehte. Sie würden sehen, wie er ihn folterte und sie würden beinahe verrückt werden vor Sorge und Angst, aber niemals, NIEMALS würden sie wegsehen, das wusste er. Doch sich vorzustellen, dass ihnen das Gleiche widerfuhr...Richard wollte gar nicht daran denken. Eine kleine Hoffnung blieb ihm aber noch. „Du würdest nie an sie rankommen!“, flüsterte er, „Sie stehen bestimmt mittlerweile unter Polizeischutz oder sowas, das würdest du nie hinkriegen!“
„Pass auf, was du sagst!“, meinte sein Folterer drohend und zog ihm das Messer den Hals entlang. Nicht tief genug, um tödlich zu sein, aber es tat doch ganz schön weh. Das tat es übrigens jedes Mal, wenn er in Richards Haut schnitt, aber durch das eindringende Salz kam es ihm vor, als würden sich die Schmerzen noch verdoppeln.
„Und außerdem...“, jetzt flüsterte der Mann wieder, „Ich hab dich gekriegt. Ich werde auch die anderen kriegen, irgendwie. Denn weißt du...“, er zog das Messer fast beiläufig über den linken Oberschenkel, was Richard zum Aufstöhnen brachte.
„Ich weiß alles über euch. Jedes noch so winzige Detail aus euren Leben. Ich kann dir alles aufzählen, wenn du magst, soll ich?“ Wieder ein Schnitt, diesmal in den rechten Schenkel.
„Ich weiß, wo du wohnst.“ Er sagte es ihm.
„Ich weiß deine Handynummer.“ Er sagte sie ihm.
„Ich weiß, wie viele Zigaretten du am Tag rauchst.“ Er sagte es ihm.
„Ich weiß auch, wie viele Till raucht.“ Er sagte es ihm.
„Wenn wir schon bei Till sind: Ich weiß, wie viele Affären er schon hatte.“ Er sagte es ihm.
„Und ich meine sogar zu wissen, wie viele Kinder er schon gezeugt hat.“ Er sagte es ihm.
Er hatte recht. Er erzählte Richard tatsächlich jede kleinste Information aus ihren Leben. Und jedes Mal gesellte sich ein weiterer Schnitt zu den zahlreichen anderen. Richards Entführer lachte kalt auf, dann flüsterte er ihm ins Ohr: „Ha, ich ritze dir eure kompletten kleinen beschissenen Leben ein. Dann kannst du sie immer mit dir herumtragen, ist das nicht witzig?“
Der Schwarzhaarige biss die Zähne zusammen, um nicht zu schreien. Jetzt war ihm wirklich danach zumute. Nicht nur, dass sein Peiniger genauso systematisch die Messer wechselte, wie er ihm die Haut aufschnitt, von klein nach groß, von dünn nach dick, von glatt zu gezahnt, er erzählte ihm Dinge, die er in der Form gar nicht hören wollte. Und immer wieder schwirrten ihm die gleichen Gedanken im Kopf herum: Er wusste alles über sie. Er hatte sie Wochen, Monate, vielleicht auch Jahre ausspioniert. Und dabei hatte er die intimsten Sachen herausbekommen. Sachen, die nur sie selbst etwas angingen. Richard wusste, dass das Geflüster auf dem Video nicht zu hören sein würde, aber alleine die Tatsache, dass er es hören musste, reichte. Es war für ihn eine fast noch schlimmere Folter, als die Schnitte mit den Messern.
Und sein Entführer wusste auch dies. Und er kostete es voll aus, sein Opfer so leiden zu sehen. Er hatte die Macht. Und er würde sie sich nicht so einfach wieder nehmen lassen.
Olli sah auf. Gerade waren mehrere Polizisten wieder auf die Wache zurückgekommen. An ihren Gesichtern war allerdings abzulesen, dass sie keinen Erfolg bei der Suche hatten. Die fünf Rammsteiner hatten den ganzen Tag auf der Wache verbracht. Jetzt war es schon früher Abend und immer noch gab es keine Spur von ihrem Bandkollegen. Suchtrupps hatten angefangen, sämtliche Lagerhallen und größeren Gebäude in Berlin zu durchkämmen, alles, was von innen eventuell so aussehen könnte, wie das Gebäude auf dem Video, aber bis jetzt ohne Erfolg. Sie hatten auch noch nicht mal ein Viertel geschafft.
Jetzt ging eine Tür auf, der leitende Ermittler trat heraus. Sofort sprangen vier besorgte Menschen auf(Paul hielt es einfach nicht auf einem Stuhl) und sahen ihn fragend an. Der Polizist suchte mühsam nach Worten. „Also...ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, aber...es ist ein neues Video aufgetaucht...“ Entsetzte Blicke von seinen Gegenübern. „Sie müssen sich das nicht antun, wenn Sie das nicht wollen...“
„Nein! Ich will das sehen!“, kam es von Till, der mit versteinerter Miene zu dem Raum ging, in dem auch die Videoanalyse gemacht worden war. Die anderen vier folgten ihm. Der Ermittler seufzte, dann ging er ebenfalls mit. Er hatte das Video schon gesehen UND gehört und konnte nicht recht beurteilen, welcher der beiden Filme nun grausamer war.
In dem dunklen Raum saßen nun die fünf besorgten Menschen auf Stühlen(sogar Paul) und starrten einen großen Bildschirm an und harrten der Dinge, die da kommen sollten. Dem Polizisten kam es fast vor, als wären sie in einem Kino und warteten auf den neusten Blockbuster, nur war das einfach eine schaurige Karikatur davon.
Dann ging das Video los und das erste, was den Menschen auffiel, war, dass es um die 6 Stunden ging. Irgendwie ahnten sie Schlimmes. Es wurde weiß der Titel eingeblendet: „Rache, der zweite Teil.“ Sie sahen sich an, das war zu erwarten gewesen. Und dann eine bekannte Stimme. Eine gehässige Stimme: „Herzlich willkommen zu unserer Dokumentationssendung ‚Wie viel Schmerz hält ein Mensch aus, bis er schreit?’“ Jetzt sahen sie sich beunruhigt an, das hörte sich nicht gut an. Überhaupt nicht. Dann sahen sie ihren Freund. Wieder war er mit Ketten gefesselt. Nur sah es diesmal noch um einiges brutaler aus als gestern.
„Verdammt!“, murmelte einer von ihnen vor sich hin. Ihr Freund sah noch schlechter aus als am vorigen Tag. Der Brand auf seinem Bauch war angeschwollen und er triefte vor Nässe. Außerdem zitterte er, es musste eiskalt da drinnen sein.
„Warum ist er so nass? Was macht dieser Irre die ganze Zeit mit ihm? Und warum wehrt er sich nicht?“ Paul war wütend aufgesprungen.
„Nun ja, da gibt es noch etwas, das Sie wissen sollten...“
„Und das wäre?“ Flake starrte, wie die vier anderen unverwandt auf den Bildschirm, auf dem jetzt Richards Entführer ins Bild gekommen war und sich dicht hinter ihn stellte, ein Messer in der Hand.
Der Kommissar ließ das Video anhalten, dann wandte er sich ernst an die fünf besorgten Menschen: „Es ist so, dass der Täter Sie ausspioniert hat, vermutlich über Monate oder gar Jahre. Wir haben gesehen, dass er ihrem Freund immer wieder etwas in Ohr flüsterte und so haben wir diese Tonspur herausgenommen und verstärkt. Möchten Sie das ebenfalls hören, oder...“
„Ja und ob wir das hören wollen!“ Das kam von Schneider. Natürlich wollten sie wissen, was dieser Verrückte zu sagen hatte.
„Gut. Seien Sie versichert, dass nichts, nichts aus diesem Raum jemals an die Öffentlichkeit dringen wird.“ Damit ließ er das Video wieder laufen.
Zuerst hörten sie nur Richards schweren keuchenden Atem, dann aber auch die gehässige Stimme des Entführers, der ihm ins Ohr flüsterte und ihn, fast nebenbei, folterte. Sie bekamen das gesamte Gespräch mit. Alles. Jetzt wussten sie auch, warum Richard sich nicht wehrte, ja nicht einmal einen Laut von sich gab. Sie konnten sich nicht entscheiden, was schlimmer war: Diese ganzen intimen Informationen über ihre Leben, oder ihr Freund, der sich stumm vor Schmerzen wand. Körperlichen und seelischen Schmerzen. Und das alles nur, damit sie nicht das gleiche Schicksal traf, wie ihn. Jetzt begriffen sie auch, wieso das Video 6 Stunden lang war. Zu Beginn hatte der Entführer noch wahllos ein paar Beispiele aufgezählt, um Richard zu zeigen, dass er es ernst meinte. Dann jedoch war er an dem Schwarzhaarigen selbst haften geblieben. Und er erzählte munter von dessen Leben. Plauderte sozusagen aus dem Nähkästchen. Eine gute Stunde lang. Dann ging er zu Flake über. Auch dort das Gleiche. Er zählte alles so systematisch auf, wie er seinem Opfer die Haut zerfleischte. Zwischendurch wechselte er die Messer. Auffällig war, dass er den Rücken von Richard in Ruhe ließ. Machte wohl nicht so viel Spaß.
Die fünf Rammsteiner konnten nicht recht glauben, was sie da hörten. Und einiges wollten sie auch gar nicht hören. Und sie waren sich sicher, das es Richard auch so ging. Der wurde im Verlauf der Folter immer abwesender, nur ein neuer Schnitt oder ein Krampf in den Schultern oder Armen, der ihn schüttelte, hielten ihn von der Bewusstlosigkeit ab. Dann, nach über 6 Stunden war der Entführer endlich fertig. Oder hörte einfach auch, je nachdem, wie man es sehen wollte. Der Schwarzhaarige hing schlaff, fast wie ein Stück Fleisch, in den Ketten, er schien kaum noch dazusein. Sein Peiniger legte das Messer aus der Hand(es war ein gut 30cm langes grob gezahntes gewesen), dann holte er etwas aus seiner Tasche hervor. Einen metallnen Gegenstand.
„Was...ist das?“, hörte Paul sich selbst fragen.
„Ein Schlagring.“, bekam er von irgendwem als Antwort.
„Nein!“, rief Schneider erschrocken.
Auf dem Video schlug der Entführer zu und traf genau Richards Brandverletzung. Der krümmte sich zusammen und keuchte, doch kein Schrei kam über seine Lippen. Till liefen die Tränen über das Gesicht. Dann schlug der Typ noch einmal zu, diesmal gegen die Rippen der rechten Seite. Sie hörten ein hässliches Knacken, als die Knochen brachen, dann erschlaffte der Körper des Schwarzhaarigen und er glitt endlich in friedliche Bewusstlosigkeit. Das Bild wurde wieder schwarz und das „To be continued“ eingeblendet.
„Das ist doch nicht wahr! Das ist einfach nicht wahr! Da foltert dieser Irre Richard über sechs Stunden lang und dann auch noch das! Was sollte das?“
„Elf Stunden...“
„Was?“ Olli war schon schockiert genug, aber diese Aussage verstörte ihn noch mehr.
„Der Täter hat Ihren Freund elf Stunden gefoltert, nicht sechs...“
„Und woher wollen Sie das so genau wissen?“ Paul war aufgesprungen, er hatte Mühe, seinen Zorn unter Kontrolle zu bekommen.
„Von zwei Dingen. Zum einen ist das Video zusammengeschnitten worden, zum anderen schien die Sonne die ganze Zeit durch die Fenster. Wir konnten das anhand der Abstände der Sonnenstrahlen messen. Zwischen den einzelnen Sequenzen des Videos liegt immer ziemlich genau eine Stunde...“, erklärte einer der Techniker.
„Und was hat dieser Verrückte in der Stunde gemacht? Kaffeekränzchen vielleicht?“ Das kam von Olli, der nicht weniger zornig als Paul war.
„Das wissen wir nicht. Wir nehmen an, er hat Ihren Freund einfach da hängen lassen. Das ist schon Folter genug, wegen der Krämpfe und so, wissen Sie? Allerdings muss er sich auch zwischenzeitlich um ihn gekümmert haben, sonst hätte er wohl den Tag nicht überlebt.“
„Ach, und wer sind sie?“ Paul konnte im Dunkeln nicht erkennen, wer da sprach, er wusste nur, dass es nicht der Techniker war, der ihnen das gerade erklärt hatte.
„Ich bin Arzt.“, sagte die Stimme. „Und ich bedaure, Ihnen mitteilen zu müssen, dass es gar nicht gut um Ihren Freund steht. Wenn er in dem Tempo und mit solchen Methoden weitergefoltert wird, dann hat er nur noch ein paar Stunden zu leben...“
Lebensverlängernde Maßnahmen
Als Richard erwachte, hing er nicht mehr von der Decke, sondern lag wieder in dem kleinen Käfig auf der Seite, wo die Rippen nicht gebrochen waren. Ihm tat alles weh, was aber nicht weiter verwunderlich war. Vor allem aber schmerzten die Stellen, wo dieser Irre zugeschlagen hatte. Er wollte sie sich vorsichtig betasten, musste aber feststellen, dass das nicht so einfach ging. Seine Arme wollten ihm einfach nicht richtig gehorchen. Schließlich gelang es ihm doch und er zuckte zurück, als er leicht über die gebrochenen Rippen strich. Er sah genauer hin. Die Stelle hatte sich blau-lila verfärbt, war angeschwollen und heiß. Richard stöhnte und sah sich um. Wieder war ihm ein Teller mit Küchenabfällen und eine Schüssel mit Wasser hingestellt worden. So vorsichtig, wie möglich streckte er die Hände danach aus, jede Bewegung tat höllisch weh, und begann schließlich zu „essen“ und zu trinken. Schmeckte nicht besser als das Zeug, was ihm der Mann in den Pausen in den Mund gesteckt hatte. Manchmal hatte er ihm auch Wasser eingeflößt. Außerdem reinigte der Typ jedes Mal Richards Wunden und stoppte den Blutfluss, was kaum weh tat. Der Schwarzhaarige erinnerte sich, dass er sich gewundert hatte, wie dieser Mensch so sanft sein konnte. Auch das „Essen“ und dieses merkwürdig schmeckende Wasser war ihm nie gewaltsam gegeben worden. Er erinnerte sich noch gut an das erste Mal, es war nach der zweiten „Messerrunde“ gewesen...
Richard sah überrascht auf, als sein Entführer plötzlich aufhörte und das Messer weglegte. Was war denn jetzt schon wieder los? War er etwa schon fertig? Das konnte sich der Schwarzhaarige nicht vorstellen. Er hatte zwar das Zeitgefühl verloren, aber er wusste, dass es noch nicht zu Ende war. Sollte er fragen? Aber was, wenn dieser Verrückte seine Drohung wahr machte?
Die Stimme seines Peiniger riss ihn aus seinen Gedanken: „Soo, Pause.“
Pause? Wieso denn Pause? Richards Gedankengang wurde unterbrochen, da ihn ein neuerlicher Krampf durchzuckte. Er hielt die Luft an(seine Technik, um nicht zu schreien), dann ließ der Schmerz nach. Doch in dem Moment kam ein anderer Schmerz auf, ein leichterer diesmal. Richard sah an sich hinunter. Und was er da erblickte, erstaunte und beunruhigte ihn gleichermaßen. Sein Entführer hatte einen sauberen Lappen in der Hand, einen von vielen, wie der Schwarzhaarige jetzt erst bemerkte und wusch ihm mit Wasser, das tatsächlich lauwarm war, seine Verletzungen aus. Dann träufelte er ein wenig von einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit hinein, was diesen leichten Schmerz verursachte, und machte sich an den nächsten Schnitt. Richard wollte ihn fragen, was er da tat, aber er brachte nur ein Krächzen zustande. Sein Entführer blickte auf und sah direkt in die erstaunten und verwirrten Augen seines Opfers.
„Ich nehme mal an, dass du wissen willst, was ich hier tue, richtig?“ Ein Nicken. „Nun, ich kümmere mich um deine Verletzungen, weißt du, ich desinfiziere das Ganze und sorge dafür, dass der Blutfluss stoppt. Ich will dich schließlich nicht sterben sehen. Noch nicht.“ Damit machte er weiter. Der Schwarzhaarige wusste nicht recht, was er davon halten sollte. Dieser Typ half ihm und pflegte ihn, nur um ihn dann weiterzuquälen? Das ergab doch keinen Sinn. Oder doch! Eigentlich ergab es schon Sinn, schließlich hatte der Mann gesagt, dass sie sich „lange amüsieren“ wollten, oder?
Irgendwann war sein Entführer fertig und hielt ihm ein Stück Apfel unter die Nase. „Hunger? Wenn du nicht willst, ess ich es, mein ja nur...nicht, dass du noch verhungerst...“ Ein bestialisches Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit. Richard war versucht, das Angebot auszuschlagen, aber er wusste, dass der Mann recht hatte. Er würde den Tag nicht überleben, wenn sein Körper nicht das Nötigste bekam und er wollte seine Freunde gern noch einmal wiedersehen. Und so machte er brav den Mund auf und sein Entführer steckte ihm das Apfelstück in den Mund. Richard kaute und schluckte dann, es war ihm mittlerweile egal, wie es schmeckte. Dann kam das nächste Stück. In dieser Weise wurde er noch eine Weile weitergefüttert, dann wurde ihm eine Flasche mit Wasser vors Gesicht gehalten. Richard seufzte innerlich auf, dann machte er wieder den Mund auf, was blieb ihm auch anderes übrig. Das Wasser schmeckte immer noch so eklig, aber das bekam er gar nicht mehr mit. Schließlich war er fertig, bzw. die Flasche war leer und der Mann nahm ein Messer in die Hand. Der Schwarzhaarige wusste, dass es nun weiterging.
Richard schüttelte den Kopf, als er daran dachte. So ähnlich war es nach jeder Folter gewesen, nur dass er immer weniger Initiative zeigte. Die ständigen Schmerzen, die Konzentration, ja keinen Mucks von sich zu geben, die Angst um seine Freunde, das alles schwächte ihn sehr. Zum Schluss wurde ihm jedes Mal sanft der Mund aufgezwängt und etwas hineingesteckt, woraufhin er langsam zu kauen und zu schlucken anfing. Trotzdem erhielt er jedes Mal etwas zu essen und Wasser von seinem Entführer, nachdem der seine Wunden gereinigt hatte. Nie verlor er dabei die Geduld oder wurde grob. Es war schon seltsam.
Der Schwarzhaarige sah an sich hinunter. Auch jetzt waren seine Verletzungen gereinigt worden, es blutete nur noch an wenigen Stellen. Trotzdem spürte er jetzt, dass er noch ein ganz anderes Problem hatte, was aber auch mit dem Essen zusammenhing: Er musste mal ganz dringend. Die große Preisfrage war jetzt nur, wie er das erledigen sollte. Eigentlich war diese Situation urkomisch, am liebsten hätte er laut aufgelacht, aber dazu taten ihm eindeutig die Rippen zu weh. Er überlegte. Erst jetzt bekam er mit, dass die Decke, um die er gestern noch gebettelt hatte, nun zum Teil noch auf ihm lag, was ihn aber nur noch wenig wunderte. Er hatte heute während der Fütterungsaktionen eine ganz andere Seite an seinem eigentlichen Peiniger kennen gelernt, eine weiche fürsorgliche Seite. Er konnte nämlich durchaus ganz sanft sein, wenn er wollte. Sicher, er tat dies nur, um Richard am Leben zu erhalten, denn er gab ihm immer nur das Nötigste, aber immerhin, Richards Leben war ihm im Augenblick noch etwas wert.
Der Schwarzhaarige schüttelte leicht den Kopf, solche Überlegungen halfen ihm im Moment nicht weiter. Er beschloss, den vorderen Teil des Käfigs zum Schlafen zu benutzen und den hinteren Teil, nun, für andere Sachen eben. Vorsichtig kroch er dahin, wobei jeder Muskel in seinem Körper rebellierte und tat dann seine Notdurft. Pinkeln tat er allerdings durch die Gitterstäbe, das musste er nicht auch noch drinnen haben. Er kroch wieder in die andere Hälfte seines Käfigs und rollte sich so unter der Decke so zusammen, dass nicht die schlimmsten Verletzungen belastet wurden, ihm aber doch ein wenig warm wurde.
Dann schlief er irgendwann ein, in dem Bewusstsein, dass er den heutigen Tag nur knapp und nur mit Hilfe seine Entführers überlebt hatte.
Richard hing wieder von der Decke, sein Entführer war nirgends zu sehen. Plötzlich ging eine Tür auf und Licht kam herein. Der Schwarzhaarige kniff geblendet die Augen zusammen. Als er sich an das Licht gewöhnt hatte, erkannte er fünf Gestalten, die sich langsam auf ihn zu bewegten. Er konnte es nicht fassen: Seine Freunde! Sie hatten ihn also tatsächlich gefunden. Er wollte etwas sagen, doch es ging nicht. Dann hörte er eine Stimme, eine sehr vertraute Stimme: „Richard! Da bist du ja endlich! Wir haben dich gefunden!“ Er wusste nicht, wer das sagte, es war ihm auch egal. Er war einfach nur glücklich, dass sie da waren und lächelte zur Antwort.
Zitternd erwachte er aus dem Schlaf und sah sich um. Er war immer noch in dem Käfig. Er hatte nur geträumt.
‚Verdammt!’, war das einzige, das ihm dazu einfiel. Ob er sie wohl jemals alle wiedersehen würde? Zum ersten Mal kamen ihm Zweifel, als er daran dachte. Er setzte sich auf und lehnte sich mit dem unverletzten Rücken gegen die kalten Gitterstäbe. Warum hatte dieser Typ eigentlich seinen Rücken in Ruhe gelassen? Richard ahnte Schlimmes. Er wollte hier raus. Warum waren Träume nur so grausam? Er war so schön gewesen.
Eine Mischung aus Angst, Schmerzen, Hilflosigkeit und Enttäuschung beherrschte sein Denken. Und zum ersten Mal brachen sich Tränen ihre Bahn. Das war einfach nicht fair! Das war verdammt noch mal nicht fair! Er wurde von heftigen Schluchzern geschüttelt, die schließlich verebbten. Richard rollte sich wieder zusammen und weinte sich in den Schlaf.
Rache, der dritte Teil(1)
Als Paul erwachte, wusste er zunächst nicht, wo er war. Doch dann fiel es ihm ein: Sie hatten die Nacht auf der Wache verbracht und waren irgendwann alle eingeschlafen. Er sah sich um. Alles schlief noch. Vorsichtig, um die anderen nicht zu wecken, stand er auf, um sich erst einmal einen Kaffee zu holen und zu sehen, wie spät es war. Dabei entdeckte er, dass er nicht alleine wach war: Till lag mit geöffneten Augen auf dem Gang und starrte die Decke an. Paul wollte ihn gerade fragen, ob er überhaupt geschlafen hatte, doch sein Bandkollege kam ihm zuvor: „Wie es ihm wohl gerade geht?“
Er wusste, wen der andere meinte. Er hatte sich die gleiche Frage selbst schon oft in den vergangenen Stunden gestellt. Zu oft.
„Ich weiß es nicht.“, erwiderte er daraufhin, „Aber solange es die Videos gibt, kann man doch hoffen, oder? Es sind immerhin Lebenszeichen...“
„Leben...was ist das für ein Leben? Er wird gefoltert und gedemütigt und wer weiß, was dieser Irre mit ihm anstellt, wenn die Kameras aus sind. Wäre ich an seiner Stelle, ich würde lieber sterben wollen, als so zu ‚leben’...“ Paul sagte nichts dazu. Insgeheim dachte er genauso wie Till, aber er würde sich hüten, dies laut auszusprechen.
„Ach, was solls, vermutlich hast du recht...Bringst du mir ´nen Kaffee mit?“
„Klar, wenn du mir sagst, wie spät es ist?“
„Öhm, zehn nach um sechs...“
„Ok, bin gleich wieder da...“
Fünf Minuten später kam Paul mit zwei Bechern Kaffee wieder. Till setzte sich auf, nahm einen davon und zusammen schlürften sie das heiße Getränk.
„Weißt du...“, setzte der Kleinere an, „ich frag mich die ganze Zeit, ob man den Ursprung der Videos nicht irgendwie zurückverfolgen kann. Das müsste doch im Internet gehen, oder?“
„Das tun sie doch schon die ganze Zeit. Die sitzen da schon die ganze Nacht dran...“
„Und haben immer noch keine Ergebnisse?!“ Paul war wütend aufgesprungen.
„Nun ja, angeblich ist das nicht so einfach, dauert wohl alles seine Zeit...“
„Dann sollen sie was tun, um die Sache zu beschleunigen!“
„Das hab ich ihnen auch gesagt, und seitdem warte ich...“
„Toll und wann war das?“
„Heute Nacht um 2 oder so, vor vier Stunden also ungefähr. Und jetzt setz dich bitte wieder hin, Flake hat Recht, das macht tatsächlich nervös...“
Paul setzte sich sah seinen Freund aufmerksam an. Es war gar nicht seine Art, dass er so ruhig blieb. Eigentlich war es doch eher andersherum, dass Till der Wütende war und die anderen lieber in Deckung gingen. Aber jetzt hatte er irgendetwas Müdes an sich. Seine Stimme, seine Gestik, seine gesamte Ausstrahlung, alles an ihm wirkte müde und irgendwie...hilflos. Und das waren sie doch alle: hilflos. Richard war hilflos, wenn ihm Gewalt angetan wurde und sie selbst waren genauso hilflos, wenn sie dabei zusehen mussten.
Paul zerknüllte den leeren Kaffeebecher in der Faust. Das war doch einfach nicht gerecht! Warum ausgerechnet Richard? Warum überhaupt sie? Was hatten sie diesem Menschen getan? Sie kannten ihn doch gar nicht. Und warum Rache? Das passte doch gar nicht zusammen.
Wieder hatte er die Bilder vor Augen, wie sein Freund, fast wie ein Stück Schlachtvieh, an Ketten hing und gefoltert wurde. Diesen Ausdruck in seinen Augen, als er in dem ersten Film den Kopf hob...er würde ihn nie vergessen.
Doch halt mal! Warum hatte Richard im ersten Video überhaupt den Kopf gehoben? Das war als...ja, als der Entführer irgendetwas davon gefaselt hatte, das der Schwarzhaarige ja der Bandgründer ist. Hatte das alles etwas damit zu tun? Wusste Richard etwa, warum er entführt worden war und jetzt zu leiden hatte?
Abrupt sprang der er auf, woraufhin Till erschrocken zusammenzuckte. Dann rief er seinem Freund nach, der schon auf dem Weg zu dem Raum war, wo sie immer noch die Videos analysierten. „Hey Paul! Wo willst du hin? Die haben bestimmt noch nichts für uns!“
„Ja, aber ich hab was für sie!“, rief der Angesprochene zurück.
Till schüttelte den Kopf. Was sollte das denn jetzt heißen? Seufzend stand er auf und lief seinem Bandkollegen hinterher.
„Wir haben immer noch nichts, das haben wir Ihnen schon einmal gesagt...“, sagte ein Techniker genervt, als die Tür aufging.
„Interessiert mich doch jetzt auch gar nicht, das heißt: interessiert mich schon, aber ich wollte Sie eigentlich um einen Gefallen bitten...“
„Einen Gefallen?“, fragte ein anderer Techniker gedehnt. „Sie sollten uns unsere Arbeit machen lassen, dann kämen wir auch viel schneller vorwärts...“
„Das ist aber wichtig!“, unterbrach Paul die beiden gereizt. „Ich hab vielleicht eine Idee, wie wir ein Motiv für die Entführung und das alles herausfinden können...“
„Haben wir doch schon. Der Entführer will Rache.“, mischte sich nun ein dritter Techniker ein. Paul zwang sich zur Ruhe. „Ja aber ich glaube, Richard weiß, WARUM dieser Typ Rache will, bzw. wofür...“ Sofort waren alle in dem kleinen Raum hellwach. „
„Holt mal einer von euch den Hauptkommissar! Und Sie, schießen Sie mal los...“
„Ja eben Paul, das würden wir jetzt auch ganz gerne mal wissen wollen...“ Der Angesprochene drehte sich überrascht um, als er Ollis Stimme vernahm.
„Oh, ihr seit wach...“, kam es von Till.
„Naja, wenn neben einem rumgebrüllt und vorbeigerannt wird, ist es auch schwer, weiterzuschlafen...“, erwiderte Flake müde.
„Also gut, erinnert ihr euch noch, wie Richard den Kopf gehoben hat, in dem ersten Video?“ Allgemeines Nicken. Natürlich erinnerten sie sich.
„Und da hat er doch irgendetwas gesagt, aber es war so leise, dass man es nicht verstehen konnte. Könnte man das nicht auch lauter machen? So, wie das Geflüster gestern?“ Paul kamen die Worte nur schwer über die Lippen. Die Erinnerungen an das Gesehene und der damit verb undene Schock waren einfach noch zu frisch.
„Ja, das ist eine Idee, warten Sie mal kurz...“, murmelte ein Analyst vor sich hin. Er lud das erste Video, dann sprang er bis zu der besagten Stelle vor.
„Hmm, das ist wirklich sehr leise, aber wenn ich die Hintergrundgeräusche wegnehme...“ Er tat es.
„Und die Spur isoliere...“ Er tat es.
„Und das dann ein bisschen lauter stelle...“ Er tat es.
„Müsste das eigentlich zu hören sein...“ Und so war es auch. Sie hörten ihren Freund, der mit müder und schockierter Stimme flüsterte: „Es tut mir leid. Das hab ich nicht gewusst. Das ist einfach...“ Er unterbrach und stattdessen hallte nur sein lauter Schrei in dem kleinen Raum wieder, woraufhin alle erschrocken zusammenschreckten. Der Techniker regelte die Lautstärke wieder runter.
„Nun ja, einen Versuch war es wert...Auch, wenn nicht viel dabei herausgekommen ist...“
Der Tag begann für Richard nass und kalt, indem einfach ein Eimer eiskaltes Wasser über ihn geschüttet wurde. Der Schwarzhaarige japste kurz auf, dann sah er sich erschrocken um. Diesmal war er mit Hand- und Fußgelenken an eine Wand gekettet worden und er war, zu seiner Verwirrung, nun vollständig nackt.
‚Na super! Das war ja abzusehen gewesen...’, dachte er sich und hörte kurz darauf eine bekannte Stimme: „Na? Bist du endlich wach? Hat ja lang genug gedauert, muss ich schon sagen...“ Richard achtete kaum auf ihn, seine Halsschmerzen und ein dumpfes Ziehen in der Lunge machten ihm mehr Sorgen. Sollte er sich hier eine ernste Krankheit geholt haben...na dann gute Nacht.
„Hey, ich rede mit dir, hörst du mir eigentlich zu?“ Verwirrt blickte er wieder auf, als er die Stimme seines Entführers hörte. Wumm! Schon hatte dieser ihm die Faust im Gesicht platziert. Richards Lippe war aufgeplatzt, er schmeckte Blut. Einiges davon lief ihm aber auch in den Rachen und er bekam einen Hustenanfall. Es schüttelte ihn und er hätte sich zusammengekrümmt, wäre das nicht durch die Fesseln verhindert worden.
„Jetzt mach aber mal halblang! So schlimm war´s doch gar nicht! Mich täuschst du nicht!“
Doch er konnte sich gar nicht mehr beruhigen. Sein bellendes Husten klang rau und trocken, zudem tat ihm jeder Atemzug und auch das Husten selbst in der Lunge weh, was auch von den gebrochenen Rippen herrührte. Dazu kam, dass er sich heute so merkwürdig fühlte. Erst jetzt fiel ihm auf, was das war: Zum ersten Mal, seit er hier war, fror er nicht, im Gegenteil: Ihm war heiß. Nicht nur warm oder so, sondern richtig heiß. Er schwitzte sogar, was aber durch das Wasser überdeckt wurde.
Schließlich ebbte der Hustenanfall ab und Richard holte schwer keuchend Luft, wobei jeder Atemzug eine Qual für sich war. Dann sah er seinen Peiniger müde an.
„Tja, sowas kommt vom Rauchen!“, lachte ihn dieser aus, doch so ganz wohl in seiner Haut fühlte er sich nicht. Das hatte sich eindeutig nicht nach Raucherhusten angehört. Ob er es vielleicht übertrieben hatte, was die Kälte und das Wasser betraf? Ach Unsinn, aber was, wenn doch?
Richard atmete immer noch schwer. Was war das eben gewesen? Und warum war ihm so heiß, obwohl er immer noch zitterte? Er hörte wieder die Stimme seines Entführers und musste sich zusammenreißen, um ihm auch wirklich zuzuhören.
„Hör mal.“, meinte die gehässige Stimme, „Sie suchen nach dir...“ Er drehte mit höhnischem Grinsen das Radio lauter. „...Gitarrist von Rammstein, einer der bekanntesten deutschen Bands. Es sind Videos im Internet aufgetaucht auf denen der Gesuchte grausam gefoltert wird. Hinweise, wo diese Videos entstanden sein könnten oder wer der Täter sein könnte, nimmt jede Polizeidienststelle entgegen. Weitere Nachrichten des Tages...“ Er drehte das Radio wieder leiser.
„Na sieh doch mal einer guck, wir haben es tatsächlich ins Radio geschafft. Dann werden wir wohl auch bestimmt bald im Fernsehen sein, ist das nicht aufregend?“ Richard nickte schwach. Sie suchten ihn. Sie hatten also mitbekommen, dass er verschwunden war und...suchten ihn! Und da würden sie ihn doch auch bestimmt bald finden, oder? Oder?
Der Mann schien den Hoffnungsschimmer in den Augen seines Opfers bemerkt zu haben. „Oh, glaub mir, hier findet uns keiner! Das ist einer der letzten Orte, an dem irgendjemand nachsehen würde. Aber selbst wenn sie uns finden sollten, heißt das ja noch lange nicht, dass wir uns nicht noch ein wenig amüsieren könnten, meinst du nicht auch? Wir müssen den Aasgeiern von der Presse doch schließlich eine gute Show bieten, nicht? Schließlich kommen wir doch ins Fernsehen...“ Er entfernte sich, kam aber kurz darauf mit einer Schachtel Zigaretten wieder. Außerdem hatte er noch seinen Rollwagen dabei, auf dem heute jede Menge Zangen lagen. Richard fragte sich ernsthaft, was heute wohl auf dem Programm stand, aber eigentlich wollte er es gar nicht wissen. Sein Peiniger schaltete die Webcam ein.
„Soo...“, meinte er feixend, „ich hab dir ja heute noch gar nicht gesagt, wie du dich heute verhalten sollst, hmm?“ Der Schwarzhaarige nickte.
„Gut. Heute sollst du das Gegenteil von gestern tun: Du sollst schreien. Und zwar sehr laut...“ Damit baute der Mann noch ein weiteres Gerät auf.
„Weißt du, was das ist?“ Richard schüttelte den Kopf.
„Das ist ein Gerät, mit dem man die Lautstärke von verschiedenen Geräuschen messen kann. Deine Aufgabe ist es heute, so laut zu schreien, dass der Anzeigebalken immer hier“, er zeigte auf die Stelle, „ist. Wenn nicht, du weißt, was dann passiert. Aber keine Sorge, ich werde dir schon helfen, dass du auf die Lautstärken kommst, die ich von dir verlange.“
Wieder ein hämisches Grinsen. Dann zündete er die Zigaretten an, eine nach der anderen.
„Ich hab doch vorhin vom Rauchen gesprochen, oder? Du brauchst mir nicht zu antworten, das war eine rhetorische Frage.“, sagte er grinsend, als sein Opfer nickte.
„Nun ja, ich hab einmal beobachtet, dass du an einem Tag 20 Zigaretten geraucht hast.“
Richard schloss die Augen. Er wollte gar nicht wissen, wann der andere ihn beobachtet hatte. Wahrscheinlich immer...und überall.
„20 Kippen! Meinst du nicht auch, dass das ein bisschen viel ist? Immerhin eine ganze Schachtel voll...“ Der Rauch stieg Richard in die Nase und er sog ihn tief ein. Ein neuerlicher Hustenkrampf folgte, der genauso lang und schmerzhaft war, wie der vorige. Der Mann lachte amüsiert auf.
„Na sieh doch mal einer guck, dein Körper wehrt sich schon dagegen und gleichzeitig braucht er es. Das nennt man dann wohl ein Dilemma.“ Wieder ein Lachen. „Ich denke ja mal, dass du an anderen Tagen noch viel mehr als 20 Zigaretten geraucht hast, aber ich hab eben diese 20 beobachtet und 20 ist ja auch eine schöne Zahl, schließlich entspricht sie meinem Alter.“
Richard sah überrascht auf. Sein Entführer war also tatsächlich erst 20? Er hatte also doch richtig geschätzt. Der Schwarzhaarige verkniff sich ein Kopfschütteln. Wie konnte man so jung schon so grausam sein? Was war wohl in diesem Leben schiefgelaufen, das der Typ so einen Spaß daran hatte, andere zu quälen? Richard hätte ihn gerne gefragt, aber er wusste was die Antwort sein würde. Und auf die konnte er verzichten. Trotzdem – er konnte es sich einfach nicht vorstellen, dass der Musikgeschmack des anderen der einzige Grund für dessen beschissenes Leben sein sollte. Vielleicht machte er das zum Sündenbock, aber Richard vermutete, dass da noch mehr dahintersteckte. Viel mehr.
„Was denn? Bist du etwa überrascht, dass ich erst 20 bin? Worauf hättest du mich denn geschätzt? Zwölf?“ Richard wollte gerade den Kopf schütteln, als ihm mit einem schon bekannten Skalpell, das sein Peiniger ständig mit sich herumzutragen schien, die Achsel aufgeschlitzt wurde. Der Schwarzhaarige schrie auf, der Anzeigebalken fuhr in die Höhe.
„Oh prächtig, das scheint ja schon mal zu funktionieren.“, meinte sein Entführer lächelnd, dann wandte er sich mit wütender Miene wieder Richard zu: „Und du, rede endlich! Wie alt hättest du mich denn geschätzt, hm?“
„Naja, ich hab dich auch auf so Anfang 20 geschätzt...ich konnte nur gerade nicht glauben, dass ich damit richtig lag...“
„Ach und warum nicht?“ Das Skalpell schnitt tiefer in das empfindliche Fleisch, der Anzeigebalken fuhr wieder höher.
„Weil...weil du dich nicht so verhältst, wie 20, sondern eher wie...“ Richard stockte, ihm fehlten die richtigen Worte. Das machte seine Situation nicht gerade angenehmer.
„Wie verhalte ich mich denn? Sag schon, WIE verhalte ich mich?“ Und wieder bekam der Anzeigebalken des Geräts zur Lautstärkemessung etwas zu tun.
„Ich, ich weiß auch nicht...ich...“
„Ach, du weißt es also nicht? Jetzt sage ich dir mal, wie ich mich verhalte: Ich verhalte mich genau richtig!“ Richards Augen weiteten sich überrascht. Wie konnte der Typ nur von sich behaupten, dass er sich richtig verhielt?
„Ja, ich verhalte mich richtig! Normalerweise sollte ich dich umbringen, dafür, was du getan hast! Und die anderen fünf auch! Abschlachten, wie Freiwild sollte man euch! Und am besten alle, die noch dazugehören! Aber...“ Urplötzlich wurde seine Stimme wieder ruhig, berechnend. „Aber ich bin ja kein Unmensch, weißt du? Ich will dir nur einen kleinen Denkzettel verpassen. Mir ist es wichtig, dass wir alle heil aus der Sache rauskommen, du verstehst? Also nix mit bleibenden Schäden oder so, nur ein wenig Spaß...für mich.“ Ein bestialisches Grinsen.
Richard konnte kaum glauben, was er da hörte. Wann um alles in der Welt war es zum abgrundtief bösartigen Verbrechen geworden, eine Band zu gründen? Das musste er wohl irgendwie verpasst haben. Und die anderen auch.
„Gut und jetzt...fangen wir an...“ Mit diesen Worten nahm er eine brennende Zigarette und klopfte ein wenig Asche ab. Er trat auf die linke Hand des Schwarzhaarigen zu, während er tief inhalierte. Dann nahm er den Daumen fest in die eine Hand und drückte die glühende Kippe fest auf die Fingerkuppe.
Richard schrie auf. Das tat höllisch weh. Dann erinnerte er sich an die „Anweisung“ und schrie weiter, den Anzeigebalken im Auge behaltend. Sein Peiniger ließ den Finger los, nahm noch einen Zug und drückte die Zigarette schließlich auf der frischen Brandwunde aus. Der Schwarzhaarige schrie wieder und bemühte sich, auf die entsprechende Lautstärke zu kommen. Seine Lunge rebellierte bedenklich und die Halsschmerzen wurden schlimmer. Das Schreien ging in einen neuerlichen Hustenkrampf über und diesmal spuckte Richard schwarzen zähflüssigen Schleim aus.
„Ui, machen wir also gleich noch eine Reinigungsaktion deines Atemsystems, oder was? Da kannst du mal sehen, was du deinem Körper die ganze Zeit angetan hast. Ist auch nicht viel besser, als das, was ICH mit dir anstelle. Ich hab hier noch 19 Zigaretten und du wirst jede einzelne spüren, das versprech ich dir...“ Damit fuhr er fort, Richard die Finger zu verbrennen. Einen nach dem anderen. Erst die linke Hand, dann die rechte. Und immer nach dem gleichen Schema: Asche abklopfen, draufdrücken, einen Zug nehmen und auf dem frischen Brand ausdrücken. Und sein Opfer schrie. Schrie, bis ihm nicht nur die Lungen und der Hals wehtaten, sondern auch in seinem Kopf eine merkwürdige Leere zu sein schien. Alles fühlte sich taub an. ‚Scheiße verdammte und wir sind gerade mal bei der Hälfte!’, fuhr es ihm durch den Kopf, als schließlich auch der zehnte Finger ein kleines kreisrundes Brandmal hatte.
„Na DAS war doch schon mal ein guter Anfang!“, meinte der junge Mann gut gelaunt in dem Augenblick.
„Gut, wo mach ich denn jetzt weiter, hmm...“ Richard schloss die Augen. Noch zehn mal brennen. Fuck! Hätte er nicht an dem Tag, als der Typ mitzählte nicht nur fünf oder so rauchen können? Aber dann musste er sich das Lachen verbeißen, so ernst die Situation auch war. Fünf! Darüber war doch schon seit Jahren hinaus. Schon der Gedanke daran war lächerlich. Aber vielleicht zehn? Wäre auf jeden Fall vorstellbarer, als fünf. Und dann hätte er es auch schon hinter sich. Oder eher vor sich, er hatte die ganzen Zangen noch nicht vergessen. Mann, konnte der Typ ihm nicht einfach noch die Zehen verbrennen? Doch einfach würde er es nicht haben, das wusste Richard. Und er ahnte dumpf, dass es kein Zufall war, dass er heute komplett nackt war. ‚Oh scheiße!’, kam es ihm wieder ein, tatsächlich hatte er diesen Gedanken ziemlich häufig in letzter Zeit. ‚Das macht er nicht wirklich, oder?’ Doch ein plötzlicher heftiger Schmerz an seiner empfindlichsten Stelle belehrte ihn eines Besseren. Und diesmal brauchte er keine Drohungen, um zu schreien, er tat es einfach. Er hörte weit entfernt ein höhnisches Lachen, als ihn noch einmal dieser höllische Schmerz durchzuckte. Und noch einmal. Dann hörte es auf, vorerst. Richard zitterte und schwitzte gleichzeitig. Fiebrig sah er den anderen an und nahm nur noch undeutlich seine Umgebung war.
„Mensch, du bist ja richtig gut, das muss ich dir schon lassen. Du machst das vielleicht noch besser als gestern. Ganz eindeutig, du bist echt talentiert, was das Schreien angeht...“ Richard sagte nichts dazu, er wartete einfach. Dann hörte er seinen Entführer wieder ganz dicht am rechten Ohr: „Also, ich weiß gar nicht was du hast, ich dachte, du stehst drauf, wenn du dich mal verbrennst?“ Damit drückte er ihm die Kippe in die Ohrmuschel, nicht schlimm genug, um das Gehör seines Opfers zu schädigen, aber weit genug drinnen, um möglichst große Schmerzen zu verursachen. Und wieder schrie der Schwarzhaarige auf, nur brauchte er diesmal schon Überwindung, um auf die geforderte Lautstärke zu kommen. Schreien war mindestens genauso anstrengend wie die Schmerzen stumm ertragen zu müssen, vielleicht auch noch schlimmer. Wie aus weiter Ferne nahm er wahr, dass er von seinem Peiniger umrundet wurde, dafür spürte er den Schmerz im linken Ohr umso deutlicher. Richard wurde langsam müde. Aber ihm war keine Ruhe vergönnt. Bestimmt nicht. Und noch zwei empfindliche Stellen an seinem Körper sollten getroffen werden. Er spürte, wie sich die Hitze der glühenden Zigarette hinunterbewegte und dann jagte ein Schmerz, ausgehend von seiner linken Brustwarze durch seinen Körper. Und wieder schrie Richard so laut er konnte. Dann schloss er die Augen, als er den gleichen Schmerz auf der rechten Seite spürte und seiner Stimme freien Lauf ließ.
„Du kannst die Augen gleich zulassen, es sei denn, ich soll sie dir ausbrennen...“, hörte er dann eine feixende Stimme und das Gesicht dazu tauchte vor seinem inneren Auge auf. Tat er das wirklich? Aber wozu sich diese Frage stellen, natürlich tat er es. Er hatte bis jetzt alles getan, selbst die unmöglichsten Sachen. Und dann spürte er das Brennen auf seinem linken Auge. Er musste sich schon zwingen zu schreien, klar, es war schmerzhaft, sehr schmerzhaft sogar, und die Angst, dass er nicht doch blind werden würde tat ihr Übriges, aber er fühlte sich wie ausgepumpt und konnte sich kaum noch wach halten. Und dann noch das rechte Auge. Wieder schrie er und fragte sich gleichzeitig, wann das wohl alles hier vorbei sein würde. Zum ersten Mal kam schwach, ganz schwach der Gedanke in ihm auf, ob es nicht besser wäre, einfach zu sterben, sich irgendwie umzubringen, wenn er unbeobachtet in seinem kleinen Käfig war. Aber er verdrängte den Gedanken so rasch und blitzartig wie er gekommen war. Zum Sterben war er noch nicht bereit. Noch nicht.
„Gut, jetzt hab ich noch eine Zigarette übrig, wo bring ich die jetzt noch an, hmm, mal überlegen...“ Der Schwarzhaarige schlug vorsichtig die Augen auf, was höllisch wehtat, wie sein ganzer restlicher Körper auch. ‚Ein Mal noch, nur noch ein verdammtes Mal...’ Beim Gedanken daran wusste er nicht, ob das nun gut oder schlecht war.
‚Ich glaub, ich wird nie wieder rauchen...’, überlegte er sich dann.
„Ha! Ich habs!“ Richard zuckte erschrocken zurück, als er die laute erfreute Stimme seines Peinigers hörte.
„Los, und jetzt sag mal ganz lieb Aaa!“
‚Wie bitte?’, war die erste verwirrte Reaktion im Hirn des Schwarzhaarigen. Doch dann wusste er, was der andere von ihm wollte.
‚Oh nein, bitte nicht...’ Doch was konnte er schon tun? Er musste sich fügen, denn er wusste, dass dieser Irre seine Drohung ohne Weiteres wahrmachen konnte und würde. Und das wiederum konnte und würde Richard nicht verantworten. Und so machte er den Mund auf und streckte schließlich die Zunge raus, er wusste, was jetzt kam.
„Hey, jetzt wird aber mal nicht frech! Zunge rausstrecken verbietet man schon kleinen Kindern, wo bleibt deine Erziehung?“
‚Jetzt mach doch endlich!’, dachte sich der Schwarzhaarige nur. Aber sein Entführer hatte nun mal sichtlich Spaß daran, ihn bloßzustellen und er schien gar nicht daran zu denken, das Ganze ein wenig zu beschleunigen. Doch schließlich packte er die Zunge seines Opfers und drückte auch die letzte Kippe darauf. Es zischte und Richard schrie, aber dann war es seinem Körper endgültig zu viel. Undeutlich bekam er noch mit, wie sein Peiniger die letzte, die zwanzigste Zigarette neu anzündete und mit Genuss und in aller Gemütsruhe rauchte, dann ergriff die Dunkelheit und die schmerzfreie Welt wieder von ihm Besitz.
Und wieder träumte Richard. Träumte den gleichen Traum, den er auch schon in der Nacht hatte:
Er hing an Ketten von der Decke. Plötzlich ging eine Tür auf und Licht kam herein. Der Schwarzhaarige kniff geblendet die Augen zusammen. Als er sich an das Licht gewöhnt hatte, erkannte er fünf Gestalten, die sich langsam auf ihn zu bewegten. Er konnte es nicht fassen: Seine Freunde! Sie hatten ihn also tatsächlich gefunden. Er wollte etwas sagen, doch es ging nicht. Dann hörte er eine Stimme, eine sehr vertraute Stimme: „Richard! Da bist du ja endlich! Wir haben dich gefunden!“ Er wusste nicht, wer das sagte, es war ihm auch egal. Er war einfach nur glücklich, dass sie da waren und lächelte zur Antwort.
Weiße Blitze zuckten vor seinen Augen und ein glühender Schmerz riss ihn aus der Bewusstlosigkeit.
Rache, der dritte Teil(2)
„Paul, jetzt hör endlich auf, darauf herumzureiten! Das bringt doch nichts!“
„Aber es ist doch wahr: Richards Geflüster sagt uns etwas...“
„Das würde es, wenn er nicht vorher...unterbrochen worden wäre...“
Immer noch saßen sie auf der Wache, irgendwie verspürte keiner von ihnen den Drang, nach Hause zu gehen. Paul war in eine heftige Diskussion mit Flake verwickelt. Nach Meinung des Kleineren steckte hinter dem, was ihr Freund im ersten Video gesagt hatte viel mehr, als man zunächst vermuten konnte, nur war keiner aus der Band so wirklich seiner Meinung.
„Gehen wir es doch noch einmal durch.“ Ein genervtes Aufstöhnen der anderen vier. „Richard hatte gesagt, dass es ihm leid tut, als dieser Psycho etwas davon geredet hat, dass Richard ja der Bandgründer ist.“
„Ja klar, der Typ hat einen Hass auf uns und hat ihn deshalb entführt...“
„Ja aber das passt doch gar nicht zusammen! Er will sich doch ‚rächen’. Wenn er die Band hassen würde, wofür will er sich dann rächen?“
„Woher sollen wir denn wissen, was im Hirn dieses Typen vorgeht? Vielleicht ist die ‚Rache’ ja auch nur ein Vorwand und er hat einfach nur Spaß dran, andere zu quälen...“
„Ja, aber dann hätte er doch jeden nehmen können, warum ausgerechnet Richard?“
„Paul, jetzt hör doch mal auf! Wir wissen es nicht und werden es wahrscheinlich auch nie herausfinden, es sei denn Richard weiß es wirklich und erzählt es uns...wenn wir ihn finden...“ Flake brach ab. Ob sie ihn tatsächlich jemals wiedersehen würden? Und wenn ja, in welchem Zustand würde er dann sein? Dieser Psychologe hatte darauf hingewiesen, dass es bei Personen, die Opfer solch grausamer Folterungen wurden, häufig zu schweren Traumata kam. Ob er sie wiedererkennen würde? Eines stand für sie fest: Sie mussten ihn so schnell wie möglich finden. Eine Tür öffnete sich und sie sahen auf. Mit leichenblassen Gesicht kam einer der Videoanalysten heraus und sagte nur drei Worte: „Ein neues Video...“ Viel mehr brachte er nicht heraus und es reichte auch schon, denn sofort stürmten fünf besorgte Menschen an ihm vorbei in den dunklen Raum. Dort wurden sie von dem leitenden Ermittler empfangen: „Ich bin mir nicht sicher, ob Sie sich das wirklich antun sollten...das ist einfach nur...grausam...“
„Wir wollen es uns aber antun!“, wurde er rüde von Till unterbrochen. Sein Gegenüber seufzte, dann gab er ein Zeichen, den Film laufen zu lassen.
Zuerst das Übliche: Ein schwarzes Bild, es wurde weiß „Rache, der dritte Teil“ eingeblendet. Dann wieder diese höhnische Stimme: „Herzlich willkommen zu unserer Dokumentationssendung ‚Wie laut kann ein Mensch schreien?’“ Sie tauschten Blicke, aber dieses Prozedere war ja mittlerweile bekannt. Dann sahen sie wieder ihren Freund, der, nackt und klatschnass, an die Wand gekettet war. Seine rechte Seite war blau und geschwollen, anscheinend waren mehrere Rippen gebrochen. Sein ganzer Körper war mit Schnittwunden bedeckt, einige von ihnen nässten immer noch. Außerdem schien ihm das Atmen Probleme zu bereiten, sie konnten jedoch nicht erkennen, ob das „nur“ von den gebrochenen Rippen herrührte oder eventuell noch eine andere Ursache hatte.
„Scheiße!“, war das einzige, was ihnen dazu einfiel. Es war deutlich zu sehen, dass ihr Freund nicht mehr lange durchhalten würde, wenn das so weiterging. Dann hörten sie die feixende Stimme von Richards Entführer: „Soo, ich hab dir ja heute noch gar nicht gesagt, wie du dich heute verhalten sollst, hmm?“
Wieder tauschten sie Blicke. Ob er wohl immer solche „Anweisungen“ bekam oder nur, wenn die Kameras an waren? Dann wieder diese Stimme: „Gut. Heute sollst du das Gegenteil von gestern tun: Du sollst schreien. Und zwar sehr laut...“
„Und wie soll er das bitte anstellen mit gebrochenen Rippen?“ Das kam von Olli, der mehr als nur wütend war, auch wenn er sich das nicht allzu deutlich anmerken ließ. Dann hörten und sahen sie zu, wie der „Psycho“, wie Paul ihn so gerne nannte, Richard erklärte, wie laut er denn heute zu schreien hätte.
„Das ist doch krank! Das ist einfach nur krank!“ Paul hielt es wieder mal nicht auf einem Stuhl. „Und was macht er, wenn Richard nicht so laut schreit, wie er es von ihm verlangt? Holt er dann vielleicht wieder den Schlagring raus, oder was?“
„Nun, wir vermuten, dass er ihm immer noch droht, Sie ebenfalls zu entführen. Aber eigentlich braucht er das gar nicht...“ Die letzten Worte des Polizisten deckten sich vom Sinn her mit denen, die grade von Richards Entführer kamen: „Aber keine Sorge, ich werde dir schon helfen, dass du auf die Lautstärken kommst, die ich von dir verlange.“
„Verdammt!“, kam es wieder von einem der fünf, dann lauschten sie stumm dem restlichen Gespräch. Sie hörten, wie Richards Peiniger ihm Vorhaltungen wegen der 20 Zigaretten machte und fragten sich gleichzeitig, an welchem Tag er wohl mitgezählt hatte. Musste wohl an einem sehr arbeitsreichen Tag für Richard gewesen sein, wenn sein Entführer „nur“ zwanzig Kippen gezählt hatte. Ihre Gedankengänge wurden unterbrochen, als sie hörten, dass Richards Peiniger tatsächlich erst 20 war.
„Das...“, wollte schon einer von ihnen ansetzen, doch die darauf folgende Auseinandersetzung erstickte jeglichen Einwurf.
‚Abschlachten wie Freiwild...scheiße, warum hat der nur so eine Wut auf uns?’, ging es Paul durch den Kopf.
‚Ein kleiner Denkzettel...der Typ hat sie doch nicht mehr alle!’, waren Schneiders Gedanken. Doch dann wurden sämtliche Überlegungen von ihnen unterbrochen, als Richards Peiniger anfing, seinem Opfer die Fingerkuppen zu verbrennen.
„Nein!“ Till starrte unverwandt auf den Bildschirm, wo sein Freund schrie, so laut er konnte. Allerdings ging das Schreien bald in einen krampfartigen Hustenanfall über und dann spuckte Richard schwarzen Schleim aus.
„Scheiße!“ Irgendwie war das immer noch das passendste Wort für das, was dort in dem Film geschah. Sie hörten wieder die gehässige Stimme und fragten sich zeitgleich, wo dieser Verrückte Richard noch überall brennen würde. Die Antwort folgte kurz darauf, als der Entführer systematisch die Finger des Schwarzhaarigen verbrannte. Dann eine kurze Pause.
Bei den nächsten drei Bränden mussten sie sich arg zusammenreißen, um weiter zuzuschauen, hören mussten sie es allemal, denn Richards Schreie waren ohrenbetäubend laut. Verständlich für alle Anwesenden, vor allem für die Männer. Aber der Entführer ließ sich davon nicht stören und machte munter weiter damit, empfindliche Stellen an dem Körper seines Opfers zu verbrennen. Doch man sah dem Schwarzhaarigen an, dass er langsam müde wurde. Es schien ihn immer mehr Anstrengung zu kosten, laut genug zu schreien, obwohl die Schmerzen bestimmt in etwa gleich schlimm blieben. Und als ihm zum Schluss die Zunge verbrannt wurde, waren sie froh, als er endlich das Bewusstsein verlor und erst einmal keine Schmerzen mehr hatte.
Richards Entführer zündete sich die eben ausgedrückte Kippe neu an, um sie in aller Gemütsruhe zu rauchen und bei diesem Anblick wurde Till speiübel.
‚Ich glaub, ich rühr nie wieder Zigaretten an.’, dachte er bei sich. In dem Video schien der Folterer jetzt erst bemerkt zu haben, dass sein Opfer nicht mehr bei Bewusstsein war. „Na sieh doch mal einer guck! Jetz isser weggetreten. Hat aber auch gar kein bissel Durchhaltevermögen, der Gute...“ Er sagte das im Tonfall eines kleinen Kindes, das gerade etwas Hochinteressantes zum Spielen entdeckt hatte. „Hey, wach auf! Niemand hat dir erlaubt, einfach einzuschlafen! Ich bin doch noch gar nicht fertig...“ Damit verpasste er ihm ein paar frische Schnitte mit dem Skalpell. Richard regte sich nicht.
„Oh scheiße! Wach auf, komm schon bitte!“ Keiner der fünf Rammsteiner wusste in dem Moment, ob ihr Freund noch lebte oder nicht.
„Hmm, funktioniert auch nicht, was machen wir denn da bloß? Ich kann doch schließlich nicht ohne dich anfangen, wo bleibt denn da der Spaß?“ Wieder traktierte er ihn mit dem Skalpell und wieder kam keine Reaktion des Schwarzhaarigen.
„Na gut, wenn du nicht willst...dann muss ich dich eben auf die harte Tour wecken. Glaub mir, mein Lieber, du hast erst Ruhe, wenn ich es sage und nicht, wenn du es willst...“ Innerhalb von Sekunden war das Kleinkindgehabe von Richards Entführer abgefallen. Er nahm eine Zange und trat mit kalten berechnenden Blicken zu der linken Hand seines Opfers und nahm dessen Daumen zwischen die Finger. Dann setzte er die Zange unter dem Nagel an und hielt diesen fest gepackt. „Oh nein, dieses Aas!“ Paul war drauf und dran, zu explodieren.
„Lass ihn in Ruhe, du Schweinehund, das hat er nicht verdient, verdammt!“ Es war das erste Mal, seit Richards Entführung, dass Till seinen Zorn offen zeigte. Seine Stimme zitterte wieder, er war kalkweiß. Doch der Mann, der sein krankes und grausames Spiel mit ihrem Freund trieb, hörte sie nicht. Wie denn auch? Und selbst wenn er sie gehört hätte, es hätte ihn nicht davon abgehalten. Er packte mit der linken Hand fest Richards Daumen, dann riss er mit der rechten ruckartig die Zange nach oben, hebelte den Fingernagel aus und riss ihn ab.
Irgendwo mitten in Berlin in einem kleinen dunklen Raum schnappten fünf geschockte Menschen entsetzt nach Luft.
Richard wachte durch die Schmerzen und durch seinen eigenen Schrei auf. Verwirrt sah er sich um, er hatte wieder geträumt. Dann sah er auf seine Hand und seine Augen weiteten sich. Da, wo sich einst der Daumennagel befunden hatte, glänzte nur noch das rohe Fleisch. Blut tropfte auf den Boden. Richards Entführer sah erstaunt auf seine Zange und betrachtete fasziniert den abgerissenen Fingernagel. „Cool!“, meinte er dann, „War ja ganz einfach. Hätte ich jetzt nicht für möglich gehalten...“ Damit ließ er den blutigen Nagel auf seinen Rolltisch fallen und wandte sich dann, fast beiläufig, mit einem grausamen Grinsen seinem Opfer zu. „Ui, bist ja doch wieder wach. Na prächtig, dann können wir gleich weitermachen...“
‚Nein!’, war das Einzige, was dem Schwarzhaarigen in dem Moment durch den Kopf schoss. ‚Bitte nicht!’ Er wollte etwas sagen, doch schon wurde seine linke Hand erneut gepackt, diesmal der Zeigefinger umschlossen, die Zange angesetzt und ein weiterer Nagel musste dran glauben. Richard schrie auf. Sein Hals und seine Lunge rebellierten, aber das hielt ihn nicht vom Schreien ab. Irgendwie musste er den Schmerzen doch Ausdruck verleihen.
„Dieser dreckige kleine elende...Oohh, wenn ich den in die Finger kriege...“ Paul hatte Mühe, seinen Zorn unter Kontrolle zu bekommen und den anderen ging es ähnlich. Und wieder stellten sie sich die selben Fragen: Warum? Warum tat dieser Mensch das? Und wie konnte er überhaupt so grausam sein?
Richards Entführer fuhr derweil fort, ihm jeden Fingernagel einzeln auszureißen. Die Schreie des Schwarzhaarigen hallten laut in dem kleinen Raum wider und es war fast noch schlimmer, ihnen zuzuhören, als ihn stumm leiden zu sehen.
Als auch fünfte Nagel draußen war, legte der Mann seine Zange mit zufriedenem Grinsen auf den Rollwagen. Richard wimmerte. Unter seiner linken Hand hatte sich eine Blutlache gebildet und immer noch tropfte es ihm rot von dem Fingern.
„Du verlierst zu viel Blut, weißt du das? Das ist nicht sonderlich gut für dich. Aber dagegen kann ich was tun. Du solltest mir dankbar sein...“ Der Schwarzhaarige sagte nichts dazu, sondern wünschte sich einfach, dass es aufhörte. Er wollte nicht mehr. Es sollte endlich vorbei sein. Jetzt kam der Rollwagen in sein Blickfeld, auf dem aber nun nur noch eine Schüssel mit einer klaren Flüssigkeit darin stand, auf der sich eine dünne Eisschicht gebildet hatte. Sein Entführer entfernte das Eis und Richard hatte auf einmal den markanten Geruch von Alkohol in der Nase. Moment mal! Alkohol? ‚Oh nein, hört das denn nie auf?’
„Soo, und jetzt gib brav Pfötchen...“, hörte er nur noch und dann wurde seine blutige Hand in die klare Flüssigkeit getaucht, die sich sofort rot färbte. Und wieder schrie Richard, die Kälte und der brennende Alk machten die Schmerzen für ihn unerträglich. Doch dann umfing ihn beruhigende Schwärze und sein verspannter Körper erschlaffte, als er erneut das Bewusstsein verlor.
Die fünf Rammsteiner saßen fassungslos auf ihren Stühlen, sie waren zu keiner Regung fähig. Sie hörten ein kaltes Lachen.
„Oh, jetz isser schon wieder weg.“, meinte Richards Entführer, offenbar recht belustigt, „Hmm, das geht heute aber auch schnell bei ihm. Naja, ganz praktisch, kann ich erst mal ´ne Kaffeepause machen gehn...“ Damit verschwand er aus dem Bild und ließ den Bewusstlosen zurück. Die Kamera jedoch lief weiter und in den nächsten zehn Minuten sahen sie nur ihren Freund, der regungslos und schlaff an der Wand hing und nur durch die Fesseln in einer aufrechten Position gehalten wurde. Seine linke Hand lag immer noch in der kleinen Schüssel.
„Das wäre jetzt vielleicht die geeignetste Stelle, wo Sie aufhören sollten. Es wird dann nämlich nicht besser...“
„Das können wir uns auch selber denken und NEIN, Sie lassen das laufen, ICH für meinen Teil will es mir nämlich zu Ende ansehen...“, unterbrach Till das Gemurmel des Polizisten.
„Ich fass es nicht!“, flüsterte Paul, als eine, ihnen vertraute Gestalt, mit einem großen dampfenden Becher wieder ins Bild kam.
„Der Typ macht tatsächlich ´ne Kaffeepause. Ich fass es einfach nicht!“ Tatsächlich schlürfte Richards Entführer mit offensichtlichem Genuss den Kaffee oder was auch immer in dem Becher war und schien sich keinen Deut um sein regungsloses Opfer zu scheren. Als er fertig war, trat er jedoch kopfschüttelnd auf den Bewusstlosen zu.
„Sag mal, dir geht’s auch zu gut, was?“, meinte er mit vorwurfsvoller Stimme. „Du kannst doch nicht den ganzen Tag hier nur faul rumhängen, also ehrlich mal!“ Damit nahm er einen kleinen Eimer, in dem sich anscheinend Wasser befand, welches ein wenig blubberte und noch mehr dampfte.
„Nein! Das tut er nicht!“ Die Reaktion kam von Schneider, der entsetzt aufgesprungen war. Doch Richards Entführer tat genau DAS und ließ seinem Opfer das kochende Wasser die Schulter hinunterlaufen. Richard regte sich und schlug die Augen auf. Erst jetzt schien er mitzubekommen, dass er gerade verbrüht wurde, denn auch die entsprechenden Schmerzen meldeten sich mit einiger Verzögerung. Dann jedoch schrie er auf, wieder einmal.
„Tut mir ja leid, dass ich dich jedes Mal so unsanft wecken muss.“, sagte sein Peiniger mit einer Stimme nach der es ihm NICHT leid tat, „Aber anders bekomm ich dich ja nicht wach. Und du sollst schließlich den Rest der Show nicht verpassen...“ Richard hatte aufgehört zu schreien, es war einfach zu anstrengend für ihn. Außerdem brachte er kaum noch einen Laut hervor, seine Stimme versagte schlicht und einfach. Er ließ den Kopf hängen und murmelte heißer etwas vor sich hin. Niemand verstand seine Worte. Dann zuckte er zusammen, als sein rechter Daumen gepackt wurde.
„Nein...bitte...“, versuchte er zu sagen, aber er brachte kaum ein Wort heraus. Ein gleißender Schmerz durchfuhr ihn. Er riss den Mund auf und wollte schreien, doch es kam nur noch ein raues Krächzen heraus. Seine Stimme versagte ihm endgültig den Dienst. Die Zange wurde am Zeigefinger angesetzt. Und in dem Moment brachen sich bei Richard die Tränen wieder ihre Bahn. Er konnte einfach nicht mehr. Still tropfte es von seinem Kinn und dann kam wieder der Schmerz. Doch Richard schrie nicht mehr. Er weinte nur noch. Aber nicht nur vor Schmerzen, sondern auch, weil er sich so verdammt hilflos und ausgeliefert fühlte und auch so schrecklich...allein. Und nicht nur bei ihm flossen die Tränen. Auch seine fünf Freunde, die alles mit ansehen mussten und sich genauso hilflos und ausgeliefert fühlten, wurden von Schluchzern geschüttelt. Das war einfach nicht fair. Aber was war schon fair im Leben? Nun, das mit Sicherheit nicht.
Auch Richards Mittelfinger musste dran glauben. Doch da schien sein Peiniger irgendetwas falsch gemacht zu haben, den anstatt, dass der Nagel abriss, blieb er zum Teil dran hängen. Interessiert betrachtete er den blutigen Finger. „Uuiii, was ist den jetzt passiert? Wie hab ich das denn jetzt angestellt? Coool...“ Damit nahm er den Nagel zwischen die Finger und bewegte ihn auf und ab. Richard schloss die Augen und weinte heftiger, als der Schmerz ihn immer wieder aufs Neue durchzuckte.
„Hör auf damit! Lass ihn endlich in Ruhe!“ Das war wieder Till, der es kaum noch aushielt, hinzusehen.
„Hmm, wie krieg ich das jetz ab? Mal sehen...“ Der junge Mann verhielt sich wie ein Wissenschaftler, der gerade ein neue Spezies entdeckt hatte.
„So vielleicht?“ Er versuchte, den Nagel herauszudrehen, stieß aber bald auf Widerstand. Richards Körper verkrampfte sich, die Tränen flossen reichlicher.
„Nein, so nicht...vielleicht so?“ Er zog an dem Nagel, was aber auch nicht funktionierte. Inzwischen hatte sich unter der rechten Hand des Schwarzhaarigen eine ähnliche Blutlache gebildet, wie unter der linken.
„Na gut, wenn es so nicht geht, dann eben so...“ Damit riss er den Nagel nach hinten und löste ihn schließlich vom Finger und mit ihn auch die ganze obere Haut. Richards Mittelfinger war nur noch rohes Fleisch.
„Hmm, das war jetzt nicht so gut, das wird eindeutig zu blutig. Naja, kann man nichts machen...“ Damit riss er nun verhältnismäßig schnell auch die anderen beiden Nägel heraus. Der Schwarzhaarige stöhnte, oder krächzte vielmehr, es kam einem kleinen Wunder gleich, dass er überhaupt noch bei Bewusstsein war. Sein Entführer brachte einen zweiten Rollwagen mit einer kleinen Schüssel voller klarer Flüssigkeit.
„Hast du noch irgendetwas zu sagen, bevor du dich wieder ins Land der Träume verabschiedest?“, meinte er abschätzig zu seinem Opfer. „Vielleicht willst du ja jemanden grüßen, oder so?“ Richard hob mühsam den Kopf und sah ihn mit tränenverschleierten Blick an. Obwohl er eigentlich keinen Ton mehr herausbrachte, konnte man ihn in diesem Moment doch klar und deutlich verstehen: „Hör endlich auf, bitte, ich...“ Ein kaltes Lachen unterbrach ihn. „Aufhören? Niemals! Ich werde niemals aufhören, hast du mich verstanden? NIEMALS!“ Damit nahm er die blutige Hand seines wehrlosen Opfers.
„Vergesst mich nicht...“, hörte man Richard noch flüstern, dann verkrampfte er sich abermals, nur um anschließend erneut bewusstlos zu werden. Das Bild wurde wieder schwarz und ein weißes, den Rammsteinern inzwischen so verhasstes, „To be continued“ mit anschließendem großen „Replay“ eingeblendet.
Hilfe?
Die fünf Freunde saßen wie gelähmt auf ihren Stühlen und versuchten das soeben Gesehene zu verarbeiten. Till liefen immer noch die Tränen über das Gesicht, es war einfach zu viel. Schneider, der neben ihm saß, hatte ihm tröstend den Arm um die Schulter gelegt. Keiner von ihnen brachte ein Wort heraus.
Sie zuckten erschrocken zusammen, als sie die Stimme eines Analysten hörten: „Ich glaub, ich hab hier was!“
„Wie, Sie glauben?“
„Ja, ich habe die Spur vom ersten Video zurückverfolgen können und die IP-Adresse des Computers ausfindig machen können, wo es hochgeladen wurde...“
„Geben Sie sofort her!“ Der leitende Ermittler war aufgesprungen, froh, endlich ein Ergebnis zu haben. Es ging ihm nahe, dass sich die Freunde des Entführten dies alles antaten und gleichzeitig dermaßen darunter litten. Ihm selbst war in seiner Laufbahn selten ein Fall von solcher Grausamkeit untergekommen. Dabei hatte er immer im Hinterkopf, dass es jederzeit noch schlimmer werden konnte. Sobald er die Adresse hatte, machte er sich mit mehreren Kollegen zu dieser auf. Die Rammsteiner sahen ihm hinterher, als er hektisch den Raum verließ, dann standen sie ebenfalls auf und gingen hinaus.
Auf dem Gang wurden sie vom grellen Neonlicht geblendet, aber keiner von ihnen bekam das wirklich mit. Immer wieder hörten sie Richards leises Flüstern: „Vergesst mich nicht...“ Fast kam es ihnen so vor, als wären es die letzten Worte ihres Freundes gewesen.
„Scheiße!“ Dieses Wort traf die Situation immer noch am besten.
„Wir müssen irgendetwas tun! Wir können doch hier nicht den ganzen Tag lang rumsitzen und warten! Verdammt, ich will nicht mehr! Ich will nicht noch mehr von diesen Videos sehen, ich will, dass wir Richard endlich da raus holen! Das hat er nicht verdient! So etwas hat keiner verdient! Das ist nicht gerecht, verdammt noch mal!“ Paul konnte sich gar nicht mehr beruhigen. Er hätte sicherlich noch eine Weile in dieser Weise weitergemacht, wäre er nicht von Till unterbrochen wurden: „Und was sollen wir deiner Meinung nach tun? Sämtliche Lagerhallen in der Gegend nach ihm abklappern, oder was?“
„Ja, das wäre wenigstens eine Idee! Immer noch besser, als tatenlos rumzusitzen...“
„Aber das macht die Polizei doch schon die ganze Zeit.“, mischte sich Flake in das Gespräch ein. „Glaubst du etwa, dass wir zu fünft so viel mehr ausrichten können, als die?“ Paul schwieg. Sie hatten ja recht, alle beide. Aber es ging ihm nun einmal gegen den Strich, dass sie nichts tun konnten. Er hasste dieses Gefühl der Hilflosigkeit.
„Ihr habt ja recht...“, meinte er deshalb, „Es ist nur so...ich fühl mich so hilflos und...nutzlos...irgendwie...Wir können nichts tun, außer zu warten und zu hoffen...“
„Ja glaubst du, dass es uns anders geht?“ Schneider sah Paul ziemlich verständnislos an. „Ich denke da genauso wie du, aber was können wir schon daran ändern? Ist doch eh sinnlos...“
„Jetzt hört doch aber mal auf, alle so schwarz zu sehen! Schließlich haben die gerade womöglich ein Spur zu Richard gefunden. Ihr tut ja gerade so, als wäre er schon...“ Olli bracht ab. Das kleine Wörtchen mit den drei Buchstaben wollte ihm einfach nicht über die Lippen. Aber es war auch nicht nötig, dass er es laut aussprach. Sie verstanden ihn auch so.
Richard hing wieder von der Decke, sein Entführer war nirgends zu sehen. Plötzlich ging eine Tür auf und Licht kam herein. Der Schwarzhaarige kniff geblendet die Augen zusammen. Als er sich an das Licht gewöhnt hatte, erkannte er fünf Gestalten, die sich langsam auf ihn zu bewegten. Er konnte es nicht fassen: Seine Freunde! Sie hatten ihn also tatsächlich gefunden. Er wollte etwas sagen, doch es ging nicht. Dann hörte er eine Stimme, eine sehr vertraute Stimme: „Richard! Da bist du ja endlich! Wir haben dich gefunden!“ Er wusste nicht, wer das sagte, es war ihm auch egal. Er war einfach nur glücklich, dass sie da waren und lächelte zur Antwort...
Zitternd erwachte er, die Schmerzen an seinem ganzen Körper holten ihn binnen Sekunden in die Realität zurück. Er sah sich um. Wider seiner Erwartung befand er sich in seinem kleinen Käfig, das bedeutete wohl, dass es für heute vorbei war, oder? Aber konnte er da so sicher sein?
Er sah auf seine Finger. An ihnen hatte sich inzwischen Schorf gebildet, sogar die große Wunde, die seinen Mittelfinger darstellte, nässte nicht. Kein Zweifel: Der Alkohol und die Kälte hatten wirkungsvoll desinfiziert und die Blutung gestoppt. An sich eigentlich gut. Er hätte allerdings ganz gerne auf die Nebenwirkungen verzichtet.
Vorsichtig versuchte er, seine Finger zu bewegen, gab diesen Versuch jedoch schnell stöhnend wieder auf. Es funktionierte einfach nicht. Jegliche Belastung jagte unglaubliche Schmerzen durch seine Hände. Selbst in Ruhehaltung kamen immer wieder Schmerzwellen. Als er an sich hinuntersah, war er jedoch ganz froh darüber, verdrängte dies immerhin seine restlichen Beschwerden ein wenig. Vor allem die Verbrennungen. Ein paar ganz bestimmte Verbrennungen.
Richard sah sich um, er hatte wieder etwas zu essen und zu trinken hingestellt bekommen. Täuschte er sich, oder war die Menge an Wasser, die er heute zur Verfügung hatte größer als gestern? Möglich wäre es, schließlich hatte er heute ziemlich viel Flüssigkeit verloren, in Form von Blut und...Tränen.
‚Nun ja, solange ich noch heulen kann, scheint es mir ja nicht so schlecht zu gehen...’, dachte er bei sich. Und so fies es auch war, er hatte damit recht. Momentan konnte sein Körper sich diesen, eigentlich überflüssigen, Wasserverlust noch leisten, fragte sich nur, wie lange noch.
Richard versuchte vorsichtig, etwas zu essen, aber das war im Moment schwieriger als erwartet. Seine Hände waren nicht zu gebrauchen, er konnte ja nicht einmal einen Finger krümmen, geschweige denn etwas festhalten. Er musste es anders versuchen. Der Schwarzhaarige überlegte. Seine Schultern brannten, was auch nicht weiter verwunderlich war, schließlich hatte dieser Irre sie heute mit kochendem Wasser übergossen. Auf den Bauch legen konnte er sich auch schlecht, dieser dämliche Brand in Form eines R eiterte und nässte immer noch. Außerdem kamen noch die Rippenbrüche dazu. Damit fiel es auch flach, sich auf die rechte Seite zu legen. Also probierte er es mit der linken. Funktionierte auch einigermaßen, wenn er seine Schultern ignorierte, er schob sich näher an das Essen und das Wasser heran. Irgendwie schaffte er es dann auch, indem er mit den Armen nachhalf und begann sein karges Mahl zu sich zu nehmen. Immer noch bezweifelte er, dass es sonderlich gesund für ihn war, das Zeug zu essen, aber was hatte er für Alternativen? Ein leichter Hass gegen seinen Entführer stieg wieder in ihm auf. Er würde niemals aufhören, hatte er gesagt. Richard schloss die Augen. Es würde immer so weitergehen. Vielleicht wäre es doch besser für ihn, wenn er sich umbrachte. Aber wie sollte er das anstellen? Einfach nichts mehr essen? Wäre eigentlich einfach. Aber da machte ihm der Hunger einen Strich durch die Rechnung. Noch.
Zudem bezweifelte er, dass der Typ ihn einfach so verhungern lassen würde. Notfalls würde er ihn intravenös ernähren. Oder ihm eine Magensonde legen, Richard traute ihm alles zu. Aber sollte er einfach abwarten und nichts tun? Sich jeden Tag aufs Neue foltern lassen? Er schüttelte nur leicht den Kopf. Er durfte noch nicht aufgeben. Sie suchten ihn doch schon, oder? Und sie würden ihn auch finden, oder? Vielleicht noch ein oder zwei Tage, dann wäre er wahrscheinlich hier raus. Ja, so würde es sein!
Zwei Tage...ganz schön lange Zeit. Immerhin 48 Stunden. Oder...naja ziemlich viele Minuten. Und noch mehr Sekunden! Er seufzte innerlich auf. Zwei Tage...was waren schon zwei Tage? Merkwürdig, dass er sich diese Fragen gerade jetzt stellte. Vorher hatte er nie sonderlich über Zeit nachgedacht, er genoss sie einfach. Zwei Tage – das bedeutete bei ihm normalerweise ein bis zwei Konzerte, wenn sie auf Tour waren oder eben zwei Tage im Tonstudio oder sonst wo sitzen und Songs einspielen. Oder sich Emigrate widmen. Und zwischendurch Freizeit haben.
In ihrer sechsmonatigen Auszeit bedeutete es aber auch, einfach mal nichts zu tun. Zumindest für ihn. Auch an sich ganz schön. Aber was bedeutete es hier? Er wusste es nicht. Und genau diese Unwissenheit war es, die ihn so verrückt machte. Die an seinen Nerven zehrte, zusätzlich zu der Angst, dass den Leuten, die ihm mit am nächsten standen das Gleiche angetan wurde. Ja seine Zeit hier bedeutete Unwissenheit und Angst und auch...Hilflosigkeit. Die hasste er am allermeisten. Dass er nichts dagegen tun konnte. Dass er sich fügen musste. Dass der andere einfach am längeren Hebel saß.
Richard seufzte erneut innerlich auf, diese trüben Gedanken brachten ihn im Moment nicht weiter. Wenn er hier wirklich raus und seine Freunde noch einmal wiedersehen wollte, dann musste er wohl oder übel das „Spiel“ mitspielen. Er neigte den Kopf zu der Schüssel und fing an zu trinken. Allerdings gestaltete sich dieses Unterfangen von seiner Position aus, halb auf der Seite, halb auf dem Rücken liegend, als ziemlich schwierig und es kam, wie es kommen musste: Richard verschluckte sich.
Prompt begann er zu husten. Wieder spuckte er Schleim, der aber nicht mehr nur schwarz, sondern auch blassrot war. Der Hustenkrampf wurde immer schlimmer. Richard bekam kaum noch Luft, sein Atem ging rasselnd, wenn er überhaupt dazu kam, Luft zu holen. Schließlich hörte es auf. Zitternd und keuchend rang der Schwarzhaarige nach Luft. Dann ging es wieder los. Er krümmte sich zusammen und meinte, ein Knacken an seiner rechten Seite zu spüren. Richard wurde schlecht. Zu seinem Hustenkrampf kam jetzt ein Würgereflex und er erbrach sich. Die Welt schien ihre klaren Konturen zu verlieren und es wurde ihm schwarz vor den Augen. Dann brach er bewusstlos zusammen.
Sein Entführer staunte nicht schlecht, als er ihn so in seinem Käfig liegen sah. Richard hatte es irgendwie geschafft, nicht in sein eigenes Erbrochenes zu fallen.
„Hey sag mal, bist du eigentlich immer so faul? Du pennst ja schon wieder...“ Der junge Mann sagte das so lapidar, aber eigentlich fühlte er sich bei dem Anblick gar nicht gut. Er hatte mitbekommen, dass sein Opfer wach wurde und ihn erst einmal essen lassen. Währenddessen hatte er ein paar Medikamente geholt. Die Hustenkrämpfe bereiteten ihm tatsächlich Sorgen, vor allem, da er nicht wirklich die Ursache dafür ausmachen konnte. Er hoffte aber, dass sich das Ganze schnell wieder beruhigen würde. Einen vorschnellen Tod hatte er nicht geplant und den beabsichtigte er auch nicht. Überhaupt hatte er eigentlich gar keinen Tod geplant.
Er sah auf den Schwarzhaarigen hinunter. Er musste ihm unbedingt die Medikamente geben, auch, wenn die vielleicht nur die Symptome und nicht die Ursache bekämpften. Wäre aber immerhin etwas. Sein Problem war nur: Wie sollte er ihn nun wieder wachbekommen? Gewalt schied definitiv aus. Weckte er sein Opfer jetzt brutal und damit zu schnell, riskierte er damit womöglich einen weiteren Hustenkrampf und das konnte er sich nicht leisten. Also was tun? Richards Entführer seufzte, dann ging er vor dem Käfig in die Hocke, streckte eine Hand hindurch und schüttelte den Schwarzhaarigen sanft an der Schulter.
„Hey! Aufwachen! Du kannst dann schlafen, aber jetzt nicht, los komm schon, aufwachen!“ Keine Reaktion des Schwarzhaarigen. Auch weitere Weckversuche fruchteten nichts. Wieder ein Seufzen. Mit seinem Elektroschocker wäre es bestimmt einfacher und schneller gegangen. Aber das konnte er jetzt nicht riskieren. Trotzdem...er hätte ihn gerne mal ausprobiert...
‚Nein! Jetzt nicht! Später!’, ermahnte er sich kopfschüttelnd, dann setzte er sich hin und lehnte sich gegen die Wand. Da half wohl nur warten.
Richard träumte wieder. Die Tür ging auf, Licht blendete ihn, er wusste, dass seine Freunde endlich da waren, dass er hier rauskam. Sie kamen auf ihn zu, immer näher und näher, er hörte eine vertraute Stimme, obwohl er nicht wusste, wem sie gehörte und lächelte zu Antwort. Zitternd schlug er die Augen auf. Was er sah, ließ ihn staunen. Tatsächlich saß sein Entführer neben ihm und schien nur darauf zu warten, dass er wieder wach wurde. Moment mal! Warten? Wenn er ihn wieder quälen wollte, warum hatte er ihn dann nicht einfach geweckt? Also gewaltsam geweckt, denn Richard bezweifelte, dass man ihn mit normalen Methoden noch wachbekommen würde.
Die Stimme des vor ihm Sitzenden riss ihn aus seinen Überlegungen: „Na endlich bist du wach, hat ja lang genug gedauert. Hier.“, sagte er und hielt ihm drei Tabletten und einen kleinen Becher mit irgendeiner Flüssigkeit vor die Gitterstäbe, „Nimm das.“
Richard bedachte den Jüngeren mit einem skeptischen Blick. Er wollte fragen, was das sollte, doch dann fiel ihm ein, dass er sowieso keinen Ton rausbrachte und ließ es bleiben. Sein Entführer schien aber zu wissen, was den Schwarzhaarigen bewegte.
„Du willst sicher wissen, was das ist, oder?“ Sein Gegenüber nickte langsam.
„Das ist Medizin. Gegen den Husten und auch die Halsschmerzen. Und ein leichtes Schlafmittel ist auch mit dabei. Nicht dass du dich wunderst, weil du dann müde wirst. Na nimm schon!“ Richard verkniff sich ein Kopfschütteln. Was sollte das jetzt schon wieder? Nun ja, eigentlich wusste er ja mittlerweile, dass der andere darauf bedacht war, sein Leben zu erhalten, aber das...
„Was ist denn jetzt? Das wird dir helfen, glaub mir.“ Der Schwarzhaarige schaute immer verwirrter drein. Der Typ hatte gewartet, bis er von alleine aufwachte und jetzt redete er beinahe sanft auf ihn ein? Träumte er etwa immer noch? Nein das konnte nicht sein, dafür waren die Schmerzen zu real.
„Na los, jetzt schluck das Zeug endlich. Ich will dich schon nicht vergiften, keine Angst...“ Jetzt musste sich Richard wieder ein ungläubiges Kopfschütteln verkneifen. Er wollte ihn nicht vergiften? Und dass, obwohl er ihm immer Küchenabfälle vorsetzte? Einiges von dem Zeug war sogar schon angeschimmelt gewesen, oder es schmeckte wenigstens danach.
„Na komm, jetzt nimm schon endlich, das Zeug ist wirklich ungefährlich, da kannst du mir vertrauen...“ Der Jüngere redete mit dem Älteren tatsächlich wie mit einem kleinen Kind, dem man Mut zusprechen musste.
Vertrauen? Wieso sollte er dem vertrauen? Obwohl...wenn Richard richtig darüber nachdachte, hatte sein Entführer ihn eigentlich bis jetzt noch nie angelogen. Nicht einmal. Er hatte immer die Wahrheit gesagt.
Der Schwarzhaarige seufzte innerlich, dann richtete er sich vorsichtig auf und lehnte den Rücken und die verbrannten Schultern gegen das kalte Metall. Dann streckte er langsam seine rechte Hand aus. Drei Tabletten fielen darauf. Wieder zögerte er. Er war noch nie gut im Tablettenschlucken gewesen.
‚Ach ist doch eigentlich egal, oder? Ob ich nun sterbe, weil ich die Dinger nehme oder weil ich sie nicht nehme, spielt, glaub ich, nur eine untergeordnete Rolle...’ Damit beschloss er, es darauf ankommen zu lassen, warf sich die Pillen in dem geöffneten Mund und schluckte sie runter. Entgegen seiner Erwartungen ging das relativ leicht und auch der befürchtete Würgereflex blieb erst einmal aus. Selbst seine verbrannte Zunge rebellierte kaum. Ein größeres Problem war dann schon der Becher mit der Flüssigkeit. Seine Hände waren nun einmal nicht zu gebrauchen, wie sollte er den nehmen? Zur Antwort reichte eine Hand eben jenen Becher durch die Gitterstäbe.
„Na los, komm her, ich geb es dir...“ Am liebsten hätte Richard wieder den Kopf geschüttelt, diese Situation war einfach nur...ihm fiel kein passendes Wort dafür ein.
„Entwürdigend“ hätte es wohl am ehesten getroffen, denn tatsächlich machte sein Entführer immer noch mit ihm, was er wollte. Er hatte ihn in der Hand. Sein Opfer war ihm ausgeliefert. Der Schwarzhaarige verdrängte diesen Gedanken, bei dem ihm schon wieder schlecht wurde, und nahm mit den Zähnen den kleinen Becher, nur um dann das darin befindliche Zeugs zu trinken. Schmeckte scheußlich. Der Becher wurde ihm aus dem Mund genommen.
„Na also, ging doch! War doch auch gar nicht so schwer, oder?“ Damit stand der Jüngere auf. „Wünsche eine angenehme Nacht, wir sehn uns...“ Und dann war er verschwunden. Richard sah ihm nach und wusste jetzt überhaupt nicht, was er davon halten sollte.
Doch großartig zum Denken kam er nicht mehr, denn die Schlaftabletten und die allgemeine Erschöpfung taten ihren Wirkung. Er nahm sich seine Decke, rollte sich unter dieser, möglichst weit weg von seinem Erbrochenem und dem anderen Scheiß, zusammen und schlief schließlich ein.
Krank...
Am nächsten Tag hatte Richard Fieber. Er selbst bekam das kaum mit, er bemerkte nur, dass ihm unglaublich heiß war und er gleichzeitig zitterte. Aber sein Entführer wusste es.
Eigentlich hatte er ihn, wie gewöhnlich, früh aus dem Käfig holen wollen. Doch als er sich dem Schwarzhaarigen näherte, spürte er, dass etwas nicht stimmte. Etwas ganz und gar nicht stimmte.
Er war in die Hocke gegangen, hatte den Käfig geöffnet und seine Hand nach dem Arm des Älteren ausgestreckt. Dann war er überrascht zurückgezuckt, als er die Hitze des Körpers seines Opfers fühlte. Vorsichtig hatte er ihm die Hand dann auf die heiße Stirn gelegt und seine Vermutung damit bestätigt. Kein Zweifel: Der Schwarzhaarige hatte Fieber. Hohes Fieber.
‚Verdammt!’, war es ihm durch den Kopf geschossen, ‚Was mache ich jetzt?’ Er wusste es nicht. Die Tabletten hatten anscheinend nichts bewirkt und er war sich immer noch nicht so recht im Klaren darüber, was die Ursache für die Symptome des Schwarzhaarigen waren. Jetzt war guter Rat tatsächlich teuer.
Er stand auf und sah nachdenklich auf sein eigentliches Opfer. Heute würde es keine Folter geben, obwohl er sich schon so schöne Sachen ausgedacht hatte. Das bedeutete auch, dass es kein Video geben würde. Schade eigentlich. Die Reaktionen auf die kleinen Filmchen waren immer äußerst amüsant gewesen, seiner Meinung nach. Aber die Gesundheit des Schwarzhaarigen war ihm wichtiger. Er wollte nicht, dass es vorschnell zu Ende ging. Er wollte noch ein wenig Spaß haben. Mit diesem Körper wollte er noch ein wenig Spaß haben. Sehr viel Spaß. Und vor allem wollte er Richards Seele leiden sehen. Er wollte ihm alles nehmen, seine Erinnerungen, seine Freunde und vor allem: Sein Selbst. Und er wollte sehen, wie seine Seele Stück für Stück daran zerbrach. Die körperlichen Schäden, die er ihm zufügte, waren ja nur eine Vorstufe davon. Ein Ventil für die blinde Wut und den Hass, die sich über Jahre in dem Jüngeren aufgestaut hatten. Aber das hatte er mittlerweile schon einigermaßen unter Kontrolle. Zumindest soweit, dass er auch mal zwei oder drei Tage darauf verzichten konnte.
Und der wirklich reizvolle Teil würde eh erst beginnen, wenn er Richards Willen gebrochen hatte. Er war schon fast soweit. Und wenn ihm der Schwarzhaarige erst einmal bedingungslos gehorchte, dann könnte er WIRKLICH anfangen, ihn zu zerstören. Ihn richtig fertig zu machen. Und wenn er dann gefunden würde, oh ja, er würde gefunden werden und das natürlich lebend, dann würden sie ihn nicht mehr wieder erkennen und er sie auch nicht. Und sie würden sich fragen, was denn dieser „Psycho“ alles mit ihrem Freund angestellt hatte, aber eigentlich würden sie es gar nicht wissen wollen. Und er würde Angst vor ihnen haben, oh ja, ANGST. Und er würde sich wünschen, dass sein eigentlicher Peiniger da wäre, um ihn zu beschützen, ihn vor seinen besten Freunden zu SCHÜTZEN, nur würde der dann schon lange nicht mehr da sein. Aber er würde sich das Schauspiel aus sicherer Entfernung mit ansehen. Als krönenden Abschluss sozusagen. Und er würde wissen, dass sich sein Opfer nie wieder davon erholen würde.
Er schüttelte den Kopf. Diese Gedanken, die er sich nun schon so lange ausmalte, waren zwar sehr verlockend, allerdings blieben sie ein ewiger Wunschtraum, sollte Richard sterben. Und das würde er, wenn sein Entführer nicht herausfand, was ihm denn nun fehlte, wenn er keinen Weg fand, das hohe Fieber zu senken.
Langsam machte er sich auf zu dem Raum, den er vorübergehend als sein „Zuhause“ eingerichtet hatte. Die alte Lagerhalle war ihm wie gerufen für sein Vorhaben gekommen. Kaum einer wusste, dass er hier wohnte oder dass das alte Gebäude überhaupt noch bewohnbar war. Und die Leute, die es wussten, kannten ihn entweder und machten sich nicht viel aus seinen Taten oder stellten keine Fragen, solange er ihnen genug Scheine in die Hand drücken konnte. Eigentlich handelte er ja mit Autoteilen, manche mit fragwürdiger Herkunft. Das war an sich ein gutes Geschäft, wenn man sich schlau genug anstellte und die richtigen Leute kannte. Und bei ihm traf beides im Übermaß zu.
In seinem provisorischen Heim angekommen, sah er sich um. Ein Bett, sowas, wie eine Küche, ein Fernseher mit einem alten Sofa davor, ein Bad. Alles an sich ziemlich spartanisch, aber mehr brauchte er auch nicht zum Leben. Das Wichtigste stand nämlich nicht hier drin, sondern in der Halle draußen: Sein Computer. Das war Technik vom Feinsten und er hatte ganz schön was locker machen müssen, damit er sich das leisten konnte, aber es hatte sich gelohnt. Er würde dann wieder seiner Lieblingsbeschäftigung nachgehen: Im Internet die Reaktionen auf seine Videos beobachten. Sehr amüsant das Ganze, fand er.
‚Ich benehme mich vielleicht wirklich, wie ein Psycho...’, ging es ihm durch den Kopf.
Psycho. Der Name gefiel ihm. Er könnte jedes Mal laut auflachen, wenn Paul ihn so nannte. Oh, natürlich wusste er, dass der kleinere Gitarrist ihn so nannte. Dass er sein Opfer mittlerweile hatte und jeden Tag seinem eigentlich Ziel ein Stückchen näher kam, hielt ihn nicht davon ab, die anderen fünf weiter zu beobachten. Es war ihm im Laufe der letzten sechs Jahre zur Gewohnheit geworden und Gewohnheiten legt man nun einmal nicht so leicht wieder ab. Außerdem machte es gerade jetzt am meisten Spaß. Diese wunderbar schockierten Gesichter, der Hass auf den Entführer und ihre gleichzeitige Hilflosigkeit ihm gegenüber...er lächelte still vor sich hin. Sie waren ihm genauso ausgeliefert, wie ihr ach so geliebter Freund, sie wussten es nur noch nicht. Dann begann er zu lachen.
„Das ist nicht Ihr Ernst, oder? Das kann doch nicht Ihr Ernst sein! Was treiben Sie eigentlich die ganze Zeit hier? Halten Sie das Ganze vielleicht nur für einem schlechten Scherz? Wenn ja, dann will ich Ihnen geraten haben, möglichst schnell das Weite zu suchen, ich kann nämlich sonst für nichts garantieren!“
„Paul, jetzt beruhige dich doch! Das bringt doch nichts!“
„Lasst mich los, ihr beiden! Lasst mich los, verdammt!“
„Nein das tun wir nicht! Komm wieder runter!“ Till und Schneider hatten alle Mühe, ihren wütenden Freund davon abzuhalten, sich auf den vor ihnen stehenden Polizisten zu stürzen. Am liebsten hätten sie ihn ja losgelassen und wären selbst auch noch auf den Ermittler losgegangen, aber was brachte das schon? Er konnte doch im Endeffekt auch nichts dafür.
Gerade hatte er ihnen mitteilen müssen, dass sie Richard doch nicht gefunden hatten. Sie hatten zwar die IP-Adresse des Computers, von wo das Video hochgeladen wurde, nur war dieser Computer selbst nur Opfer eines Hackangriffs geworden. Und den konnten sie nicht mehr zurückverfolgen. Sie waren jetzt also wieder am Anfang.
Als der leitende Ermittler ihnen das mitgeteilt hatte, was Paul völlig ausgeflippt. Er hatte eh schon den ganzen vorigen Tag über mit sich zu kämpfen gehabt, aber das hatte ihm wohl endgültig den Rest gegeben. Jetzt musste er die angestauten Gefühle irgendwo entladen. Und da kam ihm dieser Mensch, den er für alles verantwortlich machen konnte, gerade recht.
„Lasst mich los! Lasst mich endlich los! Es ist doch wahr! Was haben die hier bis jetzt schon richtig gemacht? Wir sitzen jetzt schon seit drei Tagen hier und warten! Und nichts ist passiert! Nichts! Vielleicht hätten wir Richard schon lange gefunden, wenn wir es auf eigene Faust probiert hätten. Er muss doch schließlich darunter leiden! Nicht wir! Er! Und er hat es nicht verdient! Niemand hat so etwas verdient! Niemand!“ Paul hörte erschöpft auf, um sich zu schlagen und Till und Schneider ließen ihn los.
„Paul? Hörst du mir jetzt bitte mal zu?“ Der Angesprochene drehte den Kopf in Tills Richtung, dann nickte er langsam. Es war nicht die Bitte, die ihn dies tun ließ sondern eher die Art und Weise, wie sein Freund sie ausgesprochen hatte. Es klang irgendwie seltsam, so verständnisvoll und gleichzeitig so...hoffnungslos.
„Gut...wir haben es dir schon einmal gesagt, du bist nicht der Einzige, dem es so geht. Aber indem wir jetzt alle durchdrehen, helfen wir Richard überhaupt nicht. Wir spielen diesem Irren damit doch bloß in die Hände. Denn genau das will er doch. Er will nicht nur Richard schaden, sondern auch uns. Verstehst du das denn nicht? Wir müssen ruhig bleiben und dürfen uns nicht so leicht provozieren lassen. Irgendwann macht er einen Fehler, jeder macht Fehler...“
„Ja, aber bis dahin könnte es schon längst zu spät sein...Und ich kann und will mich einfach nicht mit dem Gedanken abfinden, dass wir Richard vielleicht...nie wieder sehen...lebend...“ Er stockte, dann brach er in Tränen aus.
„Ich will einfach nicht mehr, verdammt! Warum tut dieser Psycho das? Warum denn nur? Das ist doch einfach nicht fair!“
Till nahm ihn tröstend in die Arme. „Ich weiß es nicht.“, flüsterte er, „Keiner weiß das so genau. Wahrscheinlich nicht einmal er selbst...“
Besagter Psycho sah gerade auf, als er wieder in die Halle kam und ein Geräusch hörte. Ob Richard wohl wach war? Er bezweifelte es stark, das Fieber würde wohl kaum einen wirklichen „wachen“ Zustand zulassen. Nachsehen könnte er ja aber mal. Und so machte er sich zu der Ecke auf, wo sich der kleine Käfig mit dem Schwarzhaarigen darin befand. Der lag völlig apathisch da und schien nichts um sich herum wahrzunehmen. Immer wieder wurde er von Hustenkrämpfen geschüttelt. Seine Augen waren glasig und seine Blicke leer.
„Wenn ich doch nur wüsste, was dir fehlt...“, meinte der Jüngere leise, dann machte er den Käfig auf und strich dem Älteren gedankenverloren über die verbrannten Schultern. Auf ihnen hatten sich Brandblasen gebildet, einige davon waren aufgeplatzt und das Wundwasser lief aus ihnen heraus. Richard regte sich kurz bei der sanften Berührung, und murmelte undeutlich vor sich hin.
Seit Stunden hielten Fieberträume sein überlastetes und müdes Gehirn in Schach. Farben, Geräusche und Erinnerungen mischten sich. Mal spielte er gerade auf einem Konzert, dann war er wieder im Studio und dann unternahm er gerade etwas mit Freunden. Und zwischendurch immer wieder Sequenzen in denen er das Gesicht seine Peinigers vor Augen hatte, vor allem dessen dunkelbraune, fast schwarze Augen, die ihn grausam lächelnd anstarrten. Und immer wieder Schmerzen, nichts als Schmerzen, dieses Gefühl schien ihn auszufüllen und bis an sein Lebensende bei ihm bleiben zu wollen. Manchmal dachte er sich, er könnte es mit ihnen nicht mehr aushalten, dann konnte er sich ein Leben ohne sie wiederum nicht mehr vorstellen.
Und dann immer wieder sein Traum, sein ständig wiederkehrender Traum, der ihn so endlos froh stimmte und danach die regelmäßige große Enttäuschung, wenn er „aufwachte“ und doch noch träumte und wusste, dass er für immer hier bleiben musste. Er wollte diesen Traum nicht mehr träumen, das Gefühl, dass er sowieso nie Realität werden würde, wurde in ihm immer stärker.
Und jetzt war er wieder irgendwo, unterwegs, schwelgte in Erinnerungen, schrieb vielleicht gerade einen Song, fühlte sich gut dabei, so gut, wie er sich immer dabei fühlte und dann sah er plötzliche diese Augen, diese kalten brutalen Augen, die ihn von überall her anzublicken schienen und dann wollte er schreien und endlich aufwachen und hier raus, aber in dem Moment wurde ihm bewusst, dass er nicht aufwachen KONTTE, dass das alles bereits die Realität WAR und dass seine Erinnerungen nur schöne Wunschträume darstellten, die niemals wieder Wirklichkeit werden sollten.
Aber dann kam wieder ein leichter Hoffnungsschimmer in ihm auf, er erinnerte sich an etwas aus der Zeit HIER und da es aus dieser Zeit war, wusste er, dass es Wirklichkeit war, dass er sich darauf verlassen konnte. Er erinnerte sich an den Radiobericht: Sie suchten ihn. Sie suchten ihn und würden ihn finden, ihn hier rausholen. Nur fragte er sich mittlerweile manchmal schon, WER ihn da eigentlich suchte. Vielleicht jemand, der ihm noch größeres Leid, noch mehr Schmerzen zufügen wollte? Aber diese Frage stellte er sich momentan noch nicht zu lang, denn gleich darauf tauchten die Gesichter seiner Freunde vor seinem inneren Auge auf. Noch erinnerte er sich an sie. Zwar waren diese Erinnerungen Wunschträume, das wusste er mittlerweile schon vage, aber wer sollte ihn sonst suchen? Seine Freunde, das waren in seinem Kopf Verzerrungen aus Traum und Realität, ein wichtiger Anhaltspunkt, um noch zu wissen, wer ER war. Ja, das wusste er noch, er wusste noch seinen Namen, seine Herkunft. Und das war gut, das war richtig, das durfte er nie vergessen, wer er war, dass wusste er. Aber dann sahen ihn wieder diese kalten, fast schwarzen Augen an und wieder durchfluteten Schmerzen seinen Körper und er vergaß, was er sich eben mühsam als Anhaltspunkt gegen das Durcheinander in seinem Kopf zurechtgezimmert hatte, die Ordnung, die er hineingebracht hatte, es war alles fort, wie weggewischt, ein kleiner junger Baum, der im Sturm umknickt und fortgeweht wird. Und dann begann alles wieder von vorne, er versuchte den Schmerz zu verdrängen, flüchtete sich in Erinnerungen, wusste nicht, ob sie real waren und versuchte wieder Ordnung in seinen Gedanken zu schaffen, nur um dann wieder zu erleben, wie alles im Chaos versank.
So ging das nun schon seit Stunden. Nur wurde es für ihn immer schwieriger, sich an den wenigen Punkten festzuhalten, die für ihn „real“ waren, es strengte zu sehr an und er war müde. Sehr müde.
Äußerlich sah man ihm kaum seine „Kämpfe“ mit sich selbst an, die focht er nur in seinem Kopf aus. Doch sein Peiniger ahnte, was da wohl vor sich ging und konnte sich ein selbstzufriedenes Grinsen nicht verkneifen. Sein Opfer war also nicht nur schon körperlich auf dem Wege der Zerstörung, sondern wohl auch schon seelisch. Dann lief ja also alles nach Plan, bis auf die Krankheitssymptome natürlich. Inzwischen war er sich relativ sicher, dass Richard krank war, ernstlich krank sogar. Nur hatte er keine Ahnung, was genau dem Älteren fehlte. Gut er hatte hohes Fieber und hustete Schleim, aber das traf auf einiges zu.
Lungepest war denkbar auszuschließen, dann wäre Richard schon tot und er selbst wahrscheinlich auch. Grippe könnte es aber gut sein, nur halt schwerer Verlauf, oder eine Lungenentzündung. Er tippte ja auf letzteres, schon allein, weil der Schwarzhaarige starker Raucher war und die hatten ein stark erhöhtes Risiko, so etwas zu bekommen. Aber wie konnte er das schon so genau wissen? Was er brauchte, war ein Arzt.
Er überlegte. Er kannte da jemanden, jemand der die Klappe hielt, solange man ihn gut genug bezahlte, aber ob der in diesem Fall auch noch mitmachen würde? Er seufzte, das konnte er nun wohl oder übel nur herausfinden, indem er es versuchte. Im Notfall konnte er jederzeit verschwinden, er hatte da vorgesorgt. Er holte sein Handy aus der Tasche und rief seinen zwielichtigen „Freund“ an.
Diagnose
„Ich fass es nicht, dass du das wirklich getan hast!“ Ein Mann, etwas älter als Richards Entführer, blickte diesen einigermaßen fassungslos an.
„Nun ja, ich...“
„Ich korrigiere: Ich fass es nicht, dass du das wirklich getan und mir nicht Bescheid gesagt hast!“ Jetzt war es an dem Anderen, etwas überrascht zu schauen.
„Wieso sollte ich dir Bescheid sagen? Wir haben uns ewig nicht mehr gesehen...“
„Ok, auch wieder wahr, aber trotzdem...das ist doch sensationell...“ Da war jemand echt begeistert.
„Du, ich warne dich! Ein Wort und...“ Ein aufblitzendes blutiges Skalpell.
„Jaja, schon klar. Wo ist denn der Patient?“ Jetzt klang der angebliche „Arzt“ schon nicht mehr so begeistert, eher ein wenig ängstlich.
Dieser Dialog drang fast wie in Zeitlupe langsam an Richards Ohren und unterbrach für einen kurzen Moment seine Fieberträume. Was sollte das denn jetzt schon wieder? Und wieso war er eigentlich noch hier, in diesem Käfig? Warum wurden ihm nicht wieder neue Schmerzen zugefügt? Er fand keine Erklärung dafür, aber die Konzentration auf die neue Situation verdrängte ein wenig die wirren Gedanken in seinem Kopf, sodass er einigermaßen klare Gedanken fassen konnte. Zumindest war er jetzt wacher als vorher.
Er bemerkte, dass Schatten auf ihn fielen, sah mühsam hoch und erblickte zwei Paar Beine. Dann tröpfelten die folgenden Worte langsam in sein Gehirn:
„Krass. Du hältst ihn ja wie ein Tier, oder eher wie jemanden, der es nicht wert ist, auch nur ein bisschen Respekt zu bekommen...“
„Naja, das kommt doch auch in etwa hin, oder?“
Nachdenkliches Kopfschütteln. „Würde ich nicht unbedingt behaupten wollen. Schließlich hat er doch schon einiges geleistet, oder?“
„Hmpf!“, kam es nur von Richards Entführer.
„Na musst du wissen...Symptome?“
„Hohes Fieber, Hustenkrämpfe, er spuckt ständig schwarz-roten Schleim und naja, das macht mir am meisten Sorgen...“
„Hmm und worauf würdest du tippen?“
„Hey, hab ich Medizin studiert oder du?“
Der Arzt winkte ab. „Ist ja schon gut, musst ja nicht antworten, war ja nur ne Frage...“
„Also gut, wenn du es unbedingt wissen willst: Ich tipp mal auf ne Lungenentzündung...“
„Hundert Punkte! Würd ich auch behaupten wollen...“
„Wie? Das weißt du jetzt schon?“
„Nein, natürlich nicht. Aber fang schon mal an zu hoffen, dass es nichts Schlimmeres ist, denn dann kannst du ihn gleich ins Krankenhaus schaffen. Und das willst du doch nicht, oder?“
„Bestimmt nicht! Also was jetzt?“
„Hol ihn erstmal aus dem Ding da raus und leg ihn aufs Bett. Dann sehen wir weiter...“
Richard verstand die Welt nicht mehr. Was sollte das alles auf einmal? Er hörte ein Quietschen, als die Käfigtür aufgezogen wurde und zuckte leicht zurück. In seinen empfindlichen Ohren klang es unglaublich laut.
„Na so was. Was hat er denn auf einmal?“, hörte er die besorgte – Moment mal, besorgte? –Stimme seines Entführers.
„Weiß nicht. Wahrscheinlich das Geräusch. Vielleicht nimmt er es lauter wahr als sonst, kann vom Fieber kommen...“ Das war eine andere fremde Stimme, die Richard nicht kannte.
Urplötzlich hatte er Angst. Vielleicht machte der ja jetzt dort weiter, wo der andere aufgehört hatte? Doch dann verdrängte er den Gedanken so schnell wie er gekommen war. So, wie es sich für ihn bis jetzt anhörte, sollte der Typ ihm helfen, weil er...ja, warum eigentlich? Hatten die nicht vorhin was von Lungenentzündung gefaselt? Das hörte sich in den Ohren des Schwarzhaarigen gar nicht gut an. Denn wenn er das wirklich haben sollte – wie groß waren dann seine Überlebenschancen?
Er spürte, wie er an den Schultern gepackt und aus dem Käfig gezogen wurde und plötzlich war sein gesamter Körper nur noch ein einziger Schmerz. Richard stöhnte auf.
„Hey, du ist ja ganz schön rabiat, das...OH MEIN GOTT!“ Der Arzt sah mit erschrockenen Augen auf seinen „Patienten“ hinunter.
„Also ich hatte ja viel von dir erwartet, aber das...toppt wirklich alles! Was hast du bloß mit ihm angestellt?“
„Das fragst du mich noch? Hast du die Videos nicht gesehen?“
„Videos? Hast du dich etwa gefilmt, wie du...wie du ihn gefoltert hast? Puuhh, das ist echt krank, weißt du das? Der arme Kerl...“ Am liebsten wäre der genannte Psycho auf seinen Gegenüber losgegangen, doch er verkniff es sich.
‚Ich hatte ganz vergessen, wie nervig dieser Typ sonst immer war. Sollte ich das nächste Mal eher dran denken...’, ging es ihm stattdessen durch den Kopf.
„Also, was ist jetzt? Hilfst du mir mal, ihn hier rauszutragen?“
„Ja klar, aber das kostet dann extra...“
„Von mir aus und jetzt fass zu!“ Richard spürte, wie er an Armen und Beinen gepackt und hochgehoben wurde. Das tat ebenfalls weh und so fing er an, sich zu wehren, schlug schwach um sich und zappelte. Die beiden Jüngeren ließen ihn unsanft zu Boden fallen und er stöhnte auf.
„Hat immer noch ganz schön Kraft der Gute. Wir sollten ihn ruhig stellen, das ist besser für ihn...und für uns...“
„Nette Idee, ich wollte schon immer mal meinen Elektroschocker ausprobieren...“
„Nein, nein, du bist zu grob. Meine Methode ist wesentlich effektiver und wesentlich weniger brutal...“
Richards Entführer schien zu überlegen. Eigentlich wollte er ja alles tun, um sein Opfer nicht sterben zu sehen, aber andererseits wollte er ihm möglichst große Schmerzen zufügen. Schließlich entschied er sich für die erste Variante.
„Gut, dann mach mal...“
„Ok, das kostet dann aber extra...“
Ein undefinierbares Gemurmel.
„Ich nehme mal an, das heißt ‚Ja’...“, sagte der Arzt nur, dann zog er eine Spritze auf. Der Andere sah ihm interessiert dabei zu.
„Was ist das?“
„Ein leichtes Nervengift. Nicht tödlich in der richtigen Dosierung, lähmt aber vorübergehend die Muskulatur. Bedeutet im Klartext, dass sich der Gute erst einmal nicht mehr bewegen kann...“
„Ah verstehe, nun, das ist sehr gut und wie lange hält das an?“
„Das hängt ebenfalls von der Dosierung ab. In dem Fall würde ich sagen, so ein bis zwei Stunden...“
„Nicht länger?“
„Nein. Muss es aber auch nicht, bis dahin bin ich dann fertig...“ Richard bekam langsam wirklich Panik. Was hatten die nur mit ihm vor? Schon wollte er versuchen zu flüchten, da wurde er auch schon an den Armen in eine sitzende Position gezogen. Vor seinen Augen drehte es sich und es wurde kurz schwarz.
„Nana, du musst ein bisschen sanfter mit dem Guten umgehen, wenn er noch ein Weilchen leben soll...“
„Ach, der kann das ab. Und jetz hör auf zu labern, sondern spritz das Zeug endlich!“
„Jaja, ist ja schon gut...“
Richard versuchte wieder sich zu wehren, doch dann wurde ihm der linke Arm schmerzhaft auf dem Rücken verdreht und der rechte fest gepackt.
„Na jetzt hab dich nicht so, ist doch alles gut. Niemand tut dir hier was, es macht nur mal kurz Pieks und das war’s dann auch schon...“
Der Schwarzhaarige schnaubte. Ihm tat hier keiner was? Wollte dieser Typ ihn verarschen? Der war doch nicht besser, als sein Entführer! Doch dann war ihm das alles plötzlich egal, denn er spürte, wie ihm die Nadel brutal in die Vene gerammt wurde. Und er spürte auch, wie das Zeug in seine Blutbahn kam. Fast augenblicklich setzte die Wirkung von dieser Stelle aus ein. Er konnte auf einmal den Arm nicht mehr bewegen, er spürte ihn nicht einmal mehr. Schließlich war alles an ihm taub und unbeweglich.
Jetzt bekam er WIRKLICH Panik. Sein Atem ging auf einmal viel schneller als normal, husten konnte er nicht mehr, obwohl es zweifellos besser für ihn gewesen wäre. Er spürte, wie sich eine Hand auf seinen Mund drückte und ihn so verschloss und das machte seinen Zustand nicht gerade besser. Die sanfte Stimme an seinem Ohr hörte er kaum.
„Hey ganz ruhig, ruuuhiiiig, schön gleichmäßig und durch die Nase atmen, hörst du? Du hast gerade eine Panikattacke, das ist normal, gaaanz ruuuhiiig, das geht wieder vorbei, ruuuuhiiiig...“
Doch Richard konnte sich nicht beruhigen. Wie denn auch? Immer noch versuchte er Luft zu bekommen, was aber durch den Mund nicht mehr möglich war. Seine Gesicht nahm schon eine ungesunde Farbe an.
„Sag mal, was machst du denn da? Willst du ihn umbringen? Er wird noch ersticken, wenn du so weiter machst!“ Jetzt klang Richards Entführer zweifellos besorgt. Doch sein Freund ließ sich davon nicht stören. Er wusste, was er tat. Eine kleine Ewigkeit schien zu vergehen. Und endlich atmete der Schwarzhaarige durch die Nase. Gleichzeitig beruhigte er sich wieder. Er spürte, wie der Druck von seinem Mund wich.
„Na also, jetzt geht’s wieder, oder? Ist ja gut, ich für meinen Teil will dir wirklich nichts tun...“ Damit packte er ihn vorsichtig an den Schultern und sein Kumpel tat dies an den Beinen und gemeinsam verfrachteten sie Richard so aufs Bett.
„Gut...und jetzt?“ Richards Entführer war immer noch leicht geschockt und er versuchte den pfeifenden Atem des Schwarzhaarigen krampfhaft zu überhören.
„Bleib kurz hier und pass auf ihn auf. Ich geh mal eben was holen...“
Damit verschwand der „Arzt“ und ließ seinen Kumpel allein mit dessen Opfer zurück. Sogenannter „Psycho“ nahm sich einen Stuhl und setzte sich abwartend zu Richard ans Bett.
Der spürte immer noch die Nachwirkungen der Panikattacke und des Adrenalins in seinem Körper. Für einen kurzen Moment waren sogar seine Schmerzen betäubt. Immer noch wusste er nicht so recht, was er von all dem halten sollte. Er versuchte den Gedanken zu verdrängen, dass er jetzt im Grunde genommen noch hilfloser als vorher war, da er keinen Muskel mehr rühren konnte. Er zuckte innerlich zusammen, als ihm der Jüngere sanft die Hand auf die heiße Stirn legte.
„Meine Güte, du glühst aber, das gefällt mir gar nicht, weißt du das?“
Richard suchte die Augen seines Entführers und erkannte echte Besorgnis darin. Er hätte den Kopf geschüttelt, wenn er dazu in der Lage gewesen wäre. Der Mann neben ihm sah ihm ebenfalls in die Augen und registrierte eine Mischung aus Verwirrung und Angst darin. Und das gefiel ihm.
‚Wenn er so guckt, ist er eigentlich ganz niedlich...Ohh, das wird noch schön mit ihm werden, seeehhhr schööön...’ Damit fing er an, langsam über Richards gesamten Körper zu streichen. Die zahlreichen Schnitte auf der Haut fühlten sich unter seinen Händen unglaublich gut an, auf die größeren von ihnen übte er mit den Händen leichten Druck aus und massierte sie ein wenig.
In Richards Kopf explodierte der Schmerz und er wünschte sich, endlich wieder bewusstlos zu werden oder noch besser: einfach zu sterben, sich um nichts mehr kümmern und Sorgen machen zu müssen, nichts mehr zu spüren, vor allem keine Schmerzen mehr, es musste herrlich sein, nicht mehr unter den Lebenden zu weilen.
Der Gedanke verstärkte sich in ihm, als die Hand des Jüngeren allmählich in niedrigere Körperregionen wanderte und anfing, seine verbrannten Genitalien zu piesacken. Er schrie auf, vor Entsetzen und vor Schmerzen, aber der Schrei hallte nur in seinem Kopf wieder, tatsächlich kam kein Laut über seine Lippen. Er wollte nicht mehr. Aber wusste, sollte er sich von der Lungenentzündung, oder was auch immer er hatte, erholen, dass es dann weitergehen würde. Und alles in ihm sträubte sich gegen EINE bestimmte Sache, die er dann bestimmt mehr als nur einmal über sich ergehen lassen musste. Innerlich erschauerte er. So etwas hatte er bis jetzt nie in Betracht gezogen, aber jetzt, da diese Möglichkeit überdeutlich in Aussicht stand, wunderte er sich, dass er vorher nie einen Gedanken daran verschwendet hatte.
Dagegen war körperlicher Schmerz nichts. Er fühlte sich ja jetzt schon gedemütigt, wie dieser Typ ihn in der Hand hatte, im Moment im wahrsten Sinne dieses verdammten Wortes, aber wie würde es dann werden? Würde er sich auch schmutzig und benutzt fühlen, so wie andere Leute mit ähnlichen Erlebnissen berichteten, wenn sie denn überhaupt etwas sagten? Würde er sich auch selbst die Schuld dafür geben? Es totschweigen? Und sich niemandem anvertrauen wollen, weil er Angst hatte, dass sie ihn vielleicht auch für schmutzig halten würden? Weil sie ihm vielleicht Vorwürfe machen würden, dass er es verhindern hätte können und dass er es im Grunde ja auch gewollt hatte? Oder würden sie ihm sagen, dass es eigentlich gar nicht so schlimm war und das er sich nicht so haben solle?
‚Warum kann ich nicht einfach sterben? Warum nur?’ Jetzt verdrängte er diesen Gedanken nicht mehr krampfhaft, im Gegenteil: Er stellte es sich vor, wie es wäre, endlich nichts mehr zu spüren, keine Schmerzen mehr zu haben, nur noch Schwärze zu sehen und endlich nicht mehr zu sein. Er malte es sich aus, wie es wohl wäre, wenn ihn sein Peiniger eines Morgens tot auffinden würde(bitte möglichst noch VOR einer ganz bestimmte Sache...) und wie er wahrscheinlich enttäuscht sein würde und seine Leiche dann irgendwo hinschaffen würde, vielleicht auch seinen Freunden präsentierte und sie würden...
‚Stopp!’, unterbrach er sich erschrocken, ‚Was denke ich denn da gerade?’ Er wusste es selbst nicht so genau. Das hohe Fieber ließ ihn einfach keinen wirklich klaren Gedanken fassen.
Eine ganz bestimmte Hand strich ihm über die Beine, wanderte höher und trieb dann wieder ihr Spiel mit ihm. In dem Moment hoffte, betete er fast, inständig, dass er sich bewegen konnte, wenn „es“ passierte. Er stellte es sich noch schlimmer vor, wenn er sich nicht wehren konnte, so wie es jetzt zum Beispiel der Fall war und sein Magen zog sich bei dem Gedanken daran schmerzhaft zusammen. Das würde er jetzt nicht tun, oder? Aber bis jetzt hatte er eigentlich alles getan, oh scheiße, er wollte das nicht! Aber nein, die Hand schien endlich genug zu haben, wanderte jetzt wieder höher und kam gefährlich nahe an den gebrochenen Rippen vorbei.
Richard stöhnte innerlich auf, im Moment verdrängten die Schmerzen all seine Befürchtungen und Gedanken, sie waren wie weggewischt, als hätte es sie nie gegeben. In solchen Fällen hatten Schmerzen vielleicht sogar etwas Gutes. Trotzdem, die Grübeleien würden wiederkommen, das wusste er, aber er hoffte, dass das noch eine Weile dauern würde. Und sollte nicht enttäuscht werden, denn gerade hörte er eine Stimme an seinem Ohr: „Hmm, du hast ´nen hübschen Körper, weißt du das? Aber du bist schon ganz schön abgemagert, das steht dir nicht...Soll ich mal Rippen zählen?“ Richard hätte ihm am liebsten eine geknallt.
„Eins...“ Er schrie innerlich auf und erneut hallte der Schrei nur in seinem Kopf wider.
„Zwei...“ Langsam wurde Richard schwarz vor den Augen.
„Drei...“ Konnte er nicht endlich bewusstlos werden?
„Vier...“
‚Hör auf, scheiße, hör bitte endlich auf...’
„Fünf...“ Richard war schon kurz davor wieder zu heulen, als er eine andere Stimme hörte: „Sag mal, kannst du ihn nicht mal für fünf Minuten in Ruhe lassen? Wenn du ihn unbedingt umbringen willst, brauchst du meine Hilfe nicht...“
„Wieso? Ich hab doch nur ein bisschen gespielt...“ Da klang jemand ziemlich beleidigt. Der Arzt schüttelte nur den Kopf und machte sich daran, einige Gerätschaften aufzubauen.
„Was machst du denn da?“ Richard hätte das auch ganz gerne gefragt, was aber aus bekannten Gründen nicht möglich war.
„Das ist ein mobiles Röntgengerät. So kriegen wir am einfachsten raus, ob der Gute nun eine Lungenentzündung hat oder nicht...“
„Und wenn es das nicht ist?“
„Dann hast du Pech und er auch, denn wenn es das nicht ist, muss er ins Krankenhaus, es sei denn, du willst ihn draufgehen lassen...“ Ein weiteres undefinierbares Gemurmel war die Antwort. Der andere kümmerte sich nicht weiter darum, sondern zog eine weitere Spritze auf.
„Was ist das denn da?“ Er seufzte innerlich auf, der Typ benahm sich ja immer noch wie ein kleines Kind.
„Ein Schmerzmittel.“, sagte er deshalb nur kurz angebunden und wollte die Spritze gerade setzen, als er mit einem lauten „Nein!“ unterbrochen wurde. Überrascht sah er in ein Paar zornige dunkelbraune, fast schwarze Augen.
„Wieso denn nicht?“ Der Andere unterdrückte mühsam seine Wut.
„Du...kannst ihm alles mögliche geben, aber...kein Schmerzmittel, hast du mich verstanden? Er. Soll. LEIDEN, verdammt noch mal!“ Der Arzt zuckte mit den Schultern.
„Wie du meinst...“ Damit ließ er es bleiben.
Richard kämpfte gerade mit widerstreitenden Gefühlen in sich. Zum einen war da ein unglaublicher Hass auf seinen Entführer, zum anderen eine Woge der Zuneigung für den anderen Typ, der ihm das Leben ein bisschen leichter machen wollte, auch wenn er nicht unbedingt dazu kam. Der holte gerade eine große Platte hervor und kam damit ans Bett.
„Soo, das kann jetzt ein wenig wehtun...“, sagte er laut und flüsterte kaum hörbar: „Der Typ ist doch einfach nur krank, ich hoffe ganz ehrlich für dich, dass du es bald hinter dir hast...“ Damit packte er Richard an der Schulter und rollte ihn vorsichtig auf die Seite, um ihm besagte Platte unter den Rücken zu schieben. Der Schwarzhaarige stöhnte innerlich wieder auf und er spürte, wie sich die gebrochenen Knochen bewegten. Dann wurde er wieder auf den Rücken gelegt. Das Metall war extrem kalt, an sich eine Wohltat für seine Schultern. Der Arzt stellte noch ein bisschen was ein, dann sagte er nur: „Und jetzt halt mal kurz die Luft an.“ Er wollte noch ein „Und nicht bewegen!“ hinzufügen, verkniff es sich aber. Dann schaltete er das Gerät kurz ein und dann wieder aus.
„So, das war’s auch schon, kannst weiteratmen...“
„Das ging ja fix und jetzt?“
„Müssen wir warten bis das Bild fertig ist, das dauert nicht lang...“, war die gleichgültige Antwort und er machte sich schon daran, alles wieder abzubauen. Richard wurde noch einmal auf die Seite gedreht und das Metall unter seinem Rücken entfernt.
Und dann warteten sie. Nicht lang, aber lang genug, dass sich in Richards linken Bein ein Krampf anbahnen konnte.
‚Oh nein, nicht auch noch das...’, war das Einzige, was ihm dazu einfiel. Dass er sich nicht bewegen konnte, machte das ganze noch schlimmer, Bewegung hätte dem verkrampften Muskel zweifellos gut getan. Keiner von den beiden anderen bekam das mit und Richard schrie wieder innerlich auf. Es war für ihn unerträglich und der Muskel dachte auch gar nicht daran, sich zu entkrampfen. Eine einsame Träne stahl sich aus seinen Augen, als das Bein anfing zu zucken. Jetzt wurden die beiden doch aufmerksam.
„Oh, das ist nicht gut...“, meinte der Ältere von beiden und hielt das Bein fest.
„Was ist denn los?“
„Er hat `nen Krampf du Depp, das sieht man doch!“, war die genervte Antwort.
Vorsichtig machte sich der Arzt daran, das Bein zu strecken und zu dehnen. Richard bekam das nur noch wie in Trance mit. Schließlich löste sich der Krampf und der schnell gewordene Atem des Schwarzhaarigen beruhigte sich gleichermaßen.
„Merkwürdig, wieso hat er denn jetzt einen Krampf bekommen?“
„Woher soll ich denn das wissen? Kann halt passieren...ah das Bild ist fertig...“
Damit standen die beiden auf und gingen zu einem kleinen Monitor.
„Oha.“, kam es von dem Arzt. „Na das nenn ich mal ein eindeutiges Ergebnis...“
„Wieso?“
„Sieh es dir doch an...“
„Uii, das sieht ja aus wie ein Schweizer Käse...“
Genervtes Augenrollen. „Das ist aber überhaupt nicht gut, weißt du das? Das ist ne Lungenentzündung und was für eine...“
„Gut, dann lag ich doch richtig. Und was machen wir da jetzt?“
„Naja, was der Gute jetzt vor allem braucht, ist RUHE und SCHONUNG, verstanden?“
Ein zögerliches Nicken.
„Außerdem musst du zusehen, dass du das hohe Fieber runterkriegst und er muss viel trinken, klar soweit?“
Wieder ein Nicken.
„Ich lass dir was da, gegen das Fieber und geb ihm jetzt noch vorsorglich Antibiotika und in zwei Tagen komm ich dann noch mal. Solltest du vorher Hilfe brauchen, kannst du mich jederzeit anrufen, das kostet...“
„...dann aber extra, ja schon verstanden.“, beendete Richards Entführer den Satz leicht gereizt.
Ruhe und Schonung? Die hatte er doch eigentlich gar nicht verdient. Aber andererseits...Was tat man nicht alles? Er seufzte kurz auf, dann fiel ihm aber noch etwas ein: „Sag mal kannst du mir auch ein bisschen von dem Zeug, was so schön lähmt, da lassen? Fände ich sehr praktisch...“
„Nein, bestimmt nicht!“, wurde er lachend unterbrochen. „Du hast doch gar keine Ahnung von der richtigen Dosierung und so weiter, du bringst den Guten eher um, als dass du ihn bloß lähmst, vergiss es!“
Der Jüngere tat sich gerade sehr schwer, nicht auf seinen Gegenüber loszugehen. So ein selbstgefälliger Kerl! Allerdings musste er zugeben, dass er Recht hatte.
„Na schön, dann spritz ihm das Antibiotika und lass mir das andere Zeugs da und dann kannst du wieder verschwinden...“
„Wie nett...“, murmelte der Arzt, dann machte er sich daran, eine weitere Spritze zu setzen.
Richard bekam das alles nur im Halbschlaf mit. ‚Eine Lungenentzündung also? Na von mir aus, vielleicht sterb ich ja dran, dann...dann...was ist eigentlich dann? Ach egal, dann bin ich tot und das war’s...’ Damit war er auch schon eingeschlafen.
Die beiden Jüngeren bekamen das nicht mit und schließlich geleitete Richards Entführer seinen Kumpel nach draußen, wo er ihn schließlich ausbezahlte und sich knapp verabschiedete.
Drinnen wieder angekommen setzte er sich erneut zu dem Schwarzhaarigen ans Bett und wartete geduldig darauf, dass das Nervengift langsam seine Wirkung verlor. Ab und zu ließ er dabei seine Hand über den Körper seines Opfers wandern. Er lächelte. Er konnte geduldig sein, wenn er wollte. Er würde jetzt erst mal alles tun, damit er Richard nicht verlor. Und dann würde er noch seinen Spaß mit ihm haben. Er fing wieder an, leise zu lachen.
„Immer noch kein neues Video?“ Paul nervte schon wieder, er stellte diese Frage jedem Polizisten, der den Videoanalyseraum verließ.
„Nein, aber wir werden es Ihnen schon sagen, wenn wir etwas neues wissen.“
„Aber es muss doch schon was da sein! Die letzten drei Tage war immer um die Zeit ein neues Video da...“
„Aber heute ist es eben nicht so! Du wirst da auch nicht viel dran ändern können...“, versuchte Till zu beschwichtigen.
„Ja aber...“
„Hören Sie zu, ich mach Ihnen einen Vorschlag: Sie gehen erst mal nach Hause und wir benachrichtigen Sie sofort, wenn wir etwas neues haben...“
„Nach Hause? Das...“
„Paul, er hat Recht.“, wurde der Kleinere von Flake müde unterbrochen. „Wir sind jetzt schon seit drei Tagen hier. So können wir Richard auch nicht helfen, wir sollten tun, was er sagt...“
„Ja aber...“
„Stimmt, wäre ich auch dafür. Es bringt überhaupt nichts, wenn wir die ganze Zeit nur hier rumsitzen...“
„Ach meinst du etwa, es ist besser, die ganze Zeit zu Hause rumzusitzen? Glaubst du allen Ernstes, dass dadurch alles gut wird?“ Paul wurde wieder wütend. Till griff mal wieder ein: „Nein, das denken wir nicht, aber wir brauchen auch Erholung. Es bringt Richard gar nichts, wenn wir uns von diesem Irren so fertig machen lassen und das würde er auch nicht wollen!“ Paul seufzte, dann gab er such geschlagen.
„Na gut, ihr habt ja mal wieder recht, tut mir leid...“
Keiner von ihnen sagte etwas darauf und so verließen sie ihm stillen Einvernehmen die Wache, um zum ersten Mal nach drei Tagen wieder zu Hause zu schlafen. Allerdings gingen die fünf mit einem Gefühl, etwas grundlegend falsch gemacht zu haben.
Zurück in die Hölle
An die folgenden beiden Tage konnte Richard sich nicht mehr wirklich erinnern. Sein Geist befand sich immer zwischen Traum und Wachsein und die sich ständig wiederholenden Fieberträume machten es nicht leichter. Sein Entführer machte sich zur Abwechslung mal echte Sorgen um ihn. Stundenlang saß er am Bett seines eigentlichen Opfers und tat alles, um das hohe Fieber zu senken. Er wollte nicht, dass Richard vorzeitig starb. Er selbst machte sich auch Vorwürfe darüber, dass er offensichtlich zu weit gegangen war. Normalerweise konnte er die Grenzen ganz gut abschätzen, aber hier? Hier war er eindeutig zu weit gegangen. Er hatte es übertrieben. Und jetzt würde er die Konsequenzen dafür tragen müssen. Auf der anderen Seite überlegte er sich, dass er es im Endeffekt nun sowieso nicht mehr ändern konnte. Sollte es vorzeitig vorbei sein, nun gut, dass wäre ziemlich schade, aber da wäre nichts zu machen.
Gerade kam er mit einem frischen Eimer mit kühlem Wasser darin wieder und überlegte, wie er Richard die fällige Medikamentendosis geben sollte, als dieser erneut einen schweren Hustenkrampf bekam. Er krümmte sich zusammen und spuckte wieder schwarz-roten Schleim. Sein Entführer stellte vorsichtig die Sachen ab und ging zu dem Schwarzhaarigen, dessen Atem nun wieder rasselnd und schwerfällig war. Beruhigend strich er ihm über den Kopf, doch Richard bekam das nicht wirklich mit.
Er wünschte sich wieder einmal, dass es endlich vorbei wäre. Der Schmerz in seiner Lunge wurde nicht geringer und verdrängte sogar die anderen Schmerzen, die seinen restlichen Körper einnahmen. Er spürte, wie er auf den Rücken gedreht und ihm sanft der Mund aufgezwängt wurde, dann hatte er zwei kleine harte Dinger darin. Er hörte eine Stimme: „Du musst schlucken, na mach schon...“
Und er tat, was diese Stimme sagte. Er tat immer, was sie sagte. Sein hohes Fieber, das um keinen Deut gesunken war, ließ ihn nicht wirklich erkennen, dass die Stimme seinem Entführer gehörte. Dann wurde es zwischenzeitlich schwarz um ihn herum, doch bald riss ihn sein eigener Schrei aus der Bewusstlosigkeit, wenn er wieder etwas träumte. Und dann schlug er um sich, nicht wirklich schlimm, aber immer noch stark genug, um ihm das bisschen Kraft zu rauben, das er eigentlich so dringend für seine Erholung brauchte. Er spürte, wie ihm die Arme festgehalten wurden und versuchte sich zu wehren, aber dann wurden seine Bewegungen ruhiger, bis sie schließlich ganz aufhörten. Er glitt in einen leichten Schlaf.
Sein Entführer atmete auf, als die Medikamente endlich Wirkung zeigten. Richard brauchte Ruhe, ganz dringend sogar, nur erlaubte sein momentaner Zustand ihm genau das gerade nicht. Sein Peiniger nahm ein Handtuch, tauchte es in das kühle Wasser und legte es ihm auf die heiße Stirn. Richard stöhnte im Schlaf und murmelte undeutlich vor sich hin. Ein erneuter Hustenkrampf schüttelte ihn, dann lag er wieder ruhig und holte keuchend Luft. Wach wurde er dabei nicht.
Seufzend erhob sich sogenannter Psycho und holte etwas Wasser. Wenn Richard aufwachte, wollte er es ihm einflößen. Wie, das wusste er noch nicht so genau, aber sein Kumpel hatte ihm gesagt, dass der Schwarzhaarige viel trinken müsse. Wieder ein Hustenkrampf, gefolgt von einem erneuten Seufzen. ‚Hoffentlich überlebt er...’ Richards Entführer setzte sich wieder ans Bett und wischte dem Kranken sanft den Schleim aus dem Gesicht. Dann wartete er.
Für die anderen fünf Rammsteiner wurden die nächsten Tage zum Höllentrip. Keiner von ihnen ließ sich in dieser Zeit bei der Polizei sehen, sie hatten sich zu Hause verschanzt und versuchten irgendwie mit der Situation klarzukommen. Ein Unterfangen, das ihnen nicht wirklich gelang. Sie konnten nichts anderes tun, als zu warten. Sie warteten auf ein neues Video, oder dass die Polizei Richard endlich fand, ob er nun noch am Leben war oder...nicht, sie warteten einfach auf irgendein Zeichen. Die Frage nach dem Warum stumpfte sich langsam ab und irgendwann stellten sie sie sich auch nicht mehr wirklich.
Inzwischen hatte auch Emu von der ganzen Sache erfahren und er war mindestens genauso schockiert, wie der Rest der Band. Aber er konnte genauso wenig für Richard tun, wie sie. Die Videos hatte er nicht komplett gesehen, er musste schon beim zweiten aufhören. Und er konnte auch nichts anderes tun als zu warten. Einfach nur zu warten.
Aber nicht nur ihnen ging es dreckig. Dadurch, dass die Videos im Internet aufgetaucht waren, konnten die Fans aus aller Welt sie mitverfolgen. Und egal, wie oft die Seiten mit den Filmen gesperrt wurden, immer wieder tauchten sie irgendwo anders auf. Aber nicht irgendwelche blutdurstigen Menschen stellten sie rein, nein, es war davon auszugehen, dass es Richards Entführer jedes Mal selbst tat. Und egal, wer sich die Videos anschaute: Die Leute waren durch die Bank weg einfach nur schockiert. Einige hatten herausbekommen, was im zweiten Video so geflüstert wurde, aber niemand gab es weiter. Den Rammsteinern war erst später aufgefallen, dass sich jetzt eigentlich jeder, der es wollte, sich die intimsten Sachen über sie anhören konnte. Aber so wirklich machen, tat es keiner. Im Fernsehen liefen ab und zu Berichte über die Entführung und auch die brutale Folter, aber nie fiel ein Wort über diese ganzen Informationen, die der Typ jahrelang ausspioniert hatte. Wahrscheinlich war die Art und Weise, wie sie an die Öffentlichkeit gekommen waren einfach zu grausam.
In den Fanforen war in den Tagen die Hölle los. Es gab nur ein einziges Diskussionsthema. Die Leute fühlten mit Richard und den anderen Rammsteinern, schimpften auf die Polizei, dass die immer noch keine Ergebnisse hatten und hofften inständig darauf, dass das alles bald ein Ende hätte. Es waren ganze Seiten mit Appellen eingerichtet worden, dass sogenannter Psycho endlich aufhören sollte, und das nicht nur von Rammsteinfans. Da waren sogar Leute mit von der Partie, die nichts mit der Musik zu tun hatten oder sogar überhaupt nicht mochten. Denn hier ging es nicht um die Musik, hier ging es um ein Menschenleben, das ganz langsam, Stück für Stück zerstört wurde. Und schweißte sie alle zusammen.
Trotzdem: Helfen konnte keiner. Niemand wusste, wo Richard sein könnte und niemand kannte jemanden, der auch nur im Entferntesten so einen Hass auf die Rammsteiner haben könnte, der zu so einer Tat führen konnte. Und die Leute, die es vielleicht gewusst hätten, bekamen viel zu viel Kohle und hatten ein angenehmes Leben, um zu plaudern.
Und so war Richards Entführer relativ sicher. Er wusste, wie man sich versteckte und den Hinterhalt nutzen konnte, er hatte es jahrelang trainiert. Er hatte seine Ziele über lange Zeit ausspioniert und nie war jemandem etwas aufgefallen. Diese Tatsache hatte er schon immer lustig gefunden. Sie hatten den Mann, den sie so dringend suchten eigentlich direkt vor ihrer Nase und kamen einfach nicht drauf. Die Polizei hatte Ermittlungen bei nahen Bekannten und Mitarbeitern aufgenommen, es hatte zahllose Verhöre gegeben, aber keiner hatte wirklich ein Motiv, oder gar die psychologischen Voraussetzungen für so etwas. Richards Peiniger hatten sie nicht befragt. Der war ihnen wohl irgendwie durch die Lappen gegangen.
Richard erwachte drei Tage nach dem letzten Video aus dem Schlaf. In der Nacht vorher war das hohe Fieber merklich gesunken, was seinen Entführer außerordentlich froh gestimmt hatte. Die letzten beiden Tage hatte er in großer Sorge um seinen Patienten verbracht. Ständig wurde dieser von Hustenkrämpfen geschüttelt und er phantasierte in Fieberträumen, was seinen Zustand nicht gerade verbesserte. Das Fieber selbst blieb dabei immer bedenklich hoch und manchmal fragte er sich, ob die Medikamente auch tatsächlich wirkten.
Sein Kumpel war noch einmal vorbeigekommen und hatte eine zweite Dosis Antibiotika verabreicht. Auch diesmal brauchten sie das Nervengift, um Richard ruhig zu stellen. Aber nicht, weil er sich gegen sie wehrte, er erkannte sie ja nicht einmal. Sie brauchten es eher, weil er ständig um sich schlug und auch die zusätzlichen Beruhigungsmittel kaum zu wirken schienen. Der Arzt hatte sich mit den Worten verabschiedet „Jetzt kannst du nur noch hoffen...“ und Richards Entführer hatte dieser Satz einen unangenehmen Schauer über den Rücken jagen lassen.
Doch dann war die Temperatur in der dritten Nacht endlich gesunken und er war, glücklich, dass Richard es wohl erst einmal überstanden hatte, an Ort und Stelle eingeschlafen, nachdem er sich in den letzten beiden Tagen kaum noch Ruhe gegönnt hatte.
Das bemerkte nun auch Richard. Beziehungsweise spürte er, wie irgendetwas Schweres auf ihm lag und er versuchte, dieses Etwas herunterzuschieben. Doch das gelang ihm nicht einmal ansatzweise, denn schon der Befehl an seine Arme, sich zu bewegen, wurde grundlegend ignoriert. Er stutzte. Warum funktionierte das nicht? Er versuchte es noch einmal. Keine Reaktion. Was war da los? Und warum war es eigentlich noch so dunkel? Jetzt erst bemerkte er, dass er die Augen noch geschlossen hatte und versuchte, sie zu öffnen, aber selbst das klappte nicht. Langsam wurde er unruhig. Ihm fiel ein, dass sie ihn gelähmt hatten, als er sich gewehrt hatte. Ob das jetzt auch wieder der Fall war? Aber nein, das konnte eigentlich nicht sein, denn dieser „Arzt“ hatte sich ja geweigert, etwas von dem Nervengift dazulassen. Aber warum konnte er sich dann nicht bewegen?
Er versuchte es noch einmal und diesmal schaffte er es auch, die Augen aufzuschlagen. Mühsam hielt er sie offen und sah sich um. Oder versuchte es zumindest. Seine Sicht war verschwommen und er hatte auch einfach nicht die Kraft dazu, länger die Augen offen zu lassen. Sekunden später war es auch schon wieder dunkel um ihn herum. Er war unglaublich müde. Plötzlich spürte er ein Ziehen in der Lunge.
‚Oh nein, bitte nicht!’, war das einzige, was ihm noch durch den Kopf ging und dann kam auch schon der Hustenkrampf. Richard bekam kaum noch Luft und es wollte einfach nicht aufhören.
Durch das Zucken unter ihm und nicht zuletzt durch das Geräusch wurde Richards Entführer wach und sah sich erst einmal verwirrt um. Warum hatte er hier geschlafen und nicht auf dem Sofa? Dann fiel es ihm ein. Das Fieber seines Sorgenkindes war gesunken und er hatte eigentlich gehofft, dass der Schwarzhaarige aufwachen würde. Dabei war er wohl eingeschlafen. Jetzt war Richard wach, allerdings wurde er schon wieder von einem Hustenanfall gequält. Sogenannter Psycho wartete geduldig, bis der Anfall abklang, dann sprach er den Schwarzhaarigen leise an: „Na endlich bist du wach! Wie fühlst du dich?“ Richard atmete mühsam ein und aus. Er hatte die Frage gehört, aber er hatte keine Möglichkeit, sich verständlich zu machen. Er hatte ja nicht einmal die Kraft, um die Augen wieder zu öffnen.
„Hey? Ich hab dich was gefragt!“ Die Stimme klang nun schon ungeduldiger. Richard schluckte. Er wusste, er würde irgendeine Regung machen müssen, sein Entführer konnte sonst sehr unangenehm werden. Vor allem wenn er dachte, dass man ihn ignorierte. So viel hatte der Schwarzhaarige in den wenigen Tagen schon über seinen Peiniger gelernt. Doch wie sollte er jetzt bitte zum Ausdruck bringen, dass er den Jüngeren gehört hatte? Er war zu keiner Regung fähig, die Krankheit und das anhaltende Fieber hatten ihn einfach zu stark geschwächt und auch in seinem Kopf wurde es schon wieder schwarz. Er war so müde. Er wollte schlafen, nichts anders tun als schlafen, doch er wusste, er würde unsanft aus dem Schlaf gerissen werden, wenn er keine befriedigende Antwort geben konnte. Und er konnte im Moment auf sämtliche Unsanftheiten gut und gerne verzichten. Er hatte den schlimmsten Teil der Krankheit nur mit viel Glück überlebt und auch das wusste er. Oder nahm es eher undeutlich wahr, je nachdem, wie man es betrachtete.
Er spürte, wie sich eine Hand auf seine gebrochenen Rippen legte und er zog die Luft schärfer ein. „Ach bist du doch noch wach. Und ich dachte schon, du bist eingeschlafen...“ Damit verstärkte sich der Druck auf seine Rippen. Es tat weh. Aber Richard war einfach nicht in der Lage zu schreien. Geräuschvoll atmete er aus und wieder ein und ließ es über sich ergehen. Was hatte er auch für eine andere Wahl?
„Sag mal, was ist denn los mit dir? Fieber hast du doch gar keins mehr...“ Frustriert ließ der Jüngere von ihm ab. Auf die Idee, dass sein Patient vielleicht einfach noch zu schwach war, um ihm zu antworten, kam er nicht. Richard rollte gedanklich mit den Augen und wartete. Er spürte, wie eine ganz bestimmte Hand seine empfindlicheren Körperregionen umspielte und stöhnte innerlich auf. Dann hörte er eine Stimme, die genauso grauenvoll sanft war, wie die Berührungen der Hand.
„Hmm, so wie es aussieht, musst du dich wohl noch ein Weilchen ausruhen. Nun gut, dann tu das. Wir haben alle Zeit der Welt. Du sollst schließlich wieder fit werden, damit wir noch ganz viel Spaß miteinander haben können. Sehr viel Spaß...“ Damit drückte die Hand zu und Richards Verstand verabschiedete sich wieder ins Land der Träume.
Richard verschlief den restlichen Tag und auch die Nacht. Am nächsten Morgen war er allerdings zeitig wach. Diesmal hatte er keine Probleme die Augen zu öffnen. Er sah sich um. Sein Entführer schlief auf einem alten Sofa, er selbst lag in einem Bett. Er versuchte sich aufzurichten, doch er musste feststellen, dass er dazu doch noch zu schwach war. Ihm wurde schwindlig und er legte sich schnell wieder hin.
Er sah zum Fenster. Die ersten Sonnenstrahlen krochen gerade über den Horizont und ein fahles Licht erhellte den Raum. Er dachte kurz daran, dass er ja jetzt weglaufen könnte, immerhin war er nicht gefesselt oder so, verwarf den Gedanken allerdings sofort wieder. Er hatte ja kaum Kraft, um sich aufzusetzen und er bezweifelte, dass seine Beine ihn tragen würden. Außerdem war er so unglaublich müde. Trotzdem: Er konnte es doch wenigstens probieren, oder?
Also versuchte er noch einmal sich aufzusetzen, langsamer jetzt und diesmal klappte es auch ganz gut. Vorsichtig bewegte er seine Beine, die ihm auch einigermaßen gehorchten. Dann versuchte er sie auf den Boden zu setzen. Als nächstes belastete er sie langsam mit seinem Gewicht. Vage kam ihm dabei ein, dass er seinem geschwächten Körper vielleicht zu viel zumutete, aber er musste doch diese Chance nutzen, oder?
Richard verscheuchte seine widerstreitenden Gedanken, sondern konzentrierte sich voll und ganz auf sein Vorhaben. Er belastete seine Füße immer mehr bis er schließlich auf ihnen stand. Schon wollte er sich freuen, dass er es geschafft hatte, diese erste Hürde gemeistert hatte, als ihm schwindlig wurde und er sich reflexartig nach hinten aufs Bett fallen ließ.
Seine Rippen rebellierten. Seine Lunge auch. Er versuchte den aufkommenden Hustenanfall zu unterdrücken, presste sich beide Hände auf den Mund. Das machte es nicht besser. Er zuckte vor unterdrücktem Husten, spürte wie sich die gebrochenen Knochen bewegten und ihm wurde wieder schlecht. Dann war es vorbei.
Als Richard schließlich die Hände vom Mund nahm, hatte er Schleim daran, der nicht nur schwarz, sondern auch immer noch blassrot war. Wieder dachte er daran, dass er vermutlich nur durch schieres Glück überlebt hatte, gleichzeitig fragte er sich, ob man das tatsächlich als Glück bezeichnen konnte, in Anbetracht dessen, was ihm noch bevorstand. Er hatte die Berührungen noch nicht vergessen. Gestern, als er aufgewacht war, hatte der Jüngere es wieder getan. Er hatte ihn angefasst. Seine sanften Berührungen brannten ihm auf der Haut. Sie verletzten ihn mehr als sämtliche Messerschnitte und Verbrennungen zusammen. Vor allem aber verletzten sie seine Seele. Er schauderte als er daran dachte, wie es sich angefühlt hatte. Es war einfach nur...eklig. Er kam sich schmutzig vor. Schmutzig und benutzt.
Richard schüttelte langsam den schmerzenden Kopf. Es half ihm nicht weiter, wenn er jetzt an das dachte, was passiert war, er musste an daran denken, was ihn erwartete, sollte seine Flucht gelingen und was ihm blühte, wenn nicht. Er setzte sich wieder auf und ließ sich langsam vom Bett gleiten. Allerdings verlor er dabei den Halt und landete mit einem dumpfen Aufschlag auf dem Boden. Erschrocken sah er zum Sofa. Alles ruhig. Sein Entführer schlief noch. Glück gehabt. Er hielt sich die schmerzende Seite. Er bezweifelte, dass seine Rippen jemals wieder richtig verheilen würden, aber das war erst einmal egal. Dann zog er sich am Bett hoch und versuchte zu stehen, was auch einigermaßen funktionierte. Er machte einen Schritt vorwärts und noch einen, seine Beine fühlten sich an wie Gummi. Trotzdem hielt er sich aufrecht und tastete sich am langsam Bett entlang.
‚Nur noch ein paar Meter...aber wie soll ich die schaffen?’ Mit diesem Gedanken hielt er sich krampfhaft am Bettende fest und überlegte, wie er es jetzt zu der Tür schaffen sollte, wenn er sich doch nirgends festhalten konnte. Schließlich beschloss er, es darauf ankommen zu lassen, ließ das Bett los und machte unsicher einen Schritt vorwärts. Er schaffte zwei oder drei Schritte, dann fiel er hin und fing sich gerade noch so mit den Händen ab. Wieder ging sein erschrockener Blick zu dem Sofa, aber immer noch war alles ruhig. Der Schwarzhaarige versuchte den Gedanken daran zu verdrängen, was wohl passieren würde, sollte ihn der Jüngere bei dem Fluchtversuch ertappen.
War es das eigentlich wert? Es würde ihm doch nur noch mehr Leid zugefügt werden. Aber dann fiel ihm wieder ein, dass dies womöglich seine letzte Chance war, hier rauszukommen, falls er überhaupt irgendwann einmal eine Chance gehabt hatte.
Vorsichtig machte er sich daran, auf allen Vieren zu der Tür zu gelangen. Schließlich schaffte er es und zog sich mühsam an der Wand hoch. Dann drückte er so leise wie möglich die Klinke hinunter, zum Glück war nicht abgeschlossen, und begab sich in die Halle nebenan. Er wusste nicht, dass ihn ein Paar kalte, dunkelbraune, fast schwarze Augen beobachteten.
Richards Entführer beobachtete amüsiert aus halb geschlossenen Augen die Aufstehversuche seines Opfers. Eine Flucht. Auch mal eine Idee. Damit hatte er zwar jetzt nicht gerechnet, aber es war doch ganz reizvoll. Da wollte dieser kleine Nichtsnutz also weglaufen. Nun ja, sollte er es doch tun, er würde schon sehen, was er davon hätte.
Bei dem unterdrückten Hustenkrampf musste er sich selber fast die Hand auf den Mund pressen, um nicht laut loszulachen. Glaubte der etwa wirklich, er könnte ihn, seinen Entführer täuschen? Immerhin war er doch ein Psycho, wie Paul es immer so treffend formulierte. Psycho...der Name gefiel ihm immer mehr.
Jetzt hatte es Richard doch tatsächlich geschafft bis zum Ende des Bettes zu kommen. Und jetzt? Er sah ziemlich ratlos aus. Der Jüngere verkniff sich ein Grinsen. Er fand die Situation unglaublich lustig. Aha, der Schwarzhaarige versuchte also, alleine zu gehen.
‚Keine Chance. Das schafft er nie...’ Und siehe da, Richards Entführer hatte Recht behalten. Sein Opfer stolperte und fiel der Länge nach hin. Sofort stellte sich besagter Psycho schlafend. Er spürte der forschenden und besorgten Blick des Schwarzhaarigen. Erst ein oder zwei Minuten später, als er das Geräusch einer Türklinke, die heruntergedrückt wurde, hörte, schaute er wieder auf. Doch da war Richard schon in die Halle verschwunden. Lächelnd stand der Jüngere auf und folgte seinem Opfer.
Richard hielt sich mühsam an der Wand fest und setzte noch mühsamer einen Fuß vor den anderen. Er verschwendete keinen Blick in die Halle, sondern richtete seine gesamte Aufmerksamkeit auf die Tür vor ihm. Immer wieder musste er zwischendurch stehen bleiben, da ihm die Sicht verschwamm. Doch er kam dem Ausgang beständig näher.
Schließlich erreichte er die Tür. Auch die war nicht abgeschlossen. Er hatte nicht die Kraft, um das vielleicht merkwürdig zu finden, er war so konzentriert, einfach bei Bewusstsein zu bleiben und sich immer weiter fort zu bewegen, weg von diesem Ort, dass er für irgendwelche Spekulationen einfach keinen Platz in seinem müden Hirn hatte.
Jetzt schob er mühsam die schwere Tür auf und sah erstaunt hinaus. Überall lag Schnee. Ziemlich hoch sogar. Vor ihm erstreckte sich ein breiter Feldweg. Ein eisiger Windstoß fuhr heran und ließ Richard noch mehr zittern, als es ohnehin schon der Fall war. Dagegen war es ja drinnen noch warm. Unschlüssig sah er hinaus. Es wäre blanker Selbstmord, hinaus zu gehen, er hatte ja nichts mehr an und fror eh schon die ganze Zeit. Allerdings wusste er: Er würde lieber da draußen erfrieren, als da drinnen...er brachte den Gedanken nicht zu Ende.
Vorsichtig setzte er einen Fuß in den Schnee. Es war eiskalt. Er stieß sich leicht vom Türrahmen ab und setzte auch den anderen Fuß hinaus. Jetzt war ihm noch kälter, aber er ignorierte es. Er versuchte sich zu orientieren, allerdings hatte er keine Ahnung, wo er sich befand. Durch den vielen Schnee hatte die Landschaft ihre klaren Konturen verloren und seine getrübten Sinne taten ihr Übriges. Er machte noch einen Schritt und noch einen.
‚Merkwürdig...’, ging es ihm durch den Kopf. ‚In der Kälte läuft es sich viel besser als in der Wärme...’ Und tatsächlich: Er taumelte zwar bedenklich, aber er musste sich wenigstens nirgends festhalten. Als ob es auch was zum Festhalten gegeben hätte. Außerdem war seine Sicht klarer.
Dann jedoch stolperte er. Ein kleiner Ast war ihm im Weg gewesen. Richard fiel in den weichen Schnee. Es war kalt, so kalt, wie tausende kleine feine Nadeln, die ihn piesackten. Er wollte eigentlich aufstehen, weitergehen, aber irgendetwas in ihm wehrte sich dagegen. Er war müde, so unglaublich müde und er wollte einfach nur schlafen und nie wieder aufwachen. Und der Schnee war so schön weich und irgendwie auch...warm. Eigentlich ein schönes Bett.
Richard schloss die Augen, sah noch einmal die Bilder der Menschen vor sich, die ihm am nächsten standen. Er war bereit. Er wusste, dass es vorbei war. Er wartete. Wartete, dass dieser Albtraum endlich vorbei wäre. Wartete auf den Tod.
Dann passierte allerdings etwas, mit dem er nicht gerechnet hatte. Er hörte ein Geräusch hinter sich und spürte die Anwesenheit eines anderen Menschen.
‚Und ich war so kurz davor...’, ging es ihm noch durch den Kopf, als er auch schon wieder diese gehässige Stimme hörte. Und diese Stimme war es auch, die ihn dazu trieb, sich noch einmal aufzurappeln und wegzulaufen.
„Na sieh mal ein guck, was willst du denn hier draußen, hmm? Du willst doch nicht etwa weglaufen, oder? Nein, das kann nicht dein Ernst sein...Also ganz ehrlich, weglaufen gilt nicht. Ich konnte schließlich auch nicht weglaufen...“ Damit holte er etwas aus seiner Tasche hervor.
Richard hörte ein leises Klicken und dann ein Summen. Ein stechender Schmerz durchfuhr ihn am ganzen Körper, er konnte keinen Muskel mehr rühren und dann wusste Richard gar nichts mehr.
Zu seinem Pech wurde er nicht bewusstlos. Er war lediglich für ein paar Sekunden gelähmt und ein rasender Schmerz beherrschte in dieser Zeit seinen Körper. Die Sekunden dehnten sich zur Ewigkeit. Als es schließlich aufhörte, spürte er, wie der Jüngere ihn an einem Arm gepackt hatte und ihn durch den Schnee zurück in die Halle zog. Zurück in die Hölle. Ihm kamen wieder die Tränen, doch ließ er sie im Moment noch nicht zu. Viel zu oft hatte er in den letzten Tagen geweint. Er schloss die Augen als er in den Schatten des ihm so verhassten Gebäudes kam, spürte, wie er über die Türschwelle gezogen wurde, hörte, wie die Tür zu fiel und dann war er wieder gefangen, war wieder allein mit seinem Peiniger, der alles mit ihm anstellen konnte und würde.
„Soo, du wolltest also tatsächlich weglaufen und das auch noch, ohne mich um Erlaubnis zu fragen...hmm...was mache ich denn da jetzt mit dir?“
Richard zitterte. Er meinte die Antwort auf die Frage zu wissen. Scheiße, er wollte das alles nicht! Aber er wusste, er würde sich fügen müssen. Er würde sich nicht wehren können, weil der Andere einfach stärker war. Er war diesem Typ hilflos ausgeliefert. Jetzt kamen ihm doch die Tränen. Tränen der Verzweiflung. Er konnte sie nicht aufhalten, sie rannen ihm einfach über das Gesicht.
Ein Tritt in die unverletzte Seite ließ ihn zusammenzucken. „Hör auf zu flennen du wertloses Stück Dreck! Dazu hast du kein Recht, klar? Ich hab dich was gefragt und ich erwarte eine Antwort!“ Wieder ein Tritt in die Seite. Richard sah ihn aus verweinten Augen an und dem Jüngeren gefiel die Mischung aus Angst, Verzweiflung und Abscheu darin. Sein Opfer wusste, was ihm blühte. Sehr gut.
„Ich...ich weiß nicht...was du mit mir machen willst...“ Richards raues Flüstern wurde brutal unterbrochen als ihm sein Peiniger auf die wunden Finger trat. Der Schwarzhaarige schrie auf.
„Lüg mich nicht an!“, zischte der Jüngere gefährlich leise. „Du weißt ganz genau, was ich mit dir vorhabe! Hab ich nicht Recht? Du weißt es doch...oder?“ Seine Stimme war zu einem sanften Flüstern geworden. Richard nickte unmerklich. Er hatte das Gefühl als hätte er damit soeben sein eigenes Todesurteil gesprochen.
„Ha! Na also! Geht doch!“ Sein Peiniger klang ziemlich erfreut.
„Und jetzt...“ Seine Stimme war wieder höhnisch, verachtend. Dann flüsterte er mit grausamen Lächeln nur ein Wort. Ein einziges Wort, das Richard sein gesamtes restliches Leben über verfolgen sollte: „Umdrehen!“
Der Schwarzhaarige schluchzte heftiger, tat dann aber, was von ihm verlangt wurde. Langsam drehte er sich auf den Bauch, winkelte die Arme und Beine an und stützte sich so ab, um die gebrochenen Rippen, den Brand und die vielen anderen Verletzungen nicht zu belasten. Jetzt begriff er auch allmählich, warum sie ihm zugefügt worden waren. Sie sollten es ihm erschweren, sich irgendwie zur Wehr zu setzen. Und die überstandene Krankheit tat ihr Übriges. Richard glaubte nicht, dass sein Entführer das geplant hatte, für ihn war das wahrscheinlich eine glückliche Fügung gewesen. Trotzdem – ihm ging, während er auf allen Vieren kniete und zitternd der Dinge harrte, die da kommen sollten, nur ein Gedanke durch den Kopf: ‚Er hat das alles von Anfang an geplant. Er hat uns jahrelang ausspioniert und sich dabei zurechtgelegt, was er denn alles tun will, wenn er mich erst einmal hat.’
Sein Magen zog sich zusammen, als er daran dachte, was ihm wohl noch alles widerfahren könnte und würde. Gleichzeitig fragte er sich, ob sein Tod eigentlich auch geplant war. Seine Tränen waren noch nicht versiegt, sie liefen ihm immer noch über das Gesicht, tropften still von seinem Kinn, aber er bemerkte es nicht. Er wartete einfach.
Und dann spürte er den Mann hinter sich, der ihn aus seinem Leben herausgerissen hatte, der ihm Stück für Stück alles nahm, bis am Ende nichts mehr von ihm übrig blieb, außer einer körperlichen Hülle mit einer zerstörten Seele darin.
Jetzt war er über ihm. Richard spürte einen sanften Kuss im Nacken und ihm wurde schlecht. Dann wurde sein Oberkörper grob nach unten gedrückt, so dass ihm die Arme einknickten und er jetzt halb lag, halb kniete. Seine Rippen rebellierten, aber er nahm die Schmerzen nicht mehr bewusst wahr. Er hatte einen Kloß im Hals und das Adrenalin schoss immer wieder in Wellen durch seinen Körper. Er wartete. Der Tränenstrom floss stetig weiter.
Er hörte, spürte, wie der Mann hinter ihm sich seiner Hosen und Unterhosen entledigte und ihn dann am Unterleib packte. Und wieder wartete er. Eine Sekunde, zwei Sekunden...
Richard schrie auf, als der Andere in ihn eindrang. Es tat weh, aber nicht nur in seinem Körper, sondern vor allem in seiner Seele. Er spürte, wie sich der Jüngere zurückzog und dann wieder zustieß. Und wieder schrie Richard.
‚Nein, nein, nein!’, war das Einzige, was ihm durch den Kopf schoss, als die Stöße immer heftiger wurden und in immer kürzeren Zeitabständen erfolgten. Er presste die Stirn auf den kalten Boden, kniff die Augen zusammen und schrie im Takt der Stöße des Anderen. Doch dieses Schreien schien den nur noch mehr anzuheizen.
Das war ja um so vieles besser als er es sich jemals vorgestellt hatte. Das war gut, ohh jaa, sooo unglaublich guuut. Irgendwann spürte er, dass es bald vorbei sein würde. Er hatte genug. Vorerst.
Richard spürte es auch, als sein Peiniger, der nun auch noch sein Vergewaltiger war, in ihm kam und schließlich erschöpft über ihm zusammenbrach. Sein Gesicht glänzte vor Erregung und Zufriedenheit und Richard heulte immer noch. Er spürte, wie sich der Jüngere aus ihm zurückzog und schließlich aufstand.
Richards Entführer war müde, hundemüde sogar, aber zufrieden. Er hätte nie gedacht, dass es so viel Spaß machen würde, einen Kerl zu vögeln und dann auch noch einen, den er eigentlich hasste. Aber das war ja auch der Witz an der Sache, oder?
Er stand auf, nahm sich seine Klamotten und ging in den Nebenraum. Erst mal duschen und dann noch eine Runde pennen. Das hatte er sich jetzt verdient. Er scherte sich keinen Deut um sein zuckendes Opfer. Der Schwarzhaarige lief nicht weg. Nicht noch einmal und das wusste er. Das wussten sie beide. Er konnte ihn also getrost dort liegen lassen und später immer noch zurück in den Käfig sperren. Oder ob er ihn doch mit ins Bett nahm? Wäre bestimmt angenehmer als auf den nackten Boden, falls er noch einmal ein wenig Spaß haben wollte. Aber nein, heute wahrscheinlich sowieso nicht mehr. Er brauchte ja schließlich nichts zu überstürzen. Sie hatten alle Zeit der Welt. Und mit einem letzten lüsternen Blick auf sein Opfer verschwand er schließlich lächelnd im Bad.
Richard hatte sich wieder zusammengerollt, sich so klein wie nur irgend möglich gemacht und versuchte zu verdrängen, was gerade eben passiert war. Innerlich fühlte er sich wie gepfählt. Die Schmerzen in seinem Unterleib waren beinahe unerträglich. Sie kamen in Wellen und betäubten seine Beine und Füße.
Das konnte doch nicht wahr sein. Das war ihm gerade nicht wirklich passiert, oder? Nein, das war nur ein schlechter Traum, er würde bestimmt gleich aufwachen und dann war alles gut. Dann war er zu Hause, lag in seinem Bett und würde sich fragen, was für einen Mist er da wohl wieder zusammengeträumt hatte. Krampfhaft versuchte er, die schreckliche Wahrheit der vergangenen Minuten nicht zuzulassen. Er wusste, würde er es akzeptieren – dann würde er völlig durchdrehen.
Immer noch weinte er. Er hatte es einfach so mit sich machen lassen. Er hatte sich nicht gewehrt. Aber er hätte sich doch wehren müssen, oder? Immer weiter rückte er zu einer Ecke hin und als sein Rücken schließlich gegen die Wand stieß, machte er sich noch kleiner, duckte sich weg und weinte noch mehr, während er versuchte, das Unbegreifliche irgendwie in seinen Kopf einzutrichtern, ohne, dass er völlig den Verstand verlor.
Dunkel war's...
Richards Entführer stand unter der Dusche und ließ die vergangenen Minuten noch einmal Revue passieren. Es war einfach nur genial gewesen. Und wie Richard geschrieen hatte. Er hatte gewusst, was ihm bevorstand. Wahrscheinlich schon länger. Und er war ihm, seinem Peiniger hilflos ausgeliefert gewesen. Ein unglaublich gutes Gefühl, fand der Jüngere. Ein unglaublich gutes Gefühl der Macht.
Er stellte das Wasser ab und trat aus der Dusche. Dann trocknete er sich schnell ab und zog sich noch schneller an. Es war wirklich ganz schön kalt hier, obwohl in dem Nebenraum immer eine kleine Heizung lief. Armer Richard. Er musste ganz schön frieren. Kein Wunder, dass er eine Lungenentzündung bekommen hatte.
‚Ich sollte dafür sorgen, dass ihm ein wenig wärmer wird...’, ging es dem Entführer durch den Kopf. ‚Außerdem braucht er heute noch etwas zu essen und noch wichtiger: Flüssigkeit...’ Damit machte er sich daran etwas zu essen für Richard zu suchen. Als er alles beisammen hatte, nahm er noch eine Flasche Wasser, auf der ein Aufsatz ähnlich denen auf Babyflaschen aufgeschraubt war, und eine zusätzliche Decke mit und machte sich auf in die Halle. Als er eintrat, konnte er Richard nirgends entdecken. War er etwa schon wieder weggelaufen? Aber nein, er hörte ein leises Wimmern und ein Schniefen.
‚Das gibt’s doch nicht! Heult der etwa immer noch?’ Das Ganze hatte den Schwarzhaarigen wohl doch mehr mitgenommen als sein Entführer zunächst vermutete. Verdammt! Das war nicht so gut. Es war ja aber auch eine ganz spontane Idee gewesen. Eigentlich sollte die erste Vergewaltigung erst viel später erfolgen und zwar dann, wenn Richard im geistigen Zustand dafür war. Denn sein Peiniger wollte ihn langsam, geplant zerstören und nicht mit blinder Brutalität. Aber hier hatte er sich einfach nicht mehr unter Kontrolle gehabt. Er hatte sich nicht zügeln können und als Belohnung dafür musste er jetzt wohl oder übel versuchen zu retten, was noch zu retten war. Wenn es denn überhaupt noch etwas zu retten gab.
Er begab sich zu Richards Käfig und holte die andere Decke heraus, dann folgte er dem Schluchzen. Schließlich fand er sein Sorgenkind, zusammengerollt in einer Ecke. Richard hatte sich so klein wie nur irgend möglich gemacht. Er zitterte und sein Gesicht war nass von den vielen Tränen. Langsam ging der Jüngere vor ihm in die Hocke und berührte den Schwarzhaarigen sanft an der Schulter. Der zuckte unter der Berührung zusammen, machte sich noch kleiner(wenn das überhaupt noch möglich war) und schluchzte heftiger. Sein Entführer fand ihn unglaublich niedlich als er das tat. Dann strich er Richard beinahe liebevoll durch die Haare.
„Hey, ist doch gut.“, sagte er sanft. „Du brauchst nicht zu weinen, es war doch gar nicht so schlimm. Ist ja gut, beruhige dich, gaaanz ruuuhiiig...“ In dieser Weise redete er eine Zeit lang auf den Älteren ein. Tatsächlich wurde dieser ruhiger, was aber auch an seiner körperlichen Erschöpfung lag.
„Ich hab noch was zu essen für dich. Hier...“ Damit fing der Jüngere wieder an Richard zu füttern, was dieser widerstandslos über sich ergehen ließ. Er war ja so müde. Er wollte nur noch schlafen, seine trüben Gedanken damit verdrängen. Er bemerkte, wie ihm wieder über den Rücken gestrichen wurde und wieder zuckte er zusammen.
„Ist doch gut, alles in Ordnung. Du musst auch was trinken, weißt du? Na komm her, komm, ist doch gut....“ Richard sah seinen Peiniger mit trüben Augen an. Er wunderte sich schon lange nicht mehr über die plötzlichen Gefühlswechsel des Jüngeren, er nahm sie einfach hin. Die Frage nach dem wie und warum war ihm irgendwann in den letzten Tagen abhanden gekommen.
Und so machte er jetzt den Mund auf und spürte wie ihm das Wasser hinein lief. Er schluckte, dann begann er an der Flasche zu nuckeln. Und die ganze Zeit über weinte er. Er konnte nichts dagegen tun, die Tränen kamen einfach und er ließ sie zu.
Er spürte wie sich etwas Weiches auf ihn legte und wie ihm wärmer wurde. Eine Decke. Und dann noch eine, das bemerkte er auch. Hatte der Typ ihn tatsächlich gerade zugedeckt? Er stellte sich die Frage nicht lange, er trank einfach immer weiter und schloss dabei die Augen. Er wollte schlafen. Wieder wurde ihm durch die Haare gestrichen.
„Schlaf ruhig. Es ist alles gut. Schlaf mein Kleiner.“ Richard hörte ihn nicht wirklich. Langsam döste er ein. Der junge Mann neben ihm streichelte immer wieder sanft über seinen Kopf bis ihm Richards ruhige, gleichmäßige Atemzüge verrieten, dass er endlich eingeschlafen war.
Er stand auf und gähnte selbst erst einmal ausgiebig. Er würde sich auch noch mal hinlegen. Es war bis jetzt ein anstrengender Tag gewesen. Für Richard war er schon zu Ende. Sein Entführer bezweifelte, dass er ihn nach den Strapazen heute noch einmal wachbekommen würde und das wollte er auch nicht. Er hatte seinen Spaß gehabt. Morgen wieder. Er ging in den Nebenraum und warf sich in voller Montur aufs Bett. Kurz darauf war auch er eingeschlafen
Richards Entführer wurde nur drei Stunden später von einem Anruf auf seinem Handy geweckt. Verschlafen griff er danach. Wer das wohl war? Nur wenige kannten diese Nummer und das waren alles nur wichtige Personen, somit war die Auswahl eigentlich begrenzt. Er sah auf den Namen und seine Stirn runzelte sich. Er hatte diesen Anruf erwartet, aber erst in ein paar Tagen. Was der wohl jetzt schon von ihm wollte? Zögernd ging er ran.
„Was gibt’s?......Wie bitte?! Jetzt schon?...Wieso das denn?...Was soll das heißen, die Termine haben sich geändert? Was kann ich denn da jetzt dafür?......Aha...nun...ok, das ist was anderes...verstehe, ja...na schön, dann kommt halt her und stellt das Zeug bei mir ab...ja...ja, kein Problem. Wann kommt ihr?...Ja, ja das passt. Und wie lang soll das hier bleiben?...Ja DAS ist mir auch klar...“ Genervtes Augenrollen. „Und wie lang dauert das so im Normalfall?...Eine Woche?! Hmm...Was? Nein, kommt her, dann dauert’s eben eine Woche...ja...ja, wir sehn uns, bis dann.“
Damit legte er auf. Seine Gedanken waren bei Richard, der schlafend in der Halle lag.
Er massierte sich die Schläfen. Damit hatte er nicht gerechnet. Das hatte er nicht geplant. Ging denn auch alles schief? Erst Richards Lungenentzündung bei der er fast draufgegangen wäre, dann die ungeplante Vergewaltigung und jetzt DAS. Dass die Leute auch immer zum ungünstigsten Zeitpunkt seine Halle brauchten. Er hatte ja damit gerechnet und auch vorgesorgt, aber eben erst in ein paar Tagen! Und nicht jetzt! Es war logisch, dass Richard während dieser Zeit verschwinden musste, aber jetzt schon? Das brachte den Zeitplan des Jüngeren völlig durcheinander. Aber nun gut, das war nicht zu ändern und er musste das Beste aus der Situation machen.
Ein mitleidiger Ausdruck breitete sich auf seinem Gesicht aus. Er wollte ihm das eigentlich jetzt noch nicht zumuten. Nicht nach dem, was vor ein paar Stunden passiert war. Richard war noch nicht in dem geistigen und körperlichen Zustand dafür. Es würde ihm wahrscheinlich vorzeitig den Rest geben. Und das wäre nicht gut.
‚Naja, so kommt er wenigstens zu RUHE und SCHONUNG, immer das Positive sehen...’ Mit diesem ironischen Gedanken zog er sich was über, dann machte er sich an die Vorbereitungen.
Richard träumte wieder. Diesmal lag er mitten in der Halle und war unfähig sich zu bewegen, als die Tür aufging und fünf Gestalten hereinkamen. Wer war das? Er wusste es nicht. Er bekam Angst. Sie kamen auf ihn zu. Trotz seiner Angst breitete sich ein warmes Gefühl der Vertrautheit in ihm aus und er freute sich. Und dann erkannte er, wer die fünf Menschen waren. Er lächelte. Dann spürte er auf einmal, wie er hochgehoben wurde und erkannte: Er kam hier weg! Er war glücklich und seine Angst schwand. Dann blendete ihn plötzliche etwas Grelles. Er sah Weiß. Der Schnee. Der Schnee war weiß. Und er nahm ihm die Schmerzen. Er spürte, wie er weggetragen wurde, wie er sich wegbewegte, weg von diesem Ort und er war unglaublich froh darüber. Doch dann lief irgendetwas schief. Er spürte, wie er fiel. Einfach immer weiter fiel. Dann lag er auf einmal im Schnee. Und er wurde zurückgezogen. Irgendjemand hatte ihn gepackt und zog ihn jetzt zurück. Zurück in die Hölle. Er sah auf die Menschen, die ihn hier rausgeholt hatten. Sie bewegten sich nicht. Sie sahen einfach nur zu. Er bemerkte, wie sie in der Ferne immer kleiner wurden. Es wurde schwarz um ihn herum und dann waren da nur noch Schmerzen.
Zitternd fuhr Richard aus dem Schlaf. Er hielt die Augen geschlossen, wollte nicht das sehen, was er vermutlich sehen würde, wollte wieder schlafen, nichts anders tun als einfach nur schlafen. Ihm kamen wieder die Tränen, als die Erinnerungen auf ihn einstürzten und ihn schier unter sich begraben wollten.
Es war so...schrecklich gewesen. Obwohl – der Typ hatte ihm gesagt, dass es doch gar nicht so schlimm war, oder? Nein war es eigentlich auch nicht. Es hatte nur tierisch wehgetan. Aber das war ja nichts Neues, oder? Er war doch Schmerzen mittlerweile gewohnt. Es war also alles in Ordnung, es...
Dann traf Richard die Erkenntnis wie ein Paukenschlag und radierte alles, was er sich bis jetzt eingeredet hatte einfach aus:
Der Typ hatte ihn vergewaltigt! Ach komm nein, alles, aber das nicht.
Er hatte ihn vergewaltigt! Wirklich? Aber dann hätte er sich doch wehren müssen, oder? Und das hatte er nicht. Also kann man eigentlich auch nicht von Vergewaltigung sprechen, oder? Denn dazu gehört Gewalt und die entsteht nur, wenn man sich wehrt. Also war es doch eigentlich...
ER HATTE IHN VERGEWALTIGT!
„Nein! Nein, das hat er nicht! Das hat er nicht! Das hat er NICHT!“
Richards Flüstern wurde zu einem Schrei. Er schlug die Augen auf und sah...nichts. Nur noch Schwärze und Dunkelheit um ihn herum. Verwirrt und erstaunt riss er die Augen weit auf und versuchte irgendwelche Konturen zu erkennen. Nichts. Sein neues Problem verdrängte seine Gedanken und Gefühle vollständig. Was war hier los? Warum sah er nichts mehr? War er etwa...Richard schluckte. War er etwa blind?
Er horchte in sich hinein, betastete sich die Augen, so gut er es mit seinen wunden, geschwollenen Fingern konnte. Fühlte sich eigentlich ganz normal an. Nicht einmal die Brände auf den Lidern schmerzten noch. Ob er nun doch Folgeschäden davon getragen hatte? Aber gestern – war es gestern? – gestern war doch noch alles mit seinen Augen in Ordnung gewesen. Konnte man von einem Tag auf den anderen blind werden? Oder hatte sein Entführer nachgeholfen? Richard glaubte und hoffte es nicht. Jetzt fiel ihm auch noch etwas anderes auf:
Er hörte nichts. Nichts, außer seinem eigenen schweren Atem, immer wieder unterbrochen von gelegentlichen Hustenanfällen oder seinem Schniefen. Das wunderte ihn. Normalerweise konnte er immer eine beständige Geräuschkulisse wahrnehmen. Das Geräusch des laufenden Computers zum Beispiel, oder die Geräusche, die nun einmal durch die Anwesenheit eines weiteren Menschen verursacht wurden. Und dann lief im Hintergrund auch immer leise Musik außer, wenn sein Entführer gerade die Videos drehte in denen Richard unfreiwilligerweise mitspielte. Ironischerweise bestand diese Hintergrundbeschallung meist aus Rammsteinsongs. Manchmal waren auch Lieder von Emigrate mit dabei, was Richard immer einen Stich versetzte. Wenn er sich richtig erinnerte, lief gestern als der Typ ihn...
Nein, er wollte sich nicht richtig erinnern! Nie mehr!
‚Aber ich werde mich erinnern müssen, ich werde...’
Nein! Er schüttelte heftig den Kopf. Er durfte sich nicht erinnern. Warum sollte er sich auch an etwas erinnern, sich mit etwas auseinandersetzen, das doch eigentlich gar nicht so schlimm war? Eigentlich was es doch etwas ganz Natürliches, oder? Schließlich machten das Millionen von Männern täglich, es war doch also ganz normal.
‚Nein, war es nicht!’, widersprach er sich selbst. ‚Zumindest dann nicht, wenn es gegen meinen Willen geschieht.’ Und DAS war wirklich schlimm. Aber sein Entführer hatte doch gesagt, dass es nicht schlimm war. Und er war danach auch ganz liebevoll gewesen. Er hatte ihn getröstet. Richard hatte sich sogar beschützt gefühlt.
‚Aber er tut mir doch weh...’ Das auch, aber nur weil...ja, warum eigentlich? Richard wusste es nicht. Aber er wollte es herausfinden. Er wollte den Jüngeren fragen, wenn er ihn das nächste Mal sah. Das heißt, wenn er denn noch sehen konnte. Egal, auf jeden Fall wollte er eine Antwort. Es musste etwas mit ihm zu tun haben. Hatte der Typ nicht gesagt, dass er, Richard, wertlos sei? Ja er hatte ihn ein wertloses Stück Dreck genannt.
‚Ich bin nicht wertlos. Ich bin NICHT wertlos!’ Aber stimmte das wirklich? Er hatte sich schließlich nicht gewehrt, obwohl er es hätte tun sollen, oder doch nicht? Wurde ihm das etwa angetan, weil er nichts wert war? Das wäre eine Erklärung.
‚Halt mal! Was denke ich denn da? Er hat mir doch schon gesagt, warum er das macht. Niemand ist wertlos. Niemand!’ Aber dann kam ihm ein, was sein Entführer gestern mit ihm gemacht hatte und um sich das erklären zu können, reichte für Richard die Geschichte des Jüngeren nicht aus. Und dann kam dazu, dass er sich eben nicht gewehrt hatte. Das lag ihm schwer im Magen. Wenn er wirklich ein Opfer war, dann musste er sich doch auch wie eines verhalten, oder? Aber es hatte auch wehgetan.
Merkwürdig war, dass sein Peiniger ihn nicht zu hassen schien, dafür, dass er sich nicht gewehrt hatte. Im Gegenteil – er hatte ihn getröstet. Würden das andere Menschen tun? Er kam sich so schmutzig vor. Schmutzig und...schuldig. Andere Menschen würden ihn wahrscheinlich dafür verachten, was er getan oder in dem Fall nicht getan hatte. Schließlich hatte er sich nicht gewehrt! Und da kann es doch letztendlich wirklich nicht so schlimm gewesen sein, oder? War er denn dann überhaupt das Opfer? Er wusste es nicht. Wusste nicht mehr, was er glauben, denken sollte.
Andere Menschen...momentan konnte er sich noch an ein paar von ihnen erinnern. Seine Familie, seine Freunde...aber es waren nicht viele Gesichter, die vor seinem inneren Augen auftauchten. Kannte er nur so wenige Leute? Oder hatte er die anderen schon vergessen? Oder wollte am Ende niemand etwas mit ihm zu tun haben, weil er doch wertlos war?
‚Aber ich bin nicht wertlos...oder doch? Nein, ich bin nicht wertlos...’ Er schüttelte den Kopf, als zweifle er an seinen eigenen Gedanken. In seiner momentanen Situation halfen ihm solche Überlegungen nicht weiter. Das war an sich ein vergeudeter Kraftaufwand. Er beschloss, erst einmal herauszufinden, wo er war.
Er tastete um sich herum und fand dabei die beiden Decken und etwas hartes, rundes. Er rollte es mühsam zu sich heran und betastete es, wobei jede Berührung höllische Schmerzen durch seine Finger jagte. Schließlich erkannte er, dass es sich um die Flasche mit Wasser handelte, die er auch gestern schon von seinem Entführer bekommen hatte. Plötzlich hatte er einen unglaublichen Durst. Der Flüssigkeitsmangel machte sich bei ihm bemerkbar. Er legte sich vorsichtig auf die linke Seite und begann wieder an der Flasche zu nuckeln. Obwohl er sich ziemlich gedemütigt vorkam, war dies immer noch die beste Möglichkeit zu trinken. Schließlich waren seine Finger immer noch unbrauchbar. Auch schienen die Nägel nicht daran zu denken wieder nachzuwachsen. Er fragte sich, ob das überhaupt noch einmal der Fall sein würde. Wenn nicht...dann könnte das Gitarre spielen zu einem Problem werden.
Als er seinen ersten Durst gestillt hatte, tastete er mit den Händen nach oben, bis er an die Decke stieß. Er stellte fest, dass er hier drinnen immerhin aufrecht stehen konnte. Dann begann er die „Umgebung“ zu erkunden. Er lag nämlich nicht an einer Wand, sondern anscheinend in der Mitte eines Raumes. Er bewegte sich, vorsichtig mit den schmerzenden Fingern tastend zur Seite.
Irgendwann stieß er an eine Wand. Er stutzte. Der Belag fühlte sich seltsam an. Er kannte diese Empfindung. Aber woher? Er musste eine Weile überlegen, aber dann kam ihm blitzartig eine Erinnerung und damit die Erkenntnis. Die Wände in Tonstudios fühlten sich auch so seltsam an. Darum auch diese merkwürdige Akustik hier drinnen. Der Raum war schalldicht!
Richard schauderte. Er hörte nicht, was draußen vor sich ging und er sah nicht, was hier drinnen war. Sein Entführer hatte ihm seine beiden wichtigsten Sinne geraubt. Er hoffte nur, dass es bei seinen Augen genauso vorübergehend war, wie bei seinen Ohren. Überhaupt: Wie lange würde er hier bleiben müssen? So lange bis der Jüngere ihn wieder...? Er brachte den Gedanken nicht zu Ende.
Sie an der Wand orientierend versuchte er eine Ecke zu finden. Er brauchte etwas, wo er Sicherheit hatte, etwas, das ihm Halt bot. Fast sehnte er sich nach der beruhigenden Kühle des Metalls der Gitterstäbe in seinem kleinen Käfig. Dort war es wenigstens überschaubar gewesen. Er hatte gewusst, woran er war. Hier hatte er nur eine lähmende Dunkelheit, die ihn halb wahnsinnig machte. Er konnte sich nirgends orientieren, nirgends festklammern. Zitternd versuchte er die aufkommende Panik zu unterdrücken.
Vorsichtig taste er sich weiter, immer an der Wand entlang. Er musste ziemlich lange suchen. Erst nach einer Ewigkeit, so schien es ihm, fand er die Ecke. Dankbar, dass er jetzt von zwei Seiten schützende Wände hatte, setzte er sich hin und lehnte den Rücken dagegen. Die aufkommende Panik verschwand und langsam beruhigte er sich. Nur das Zittern wollte nicht wirklich weichen, denn obwohl die Wände auf eine merkwürdige Art wärmten, war ihm immer noch kalt. Er beschloss, sich die Decken und die Flasche mit hierher zu nehmen. Doch das stellte ihn vor ein neues Problem: Wie sollte er jetzt den Weg zurück finden?
Er überlegte. Das beste war wohl, wenn er sich an der Wand entlang zurück tastete und dann irgendwann zur Mitte hin abbog. Nur wo sollte das sein? Er ließ es erst einmal darauf ankommen und kroch langsam zurück. Als er meinte, weit genug gekommen zu sein, bog er zur Mitte hin ab. Immer weiter kroch er suchend umher, den Boden beständig abtastend, damit er das Gesuchte auch ja fand. Doch da war nichts. Überhaupt nichts. Die Panik kam wieder hoch.
‚Ruhig bleiben.’, ging es ihm durch den Kopf. ‚Ganz ruhig, du findest das schon. Das letzte, was du jetzt brauchen kannst, ist eine Panikattacke...’ Doch er fand nichts. Blind tastete er in dem im Vergleich zu dem Käfig riesigen Raum herum und verirrte sich dabei immer mehr. Sein Atem beschleunigte sich. Sein Herzschlag auch. Verdammt! Von wo aus war er gestartet? Er war völlig orientierungslos. Das Adrenalin schoss in Wellen durch seinen Körper. Sein Atem ging heftig, er hechelte eigentlich nur noch. Ein erneuter Hustenanfall. Das verbesserte nicht gerade seine Situation, im Gegenteil: Er bekam kaum noch Luft und schließlich überrollte ihn die Panik.
Er wollte schreien, er hatte ja so eine Angst. Doch zum Schreien kam es nicht. Er glaubte zu ersticken. Schließlich kamen wieder die Tränen. Doch auch das machte es nicht besser. ‚Durch die Nase atmen...’ Er versuchte es, presste sich die Hände auf den Mund, aber auch das funktionierte nicht. Was tun? In seiner Verzweiflung kam ihm nur noch eine letzte Idee. Er schlug sich mit der Faust auf die gebrochenen Rippen. Mit dem Schrei kam die Erlösung. Er japste nach Luft, hielt sich die Seite, gleichzeitig beruhigte er sich aber auch wieder. Zitternd mit ausgestreckten Armen und Beinen lag er auf dem Boden und wartete bis die Wirkung des Adrenalins verpuffte.
Jetzt war sein Denken wieder klarer. Panik war an sich eine sehr wirkungsvolle Einrichtung der Natur. Sie verhalf zu klarerem Denken. Nur musste man eine Attacke auch erst einmal überleben. Zumindest in Richards Fall war das eine schwierigere Aufgabe als man zunächst vermuten würde.
Er schloss die Augen, sammelte sich, dann drehte er sich um und begann wieder suchend den Boden abzutasten. Auch jetzt machte ihn dieses Gefühl der völligen Orientierungslosigkeit halb verrückt, aber nun hatte er sich mehr im Griff. Um wenigstens einen Anhaltspunkt zu haben, hielt er nun auf die gegenüberliegende Wand zu, die er nach einiger Zeit auch fand. Er tastete sich ein, zwei Schritte vorwärts, dann bog er wieder ab und begann die Suche von neuem. So arbeitete er sich systematisch durch den ganzen Raum. Irgendwann, er wusste nicht mehr wann, hatte er auch schließlich Erfolg. Als seine Finger etwas Weiches spürten, konnte er ein Jubeln nicht unterdrücken. Merkwürdig, wie einfach man Menschen doch glücklich machen konnte.
Er schob die Decken so gut es ging auf einen Haufen, legte die Wasserflasche darauf und machte sich dann daran, das Zeug in eine Ecke zu schaffen. Welche er dabei dann letztendlich fand, war ihm so ziemlich egal. Er war erst einmal nur froh, dass er wieder zwei Wände hatte und nicht mehr orientierungslos in einem leeren Raum war. Er schauderte, als er daran dachte. Er trank noch einen Schluck, dann kuschelte er sich mit den Decken in die Ecke und schlief kurz darauf erschöpft ein.
Warum lasst ihr mich nicht sterben?
Er wurde von einem Geräusch geweckt. Verwirrt schlug Richard die Augen auf und sah, logischerweise, nichts. Er brauchte eine Weile um sich zu erinnern, was passiert war. Dann fiel es ihm ein. Damit kamen auch seine trüben Gedanken wieder, doch bevor er in diese eintauchen konnte, hörte er auch wieder dieses Geräusch. Was war das? Der Raum war doch schalldicht, oder? Wie konnte er dann etwas hören? War das etwa Einbildung? Aber nein, da war es wieder, dieses Kratzen und Schaben. Es gab dafür eigentlich nur eine Erklärung: Es war noch jemand im Raum. Aber wer konnte das sein? Sein Entführer? Und warum? Würde er etwa wieder...Richard zitterte, trotz der Tatsache, dass ihm endlich mal richtig warm war. Aber eigentlich war es doch logisch, oder? Es war logisch, dass es nicht nur bei dem einen Mal bleiben würde. Und außerdem: Sollte Richard tatsächlich wertlos sein, dann hatte er sowieso nichts mehr zu sagen, oder? Aber war er nicht schon zu dem Entschluss gekommen, dass er eben NICHT wertlos war? Er wusste es nicht. Jetzt hörte er Schritte. Und sie kamen immer näher, auf ihn zu.
Er verkrampfte sich, er hatte unglaubliche Angst, wagte es aber trotzdem eine Frage zu stellen: „Wer...wer ist da?“ Ängstlich kauerte er sich unter seinen Decken zusammen und wartete. Wartete, wie er es schon so oft getan hatte, auf die Schmerzen. Stattdessen hörte er aber nur eine sanfte Stimme: „Ich bin’s nur, keine Angst. Ich wollte dir nur was zu essen vorbeibringen.“
Richard sah erstaunt in die Richtung, in der er seinen Entführer vermutete. Doch dann kniff er die Augen geblendet zusammen als ihn ein scharfer Lichtstrahl traf. Er schlug die Hände vors Gesicht, aber auch dann war es noch schmerzhaft hell. Sein Peiniger nahm mit einem „Oh, sorry...“ die Taschenlampe herunter und deckte sie ab.
Richard sah auf. Hatte der Typ sich wirklich gerade bei ihm entschuldigt? Das war ja mal was ganz neues. Wieso sollte er sich bei jemandem entschuldigen, der doch aber wertlos war? Richard verstand die Welt nicht mehr. Dann sickerte eine andere Erkenntnis langsam in sein Gehirn: Er war nicht blind! Der Lichtstrahl hatte ihn geblendet und jetzt konnte er sogar Konturen ausmachen! Die Freude darüber verdrängte seine widerstreitenden Gedanken und Gefühle für einen Moment und sie war ihm wohl auch anzusehen, denn sein Entführer fragte: „Was denn, wieso freust du dich denn so? Gibt es was zu feiern, hab ich was verpasst? Du bist doch sonst nicht so happy...“ Richard sah ihn einfach nur an. Durfte er sagen, was ihn bewegte? Aber er hatte doch eine Frage gestellt bekommen, oder? So viel er auch in den letzten Tagen über sich ergehen lassen musste, noch immer hatte er seine natürliche Scheu vor Schmerzen nicht abgelegt. In dem Moment hörte er wieder die Stimme des Jüngeren und nun klang er schon ziemlich ungeduldig: „Na was ist denn jetzt? Ich hab dich was gefragt und ich erwarte eine Antwort!“
Richard schluckte, dann sagte er leise: „Ich...ich hab mich gefreut, dass...ich was sehen kann. Ich...ich dachte erst, dass ich...dass ich...“
„Dass du blind bist?“ Der Schwarzhaarige nickte. Dann hörte er ein Lachen. Verwundert blickte er auf. „Das ist gut, das ist echt gut, weißt du das?“ Wieder ein Lachen. Dann stoppte es schlagartig. „Also, jetzt sei mal ganz ehrlich: Was hätte ich denn davon, dir deine Sehfähigkeit zu rauben, hm?“ Richard schüttelte nur den Kopf, er wusste es nicht. Dann begann er zu weinen.
„Hey, was ist denn los?“ Der Jüngere war nun wieder ganz der Besorgte und setzte sich neben den Älteren. Dann berührte er ihn vorsichtig am Arm. Richard zuckte zurück und weinte nun noch heftiger. Da war zum einen bei ihm die Erleichterung, dass mit seinen Augen alles in Ordnung war, zum anderen aber auch die Angst, dass er jetzt wieder brutal vergewaltigt wurde. Außerdem wollte er nach Hause. Er sehnte sich hier weg. Er wollte sie alle ganz gerne noch einmal wiedersehen und wenn er für immer hier bleiben musste. Damit könnte er leben, aber er wollte noch ein Mal, nur ein einziges Mal...
Der Jüngere legte ihm vorsichtig den Arm um seine Schultern und zog ihn zu sich heran. Richard zuckte erst unter der Berührung zusammen, wehrte sich dann aber nicht. Er lehnte seinen Kopf an die Schulter des anderen, genoss die Wärme, die von ihm ausging, genoss einfach die Gegenwart eines anderen Lebewesens und ließ seinen Tränen freien Lauf.
„Hey mein Kleiner“, kam es wieder von dem Jüngeren. Tatsächlich überragte dieser Richard um gut 10cm. „Was ist denn los? Na sag schon, was hast du denn?“
Der Schwarzhaarige fing bei diesen sanften Worten wirklich an, zutraulich zu seinem eigentlichen Peiniger zu werden. Und genau das war es, was der erreichen wollte. Allerdings machte er sich jetzt tatsächlich auch ein wenig echte Sorgen um Richard. Er fand ihn ja eigentlich unglaublich niedlich. Zumindest in solchen Situationen tat er das. Das waren dann auch die Momente, wo sich bei ihm der Beschützerinstinkt regte und er sich fragte, ob er nicht lieber doch vorzeitig aufhören sollte. Aber dann fiel ihm regelmäßig ein, was er ja noch alles mit seinem Opfer vor hatte und diese Dinge würden noch viel mehr solcher Momente herauf beschwören. Trotzdem: Richard tat ihm leid. Er selbst würde solche Dinge nicht lange über sich ergehen lassen können. Und er würde es auch schon gar nicht wollen!
Richard riss ihn aus den Gedanken als er mit tränenerstickter Stimme flüsterte: „Ich will nach Hause...“
Sein Entführer sah ihn einfach nur an. Er brauchte einen Moment um seine Stimme wiederzufinden. Für einen Moment lang war er in Versuchung geraten, diesem Wunsch tatsächlich nachzukommen. Dann jedoch sagte er ziemlich kalt: „Du weißt aber schon, dass das nicht geht, ja? Du wirst hier bleiben müssen, denn weißt du...ich bin noch lange nicht mit dir fertig...“
„Das weiß ich...“, sagte Richard leise. „Aber ich möchte sie so gerne noch ein Mal wiedersehen. Und wenn ich für immer hier bleiben muss, aber ich möchte sie noch ein Mal sehen...“
Sein Entführer wollte schon zu einer Antwort ansetzen, wurde allerdings von Richard unterbrochen: „Warum tust du mir das an?“, flüsterte er. „Warum machst du das mit mir? Was habe ich dir denn getan? Warum tust du das? Warum denn nur? Warum?“ Jetzt brach er endgültig zusammen. Der Jüngere strich ihm sanft durchs Haar.
„Aber das weißt du doch selbst am besten.“, flüsterte er ihm mit grausamen Grinsen ins Ohr. „Du hast es nicht anders verdient. Du bist wertlos und das weißt du. Sonst hätte dich doch längst jemand hier rausgeholt, oder? Niemand braucht dich. Was hättest du also davon, sie noch einmal wiederzusehen? Sie brauchen dich nicht. Sie brauchen kein wertloses Etwas. Du bist nutzlos. Und darum ist es besser für dich, besser für uns alle, wenn du hier bleibst, das verstehst du doch, oder?“ Damit stand er auf.
Richard sackte zusammen und bleib haltlos schluchzend und zitternd liegen. Sein Entführer tauschte noch die beiden Flaschen aus, dann machte er sich auf den Weg nach oben, raus aus diesem Loch. Sein Opfer bekam das nicht mit, es merkte nicht einmal, wie das Licht der Taschenlampe verschwand und schließlich wieder völlige Dunkelheit herrschte.
Richards Entführer war froh, als er wieder in der Halle stand. Er mochte diesen dunklen, schalldichten Raum nicht sonderlich, er hielt es ja kaum fünf Minuten darin aus, was ihn aber nicht davon abhielt, Richard darin einzusperren. Was sollte er auch sonst mit ihm machen? Woanders hatte er keinen Platz für ihn, außer vielleicht draußen, aber da war es zu kalt und es wäre auch zu auffällig geworden. Er sah sich um. Er hatte ziemlich umräumen müssen. Jetzt stand die komplette Halle voll mit Autoteilen, die von irgendwoher kamen und auf dem Schwarzmarkt gute Gewinne abwerfen würden. Sein Lebensunterhalt für die nächsten Monate. Allerdings sollte das Ganze eben erst in ein paar Tagen abgewickelt werden. Er hatte ja nicht voraussehen können, dass sie beinahe aufgeflogen waren und jetzt bei ihm untertauchen mussten. Amateure! Wäre es nach ihm gegangen, hätten sie das sowieso ganz anders gemacht. Aber nein, er hatte ja nichts zu melden gehabt. Solche Ignoranten! Jetzt mussten sie zusehen, dass sie das Zeug zu ordentlichen Preisen losbekamen. Allerdings ging das erst, wenn sich der Staub ein wenig gelegt hatte. Und das bedeutete, dass sie wohl oder übel warten mussten. Eine Woche mindestens, es sei denn, es fand sich schon vorher ein risikobereiter Käufer. Nur waren die Aussichten darauf relativ gering.
Zudem stand er jetzt vor einem ganz anderen Problem. Seine Kumpels hatten ihn darauf hingewiesen, dass die Polizei Richard überall suchte und zwar wirklich überall. Ihre letzten Suchtrupps waren nur ein paar Kilometer von dieser Lagerhalle entfernt gewesen. Zwar vermutete keiner von ihnen, dass sie es bis hierher schaffen würden, denn offiziell existierte dieses Gebäude nicht mehr, sondern war vor ein paar Jahren von einer recht dubiosen Baufirma abgerissen worden, trotzdem wollte er auf Nummer sicher gehen. Er kannte die Polizei und ihre Suchaktionen. Sie suchten lediglich dann so intensiv, sowie eine Chance bestand, dass der oder die Gesuchte noch am Leben war. Sobald sie nämlich Sicherheit hatten, dass sie „nur“ noch nach einer Leiche suchten, stellten sie ihre großräumigen Suchaktionen ein, da die Polizeikräfte woanders gebraucht wurden. Er musste ihnen also irgendwie auf den Videos präsentieren, dass Richard bei einer der Folterungen starb. Die Frage war jetzt also: Wie sollte er das anstellen?
Er ging zu seiner privaten kleinen „Folterkammer“. Hier bewahrte er alles auf, was er so an „Instrumenten“ in den letzten Jahren zusammengetragen hatte. Dabei fiel sein Blick auf die vielen Peitschen, die an Form und Anzahl der Sammlung seiner Messer in nichts nachstanden. Das hatte er sowieso noch vorgehabt.
Er überlegte. Dann lächelte er, als der Plan in seinem Kopf nach und nach Gestalt annahm und er vor seinem inneren Auge einen blutigen Rücken sah und ein trockenes Knacken hörte.
Für Richard waren die nächsten beiden Tage das Schlimmste, was er bis jetzt in seinem Leben hatte durchmachen müssen. Die ständige Dunkelheit machte ihn wahnsinnig. Nur einmal am Tag wurde sie von dem scharfen Lichtstrahl einer Taschenlampe unterbrochen und das war für ihn nicht besser als die Finsternis in diesem Raum. Auch, dass er nichts mehr hörte, trug sein Übriges dazu bei. Seine Gedanken kreisten nur um ein Thema: Was ihm sein Entführer gesagt hatte. Er hatte gesagt, dass er wertlos sei. Er hatte gesagt, dass ihn die Welt nicht brauchen würde. Er hatte gesagt, dass er keine Freunde mehr hätte. Er hatte gesagt, dass es besser für alle wäre, wenn er hier bleiben würde. Und je länger Richard alleine in der Dunkelheit ausharren musste, desto mehr glaubte er daran.
Ruhelos tigerte er stundenlang im Raum auf und ab. Mittlerweile konnte er sich schon wieder ganz gut auf den Beinen halten und er konnte sich schon längst in seinem Gefängnis orientieren. Manchmal lag er aber einfach nur apathisch da und wartete. Dann kreisten ihm wieder die wildesten Gedanken im Kopf herum. Er fing an, sich selbst die Schuld an allem zu geben. Er war schuld daran, dass es seinem Peiniger so dreckig gegangen war. Er war auch schuld dran, dass es jetzt IHM so dreckig ging, schließlich hatte er es nicht anders verdient. Er fing tatsächlich an zu glauben, was ihm ins Ohr geflüstert worden war. Er glaubte jedes Wort davon. Es gab ihm auch einen gewissen Halt. Es war etwas, woran er sich orientieren konnte. Etwas, womit er sich die Dinge erklären konnte, die ihm angetan wurden. Es war wahrscheinlich besser für alle, wenn er hier blieb. Wen hatte er denn noch? Die Leute, die ihm am nächsten standen? Wer war das? Konnte er sich noch an sie erinnern?
Konnte er, aber nur, wenn er lang genug überlegte. Waren es erst die Bilder seiner Freunde, die ihm einen Sinn in diesem Chaos aus Schmerzen und Angst gegeben hatten, so wurde dies jetzt zunehmend von dem Bild seines Entführers verdrängt. Auch seine Träume änderten sich. Sein ständig wiederkehrender Traum, dass sie ihn hier rausholten, wurde davon ersetzt, dass sie ihn rausholten, er dann allerdings gnadenlos zurückgezogen wurde. Und die Menschen, denen er einst vertraut hatte, standen einfach nur da und sahen zu. Und jedes Mal erwachte er in Dunkelheit und...Einsamkeit.
Wer kam denn schon? Wer kümmerte sich um ihn? Wer sorgte dafür, dass er überhaupt noch am Leben blieb? Wer brauchte ihn denn überhaupt? Die Antwort auf diese Fragen war eine ganz bestimmte Person, ein junger Mann, gerade mal halb so alt wie er, der zwar der Grund für sein Leiden war, gleichzeitig aber auch der einzige Mensch, der ihn nicht verstieß.
Immer wenn er mit seinen Gedanken an diesem Punkt ankam, sprang er auf und wurde wütend auf sich. Dann kam immer der Teil in ihm durch, der ganz genau wusste, dass das alles nicht stimmte. Der Teil in ihm, der noch kämpfte gegen den Psychoterror, gegen die Schmerzen, gegen die Einsamkeit. Der Teil, der immer noch hoffte, dass er hier rauskam, dass er sie alle noch einmal wiedersehen würde, dass er sein ganz normales Leben irgendwann wieder einmal aufnehmen konnte. Der Teil in ihm, der sich nicht einfach so unterkriegen lassen würde.
Dann entlud sich seine Wut in einem Schrei. Er schlug auf die Wände ein, biss sich selbst, fügte sich Schmerzen zu, um den Schmerz in seiner Seele zu betäuben, rammte den Kopf immer wieder gegen die Wände, bis er schließlich halb ohnmächtig zusammenbrach und seinen Tränen freien Lauf ließ. Und dann befiel ihn wieder die alte Hoffnungslosigkeit, er befand sich wieder in seiner Depression, stellte sich die gleichen wirren Fragen und braucht immer länger, um sich an die Leute zu erinnern, denen er einmal vertraut hatte. Und dann kam wieder eine Attacke, in der er, halb panisch, halb wütend, sich selbst wehtat und doch nicht den Schmerz betäuben konnte, der tief in ihm drin war und ihn langsam, aber sicher zerfraß. Nur wurden diese Anfälle immer seltener, bis sie schließlich irgendwann ganz aufhören sollten.
Und dann, am Morgen – er wusste nicht, dass es tatsächlich der Morgen war – am Morgen des vierten Tages in diesem Loch, fasste Richard einen Entschluss: Er wollte sterben. Das wollte er eh schon die ganze Zeit, aber jetzt fällte er ganz bewusst diese Entscheidung.
Scheiß drauf, was ihm eingeredet worden war, scheiß drauf, ob es stimmte oder nicht und vor allem scheiß drauf, wem er noch vertrauen konnte – er hatte keine Kraft mehr. Weder seelisch, noch körperlich. Es war allemal besser, hier zu sterben, als das, was ihn noch erwartete.
Denn selbst, wenn er gefunden werden sollte(und er musste auflachen bei dem Gedanken), es würde nie wieder so sein, wie es einmal gewesen war. Die Narben würden für immer bleiben, allerdings würden nur die auf seinem Körper sichtbar sein. Er würde vermutlich mit keinem Menschen mehr ein normales Gespräch führen können, einfach, weil er keinem mehr in die Augen sehen konnte, ohne irgendwelche Schuldgefühle zu haben. Und das wollte er nicht mehr. Er wollte, dass in seinem Kopf endlich Ruhe herrschte. Er wollte Frieden.
Also überlegte er jetzt ganz vernünftig, ganz gewissenhaft und zur Abwechslung mal im Vollbesitz seiner noch verbliebenen geistigen Fähigkeiten, wie er sich hier am besten umbringen konnte. Er könnte versuchen, sich irgendwie die Pulsadern aufzuschlitzen. Allerdings dachten seine Fingernägel nach wie vor nicht daran, noch einmal nachzuwachsen. Seine Zehennägel fielen auch flach, die wurden ihm nämlich regelmäßig geschnitten. Naja gut, er hatte ja noch Zähne. Er fuhr sich leicht über seine Arme. Überall konnte er neben den Messerschnitten auch zahlreiche Bissverletzungen fühlen. Aber würde das funktionieren? Er biss sich versuchsweise ins Handgelenk, ließ es dann aber bleiben. Immer noch nicht war er genügend gegen Schmerzen abgestumpft. Etwas, dass ihn schon wieder wütend machte. Aber das half ihm jetzt nicht weiter. Er beschloss trotzdem, sich diese letzte Möglichkeit im Hinterkopf zu behalten. Was hatte er noch für Alternativen?
Seine Finger tasteten sich zu einer Schüssel und einer Flasche. Natürlich! Es war so einfach! Er hörte auf, zu essen. Hunger verspürte er sowieso keinen mehr, das hatte schon vor Tagen – oder waren es Wochen? – aufgehört. Durst hatte er allerdings regelmäßig, er heulte einfach zu viel, stellte er fest. Nein, trinken würde er noch, aber Verhungern – warum nicht? Kein besonders schöner Tod, eigentlich auch viel zu langsam, aber wen interessierte das jetzt schon? So, wie es im Moment aussah, kam er sowieso nicht so schnell hier raus.
Damit rappelte er sich auf, nahm die Schüssel mit den Küchenabfällen darin und trug sie in die am entferntesten von seinem Lager liegende Ecke, die er als seinen „Scheißhaufen“, im wahrsten Sinne des Wortes, benutzte. Dann kippte er das Zeug aus und ging zurück. Er schnappte sich eine der beiden Decken, rollte sich zusammen und schlief ein.
Zwei Tage später machte sich Richards Entführer noch mehr Sorgen um seinen Schützling als es ohnehin schon der Fall war. Der Schwarzhaarige war unglaublich abgemagert. Er hatte sowieso schon ziemlich stark abgenommen, weil er immer nur das Nötigste bekam, aber jetzt war sein Zustand echt Besorgnis erregend geworden. Er schien das Essen aufgegeben zu haben und nur noch zu trinken. Der Jüngere hatte schon mehrmals versucht, Richard mit sanfter Gewalt zum Essen zu bewegen, war allerdings immer erfolglos geblieben. Er ahnte, was der Schwarzhaarige damit bezweckte: Er wollte sterben. Verdammt! Das war ja abzusehen gewesen. Jetzt war guter Rat wieder einmal teuer. Richard machte ja jetzt schon den Eindruck, als würde er die nächsten Stunden nicht überleben. Der Mann nahm seufzend sein Handy und wählte eine Nummer.
„Ja? Hast du Zeit?...Ja, sofort! Wir haben hier nämlich ein ernstes Problem...“
„Und du bist dir sicher, dass du das tun willst, ja?“
„Natürlich! Glaubst du etwa, ich will ihn sterben lassen? Da erscheint mir Zwangsernährung immer noch als die bessere Wahl...“
„Gut, wie du meinst. Wo ist er denn?“
„Komm mit.“
Richards Entführer hatte seinen Kumpel, den „Arzt“ angerufen. Der war mal wieder seine letzte Hoffnung. Seine Überlegung war ganz einfach: Wenn Richard freiwillig nichts aß, dann musste er eben dazu gezwungen werden.
Er führte seinen Kumpel in den hinteren Teil der Halle und drückte, dort angekommen, auf einen Schalter. Dann nahm er einen kleinen Schlüssel und legte ein Schloss im Boden frei. Er entriegelte und zog eine Art Falltür auf. Sein Kumpel pfiff durch die Zähne. „Nett...“, sagte er nur, dann stiegen sie nach unten. Im Gegensatz zu sonst was der Raum hell erleuchtet. Eigentlich hatte das der sogenannte Psycho vermeiden wollen, allerdings wusste er auch, dass sie das Licht jetzt brauchen würden.
Unten angekommen, sahen sie sich erst einmal um. Für Richards Entführer bot sich das gleiche Bild, wie schon seit zwei Tagen: Der Schwarzhaarige lag in seiner Ecke unter den Decken vergraben. Seine Wangen waren eingefallen, die Augen lagen tief in den Höhlen, er war bis auf die Knochen abgemagert.
„Ach du scheiße!“ Der Arzt wirkte ehrlich schockiert.
„Sag ich doch. Was glaubst du, warum du sofort kommen solltest?“
Richard reagierte nicht, als die beiden Jüngeren auf ihn zu kamen. Apathisch lag er da und starrte die Decke an. Langsam hob und senkte sich sein Brustkorb. Es schien, als würde er mit offenen Augen schlafen. Es schien, als ob er auf etwas wartete. Der Arzt trat zu ihm und hockte sich hin.
„Hey!“, sprach er ihn an. „Kannst du mich hören?“ Richard schien ihn zunächst nicht wahrzunehmen. Dann jedoch drehte er langsam den Kopf in seine Richtung, sah ihn mit leeren Blicken an und nickte noch langsamer.
„Gut...“ Da war jemand ernsthaft bemüht, die Fassung nicht zu verlieren. „Ich bin hier, weil ich gehört habe, dass du in letzter Zeit nichts mehr isst...“ Richard drehte den Kopf wieder weg und starrte die Decke an. Er wirkte enttäuscht, fast schon verärgert.
„Ich deute das mal als ein Ja... Nun, dir ist sicher klar, dass du sterben wirst, wenn du so weiter machst, oder?“ Keine Reaktion. „Nun gut.“, sagte der Arzt nun leicht verunsichert. Er wusste nicht, wie er es am besten ausdrücken sollte.
„Das ist jetzt also deine letzte Chance, freiwillig etwas zu essen. Ansonsten werde ich dir wohl oder übel eine Magensonde legen müssen...“
Richard schloss die Augen. Warum ließen sie ihn nicht einfach sterben? Oder war er es nicht einmal dazu mehr wert? Aber wenn er es weder wert war zu sterben, noch zu leben, was war er dann? Etwas dazwischen gab es doch nicht oder? Dann sagte er mit erschreckend klarer, gefasster Stimme: „Dann macht doch...“ Er gab es auf. Er hatte nun schon zweimal versucht, sich aus der Welt zu schaffen, sich selbst und allen anderen einen Gefallen zu tun, aber es sollte wohl nicht sein.
„Gut...“, hörte er nun eine Stimme neben sich. „Wenn du es nicht anders willst...Dann bleib jetzt ruhig, das wird jetzt gleich ein wenig unangenehm werden...“
Richards sagte nichts zu dieser Ankündigung. Er hielt die Augen weiter geschlossen und tat das, was er in letzter Zeit eigentlich viel zu oft getan hatte: Er wartete. Wartete, dass wieder etwas mit ihm angestellt wurde, das er eigentlich gar nicht wollte. Er spürte, wie sein Kiefer gepackt wurde, doch er regte sich nicht. Er hatte nicht die Kraft, um sich zu wehren und er wollte sie auch gar nicht haben. Sein Peiniger hatte ihm nicht nur den Willen zum Leben, sondern auch den Willen zum Sterben genommen. Jetzt spürte er, wie etwas durch sein linkes Nasenloch geschoben wurde und sich weiter in seinen Rachenraum schob.
„Du musst jetzt schlucken und zwar so lange bis ich dir sage, dass du aufhören kannst, ok?“ Richard schluckte. Und noch mal. Und noch mal. „Ok, ist drin, kannst aufhören...“
Er spürte, wie das Ding in seine Speiseröhre kam. Leicht regte sich in ihm der Reflex, das Ding wieder zu erbrechen, doch er war nicht stark und hielt auch nicht sehr lange an. Er spürte, wie sich die Sonde in seinen Magen schob. Es war kein angenehmes Gefühl, doch er nahm es nur entfernt wahr. Schließlich hörte es auf. Jetzt wurde der Schlauch an seiner Nase fixiert und er atmete tief durch. Er bekam nicht mehr mit, wie der Arzt seinem Kumpel noch ein paar Anweisungen gab. Das Ganze war zu anstrengend für ihn gewesen und so schlief er jetzt erschöpft ein.
Richards Entführer hatte die gesamte Prozedur schweigend beobachtet. So ganz wohl war ihm ja nicht in seiner Haut, als er zusah, wie der dünne Schlauch durch Richards Nase geschoben wurde. Als sein Kumpel fertig war, sah er den sogenannten Psycho ernst an.
„So...ich zeige dir jetzt, wie man damit umgeht, klar? Das kann nämlich sonst ganz schön ins Auge gehen. Du wirst, solange die Sonde drin ist, aller paar Stunden kontrollieren müssen, ob noch alles in Ordnung damit ist. Dabei musst du ihm auch etwas zu essen geben, sonst wird er sterben. Hast du das verstanden?“ Ein Nicken. „Gut, dann zeige ich dir jetzt, wie du ihm was zu essen geben kannst...“
Und das tat er dann auch. Er holte etwas, das aussah, wie eine überdimensionale Spritze, in der sich ein ziemlich dünnflüssiger Brei befand. Die setzte er am Schlauchende an und drückte das Zeug langsam hinein. Dann spülte er mit klarem Wasser nach.
„Wichtig ist, dass du immer nachspülst, sonst verklebt das Ganze. Ich komm morgen noch mal, bis dahin hoffe ich mal, dass du alleine klar kommst. Falls du mich schon eher brauchst, ruf mich an, das...“
„...kostet dann aber extra, ich weiß, ich weiß...“, kam es genervt von dem Jüngeren. Als ob er das nicht selber wüsste. Er begleitete seinen Kumpel nach draußen, wo er ihn, wie schon das letzte Mal, ausbezahlte und sich dann verabschiedete. Dann ging er wieder nach drinnen in den hinteren Teil der Halle und stieg zu Richard hinab. Er setzte sich neben sein Opfer und wartete geduldig darauf, dass dieses wieder erwachte.
Pause - ein Lichtblick?
Richard erwachte nur vier Stunden später und das erste, was er feststellte war, dass eine ungewohnte Helligkeit herrschte. Das verwunderte ihn. Warum war es so hell? Er war doch immer noch hier in diesem Raum, oder? Aber hier war es doch sonst immer dunkel gewesen. Richard verstand die Welt nicht mehr. Er spürte etwas in seinem Rachen. Was war das? Er musste eine Weile überlegen, dann fiel ihm ein, was passiert war.
Mühsam unterdrückte er die Tränen und die aufkommende Wut. Er konnte fühlen, wie die Nahrung seine Lebensgeister neu entfacht hatte. Und deshalb konnte er sich jetzt auch nicht mehr so einfach damit abfinden, dass andere Leute, vor allem eine ganz bestimmte Person, über ihn und sein Leben entscheiden sollten. Auf der anderen Seite: Hatte er denn überhaupt eine Wahl? Nein, die hatte er nicht wirklich und genau das war es, was ihn so verrückt machte. Und jetzt meldete sich auch noch sein Körper mit seinen ganz natürlichen Bedürfnissen zurück. Er hatte Hunger und Durst. Richard resignierte, wieder einmal. Es wurden einem auch nichts geschenkt, nicht einmal der Tod.
Die Stimme seines Entführers riss ihn aus den Gedanken. Erst jetzt bekam er mit, dass der ja neben ihm saß. „Hey, du bist ja wach!“, meinte der Psycho. Die Erleichterung war ihm anzuhören. Richard wurde bei diesem Tonfall schlecht. „Wie fühlst du dich?“ Der Ältere sah ihn einfach nur an. Er musste nichts sagen, sein Blick sprach Bände. Sein Entführer zuckte leicht zurück. Er hatte sein Opfer noch nie wütend erlebt. Resigniert und enttäuscht ja, aber wütend?
Doch es stimmte: Richard war wütend. Wütend auf die Welt, auf die Leute, denen er mal vertraut hatte, dass sie nichts unternahmen, sondern in aller Ruhe im Internet zusahen, wie er hier fertig gemacht wurde. Wütend auf seinen Entführer, der ihm das alles antat und anscheinend keine Skrupel deswegen hatte. Und schlussendlich wütend auf sich selbst, dass er sein Schicksal nicht einfach akzeptieren konnte. Schließlich war er doch schuld, oder? Warum sollte er da sauer auf die anderen sein? Er war schuld. Er war wertlos. Er hatte vermutlich gar nicht das Recht dazu, auf irgendjemanden wütend zu sein.
Sein Entführer stand schnell auf, um diesen Blicken auszuweichen und Richard schloss die Augen. Jetzt hatte er bestimmt einen Fehler gemacht. Das konnte ihm teuer zu stehen kommen. Schließlich durfte er sich keine Fehler erlauben, oder? Das stand ihm doch auch nicht zu, oder?
Er hörte, wie der Jüngere wiederkam und fixierte ihn erneut mit seinen Blicken. Doch diesmal konnte man keine Wut darin erkennen, viel mehr lag etwas Entschuldigendes in seinen Augen.
„Tut mir leid...“, flüsterte er dann mit belegter, rauer Stimme. Sein Entführer sah ihn erstaunt an, dann jedoch lächelte er.
„Ist doch nicht so schlimm.“, meinte er nur. „Du solltest erst einmal etwas essen. Hast du Hunger?“ Richard nickte schwach. In seinen Augen standen schon wieder die Tränen. Der Jüngere sah es und kniete sich zu ihm.
„Hey, ist doch gut. Hör auf zu weinen, ist doch gut...“, flüsterte er und strich dem Älteren sanft durch die Haare. Richard schmiegte dankbar für die Nähe und die Zuwendung den Kopf an die tröstende Hand und beruhigte sich nach einiger Zeit dann auch. Langsam döste er wieder weg. Nur entfernt bekam er noch mit, wie ihm durch die Sonde erneut Nahrung verabreicht wurde, dann war er auch schon wieder eingeschlafen.
Die nächsten beiden Tage verbrachte der Psycho damit, Richard wieder aufzupäppeln. Alle zwei bis drei Stunden versorgte er ihn mit Nahrung und Wasser und der Schwarzhaarige wehrte sich nicht dagegen. Er lag die meiste Zeit ruhig da, schlief auch viel, nur ab und zu stand er auf, um ein paar ganz bestimmten natürlichen Bedürfnissen nachzukommen. Strengte ihn das am Anfang noch ziemlich an, wurde es doch mit der Zeit immer besser. Schließlich konnte er sich wieder einigermaßen auf den Beinen halten. Der Raum war meist dunkel, doch Richard störte sich nicht mehr an der Finsternis. Er war sogar ziemlich dankbar dafür. Die Dunkelheit ließ seine Gedanken, ganz im Gegensatz zu den vorigen Tagen, zur Ruhe kommen, ganz einfach deshalb, weil er viel zu müde war, um im Dunkeln lange die Augen offen zu halten.
Der „Arzt“ war noch einmal da gewesen, um neue Flüssignahrung vorbei zu bringen. Dabei hatte er Richard auch den Umgang mit der Sonde erklärt, damit der sich bei Bedarf auch selbst versorgen konnte, denn sein Entführer hatte in diesen Tagen kaum Zeit für ihn. Und obwohl der Schwarzhaarige eigentlich dafür dankbar sein konnte, vermisste er den Jüngeren. Egal, was dieser ihm bis jetzt angetan hatte, seine Nähe hatte immer gut getan. Auf Richards Frage, wann er die Sonde denn endlich wieder loswerden könne, konnte ihm der Arzt keine Antwort geben. Er richtete sich immer nach den Wünschen seiner „Kunden“, in dem Fall war es ein gewisser Psycho, und den konnte er gerade nicht fragen.
Sein Kumpel stand nämlich draußen in der Halle und wickelte gerade ein Geschäft mit ein paar Leuten ab. Endlich hatten sich Käufer für die Autoteile gefunden. Und sie würden einen guten Preis zahlen. Dann hatte das Versteck spielen endlich ein Ende. In den letzten Tagen hatte Richards Peiniger immer ziemlich aufpassen müssen mit dem, was er tat und wann er zu dem Schwarzhaarigen hinunter stieg, da einige Leute nicht wirklich wissen mussten, dass er momentan einen Untermieter hatte und vor allem mussten sie nicht wissen, WER das war und in welchen Zustand er sich befand.
Der Psycho verabschiedete seine Kundschaft. Morgen hatte er wieder die Halle für sich und übermorgen würde er mit einem letzten Video die Welt schocken, das wusste er. Und dann würde er hoffentlich seine Ruhe haben und sich endgültig Richard widmen können. Er freute sich schon darauf. Und WIE er sich schon darauf freute.
Er stieg in den kleinen Raum hinunter. „Jetzt kannst du ihn ja fragen...“, hörte er zur Begrüßung. Er sah die beiden Personen in dem Raum erstaunt an. Richard saß ruhig da, den Rücken gegen die Wand gelehnt, die Augen geschlossen. „Sein“ Arzt hockte neben ihm und war gerade damit beschäftigt, seine Gerätschaften wieder einzusammeln.
„Wer kann wen was fragen?“, kam es verwirrt von dem Jüngsten der drei. Richard schlug die Augen auf und fixierte seinen Peiniger mit fragenden Blicken. Dann sagte er vorsichtig: „Ich...ich wollte eigentlich nur...wissen, wann...ich das Ding hier...“ Er tippte auf das kurze Schlauchende, das aus seiner Nase hing. „...wann ich das Ding...wieder loswerden kann...“ Dann schloss er die Augen wieder und wartete auf die Schmerzen. Er wusste, er hätte eigentlich keine Frage stellen dürfen. Schließlich war er doch... Die Stimme seines Entführers riss ihn aus den Grübeleien, noch bevor er diesen Gedankengang beenden konnte: „Nun, das liegt ganz bei dir. Wenn du dich weiterhin weigerst, etwas zu essen, dann wirst du das „Ding“ so schnell natürlich nicht loswerden...“
Richard nickte. Er verstand. So ganz unangenehm war ihm die Sonde ja eigentlich nicht, wenigstens musste er nicht schmecken, was ihm da zugeführt wurde und er musste sich auch nicht wirklich aktiv am Essen beteiligen. Das nahm ihm ein paar Schuldgefühle gegenüber sich selbst, denn schließlich hatte er ja sterben wollen, aber eigentlich wollte er es ja auch nicht, oder? Ja, was denn nun? Wollte er sterben oder wollte er es nicht? Er wusste es nicht. Er konnte sich nicht so wirklich entscheiden.
Wieder holte ihn die Stimme seines Entführers in die Wirklichkeit zurück: „Also was ist jetzt? Willst du die Sonde nun loswerden, oder nicht?“
Richard überlegte, doch jetzt nicht sehr lange. Er fand es schon besser, nicht mehr mit einem Schlauch im Hals durch die Gegend zu laufen.
„Ja...doch...ich will sie loswerden. Ich...ich werde auch wieder...alleine essen...ich...ich verspreche es...“ Er schloss die Augen. Schon wieder kam er sich vor, als hätte er damit sein eigenes Todesurteil gesprochen, sich bedingungslos ausgeliefert und er hasste dieses Gefühl. Andererseits wollte er auch nicht auf die Nähe eines anderen Menschen verzichten, eines Menschen, der sein Geheimnis teilte, der wusste, dass er an allem schuld war und der ihn trotzdem nicht verstieß. Er hasste sich selbst für solche Gedanken und Gefühle, doch er konnte nichts gegen sie tun. Er spürte eine Berührung an der Schulter und zuckte zusammen. Dann hörte er eine vertraute Stimme neben sich: „Gut, dann wollen wir also mal...ok?“ Richard sah auf und nickte.
„Kann ich irgendetwas tun?“, fragte sein Entführer und sah den „Arzt“ durchdringend an.
„Ja, du kannst ihn festhalten. Das Herausziehen der Sonde ist nämlich mindestens genauso unangenehm wie das Legen...“, war die Antwort. Richard schloss die Augen wieder, dann spürte er, wie sein Peiniger ihm den Arm um die Schultern legte. Gleichzeitig wurde er wieder am Kiefer gepackt. Bei jeder Berührung zuckte er leicht zusammen.
„Hey, ganz ruhig, cool bleiben, ja? Wir tun dir doch nichts...“ Richard erwiderte nichts darauf. Er wusste, dass das nicht stimmte und er wusste, dass die anderen beiden das ebenfalls wussten, trotzdem glaubte er es. Das war zwar unlogisch, doch war ihm das ziemlich egal. Er wusste schon längst nicht mehr, ob er seinen Gedanken und Gefühlen noch trauen konnte, ob er sich selbst oder anderen Menschen noch trauen konnte und so nahm er es einfach hin.
Er spürte, wie der „Arzt“ die Fixierung des Schlaues an seiner Nase entfernte und dann langsam zog. In Richard regte sich der Würgereflex, stärker als beim letzten Mal, und er tat alles, um diesen zu unterdrücken. Er bemerkte, wie ihm die ganze Zeit beruhigend über den Kopf gestrichen wurde und sein Entführer sanft auf ihn einredete.
Das unangenehme Gefühl des Herausziehens der Sonde hielt weiter an, doch er hatte sich noch einigermaßen im Griff. Es funktionierte auch einigermaßen, bis die Sonde Richards Rachenraum passierte. Jetzt hatte der Schwarzhaarige sich endgültig nicht mehr unter Kontrolle und er erbrach sich. Gleichzeitig bekam er einen neuerlichen Hustenkrampf. Nur entfernt hörte er die beruhigende Stimme „seines“ Psychos neben sich: „Hey, ganz ruuuhiiig, schhhh, ruuuhiiiig, es ist gleich vorbei, ruuuhiiig...so ist es gut...na komm, leg dich hin, gut so, gleich geht’s wieder...gaaanz ruuuhiiig...“
Er spürte, wie ihn jemand hinlegte und er wehrte sich nicht dagegen. Wie denn auch? Langsam klang der Husten ab. Richard atmete schwer. Erst jetzt bemerkte er, dass sein Kopf im Schoß seines Entführers ruhte, der ihm immer noch durch die Haare streichelte. Merkwürdigerweise empfand er das nicht mal als unangenehm, sondern er drängte sich näher an den Menschen, der ihm Wärme und auch Trost gab.
„Sag mal, hast du das noch öfter? Die Hustenkrämpfe meine ich...“ Richard schlug die Augen auf und sah den Arzt vor sich hocken. Er nickte zur Bestätigung.
„Und sonst hast du aber keine Beschwerden, zum Beispiel Fieber oder so?“ Ein Kopfschütteln.
„Nicht...das ich wüsste...“, sagte Richard heiser. Er war schon wieder unglaublich müde und konzentrierte sich deshalb auf das beruhigende Kraulen in seinen Haaren.
„Hmm, das war ja abzusehen...“, hörte er nun die Stimme des Arztes. Der schien sich jetzt an seinen Kumpel zu wenden.
„Er hat mit den typischen Nachwirkungen einer Lungenentzündung zu kämpfen. Das bedeutet jetzt für dich: Du musst aufpassen, was du ihm zumutest. Kälte und schlechte Ernährung ist erst einmal tabu. Er muss sich immer noch erholen, vor allem nach dieser Hungerkur...“
Wie zur Bestätigung kam es plötzlich von Richard: „Ich hab...Hunger...“ Er hörte ein liebesvolles Lachen und das Gekraule ging in ein Streicheln über.
„Na das hört man doch gern. Mal sehen, ob ich noch was für dich finden...“
„Warte!“, unterbrach der Arzt seinen gut gelaunten Kumpel. „Du musst es langsam angehen lassen, sonst bringt er dir alles wieder raus. Am besten, du lässt erst mal die feste Nahrung weg. Das verträgt er sowieso noch nicht. Er muss außerdem viel trinken...“
„Und was soll ich ihm dann geben?“, unterbach der Psycho leicht gereizt. „Babybrei vielleicht?“
„Ja, das wäre zumindest ein Anfang. Und dann musst du den Guten langsam wieder an feste Nahrung gewöhnen...“
Richard horchte auf. Babybrei? Naja, eigentlich logisch, oder? Das Zeug, was ihm immer durch die Sonde verabreicht worden war, war bestimmt auch nichts anderes gewesen...
Richards Entführer rollte genervt mit den Augen. Seine letzte Aussage hatte er eigentlich nicht ernst gemeint. Er seufzte. „Naja, wenn du meinst...
Was sagst du eigentlich dazu?“ Die Frage richtete sich an den Schwarzhaarigen. Der war völlig überrascht, dass er überhaupt nach seiner Meinung gefragt wurde und so sagte er jetzt auch das, was ihn im Moment bewegte: „Mir egal...Hauptsache...was zu essen...“
Wieder hörte er ein Lachen. Er fragte sich, was heute wohl so lächerlich an ihm war. Vermutlich war er immer lächerlich, nur bekam er das jetzt erst richtig mit.
„Ok, dann werde ich mal suchen, ob ich irgendwo noch sowas habe...“, meinte sein Entführer immer noch glucksend. Er stand auf und legte Richard vorsichtig auf die Decken. Dann verschwand er für kurze Zeit und kam bald darauf mit einem kleinen Gläschen und einem Löffel zurück. Richard bemerkte es und versuchte sich vorsichtig aufzusetzen.
„Lass es langsam angehen, ja? Du kannst zur Not auch liegen bleiben...“ Der Schwarzhaarige schüttelte nur leicht den Kopf und schaffte es schließlich, sich in eine aufrechte Position zu bringen und den Rücken gegen die Wand zu lehnen. Sein Peiniger schraubte das Glas auf und rührte den Inhalt mir dem Löffel leicht durch.
„Meinst du, du kannst etwas festhalten?“, fragte er dann und hielt dem Älteren den Löffel hin. Der versuchte zuzufassen, gab dieses Vorhaben jedoch schnell wieder auf. Seine Finger waren zur Feinmotorik einfach noch nicht zu gebrauchen, dazu schmerzten sie eindeutig noch zu stark.
„Nun gut, dann muss ich dich eben doch füttern...Mund auf.“ Richard fragte sich, WIE tief man eigentlich noch sinken konnte, aber letztendlich war es ihm egal. Er bekam etwas zu essen und das war das Wichtigste. Sein ausgezehrter Körper gierte nach Nahrung und seinem mittlerweile auf die Überlebensinstinkte reduzierten Gehirn war es egal, wie er ans Ziel kam. Also machte er den Mund auf und ließ sich wie ein kleines Kind füttern.
„Aber wehe, du spuckst!“, kam es da gut gelaunt von seinem Gegenüber.
„Bist ja auch selber schuld! Was reißt du dem Armen auch die Fingernägel raus?“, meinte dessen Kumpel kopfschüttelnd. Der Angesprochene zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung...“, meinte er dann. „Ich hatte einfach Lust...“ Damit fuhr er fort, den Schwarzhaarigen zu füttern.
Sowohl Richard als auch der Arzt konnten kaum glauben, was sie da hörten. Allerdings warf es den Älteren nur noch wenig aus der Bahn. Er sperrte weiter brav den Mund auf und schluckte den Brei hinunter. Nach einem halben Glas schüttelte er allerdings den Kopf, wollte nichts mehr essen. In seinem Magen regte sich etwas.
„Was ist denn jetzt auf einmal los? Hattest du nicht vorhin gesagt, dass du...“
„Jetzt warte doch mal!“, unterbrach der Arzt den wütenden Psycho. „Ich glaube, er hat seine Gründe...
Alles klar bei dir?“ Mit dieser Frage wandte er sich an Richard. Der hatte die Hand auf den Bauch gepresst und war kreidebleich im Gesicht. Krampfhaft versuchte er, ein Würgen zu unterdrücken. „Mir...ist schlecht...“, brachte er keuchend hervor.
„Oh oh, das konnte ich mir schon denken...Trink was, tief durchatmen, ganz ruuuhiiig...“ Der Arzt hielt Richard die Flasche mit dem Aufsatz vors Gesicht und der Schwarzhaarige begann, das Wasser in seinen Mund zu saugen. Langsam beruhigte er sich wieder.
„Was war das denn?“ Richards Entführer hörte sich leicht schockiert an.
„Naja, ich hab ja gesagt, dass ihr es langsam angehen lassen müsst. Der Gute verträgt eben noch nicht so viel...“
Ein Seufzen. „Ok, dann lassen wir es eben für heute...“
Richard bekam das Gespräch nicht wirklich mit. Er döste mal wieder weg. Nur entfernt spürte er noch, wie ihn jemand am Umfallen hinderte, er sanft auf die Decken gelegt wurde und ihn jemand zudeckte. Das liebevolle Kraulen an seinem Kopf war das Einzige, was er noch spürte bevor die Dunkelheit wieder endgültig von ihm Besitz ergriff.
Als Richard am nächsten Morgen erwachte, stellte er drei Dinge fest: 1. Es war hell. 2. Er konnte sich nicht mehr ausstrecken. 3. Ihm war kalt. Er schlug die Augen auf und sah, dass er wieder in dem kleinen Käfig lag.
‚Ok, sieht wohl so aus, als wäre die Schonzeit jetzt vorbei...’ Das war das Einzige, das ihm dazu einfiel. Und dann, er wusste nicht wann und er konnte es auch nicht kontrollieren, dann befiel ihn plötzlich wieder die alte Angst. Die Angst vor den Schmerzen, die Angst vor der Demütigung, die Angst vor dem Sterben. Die letzten Tage war diese Angst fast verschwunden gewesen, sie wurde ersetzt durch Einsamkeit, Hilflosigkeit und auch das sich langsam aufbauende Vertrauen zu seinem Entführer. Doch diese Tage hatten noch etwas anderes in Richard geweckt, etwas, das jetzt stärker als vorher vorhanden war: Seine Instinkte. Und die einsetzende Angst schürte diese Instinkte.
Er spürte geradezu, wie sich alles in seinem Kopf, sein gesamtes Denken nur auf eine einzige Sache ausrichtete: Überleben. Alles andere wurde von diesem Gedanken verdrängt. Seine Schuldgefühle, seine Scham, die Abscheu vor sich selbst, das war alles wie weggewischt, die Angst war die Einzige, die blieb. Und Angst und der Wille zum Überleben, zum Durchhalten bedingten einander. Beides sensibilisierte ihn für seine Umwelt. Er nahm Sinneseindrücke bewusster wahr, spürte sie geradezu am ganzen Körper. Darum horchte er jetzt auch auf. Er hatte ein Geräusch gehört, ein leises nur, doch er glaubte zu wissen, was das war. Sein Peiniger war aufgewacht und machte jetzt vermutlich das, was alle normalen Menschen am Morgen so tun: Sich anziehen, frühstücken, wahrscheinlich sogar Zähne putzen.
Richard schauderte. Es widerte ihn an, sich diesen kranken Irren als normalen Menschen vorzustellen. Was würde er wohl heute vorhaben? Der Schwarzhaarige überlegte. Welcher Teil an seinem Körper war denn noch unverletzt? Eigentlich keiner, dieser Typ hatte sogar sein Innerstes misshandelt, bis auf seinen Rücken. Der war bis jetzt immer ausgespart worden. Nun gut, seine Schultern waren auch schon hinüber, aber sonst? Also stand das heute auf dem Programm. Richard stellte sich schon mal darauf ein.
Er sah auf. Die Geräuschkulisse hatte sich geändert. Sein Entführer war fertig mit dem, was „normale“ Menschen am Anfang des Tages so trieben, jetzt ging er wieder zu dem über an dem nur Psychopathen wie er Spaß fanden. Richard hörte seine Schritte näher kommen. Es war schon merkwürdig, dass er das gerade jetzt so dominant wahrnahm, eigentlich hätte er ganz gerne darauf verzichtet. Denn wenn seine Sinneseindrücke schon so intensiv waren, wie stand es dann um sein Schmerzempfinden?
Die Angst steigerte sich. Er musste aufpassen, sonst würde er wieder eine Panikattacke bekommen und das war das Letzte, was er wollte. Er musste sich etwas einfallen lassen, um sich abzulenken. Doch wie sollte er das anstellen?
‚Am besten ich denke daran, wie es war, bevor ich hierher kam. Egal, was es ist, es ist bestimmt allemal besser als diese Hölle hier...’ Das tat er dann auch. Aber jetzt bekam er erst richtig Angst. Er konnte sich jetzt schon an so gut wie nichts mehr erinnern. Was war, bevor er hierher gekommen war? Er wusste es nicht oder besser gesagt nicht mehr. Das Einzige, was er fühlte, war Enttäuschung, eine einzige riesige Enttäuschung. Und immer wenn er versuchte, der Ursache dafür auf den Grund zu gehen, drängten sich die Bilder von der Zeit hier in sein Gehirn. Bilder in der er das Geschehen nicht nur von seiner Perspektive sah, sondern auch von der eines neutralen außenstehenden Betrachters. Merkwürdigerweise konnte er nur vom letzteren Standpunkt aus ein klares Bild von dem bekommen, was passiert war, alles andere endete bei ihm in einem Gefühlschaos. Er konnte nicht wissen, dass das später noch einmal für ihn sehr sehr wichtig werden würde.
Er sah, nein spürte, wie ein Schatten auf ihn fiel und blickte nach oben. Sein Peiniger stand lächelnd vor dem Käfig und war gerade damit beschäftigt, diesen zu öffnen. Richard war sich darüber im Klaren, dass dies seine Chance zur Flucht war. An seinen letzten gescheiterten Fluchtversuch erinnerte er sich zwar noch gut, aber dies hier war etwas Anderes. Jetzt war er einigermaßen bei Kräften, er fühlte sich sogar in der Lage wegzulaufen, sollte es erforderlich sein. Die Angst schwand. Vorerst.
Er hörte ein Quietschen, was ihm eine Gänsehaut verpasste. Bevor er sich versah, hatten ihn zwei Hände an den Schultern gepackt und aus dem Käfig gezogen.
„Na das ist ja mal ´ne Überraschung. Du bist wach. Auch nicht schlecht, dann bekommst du ja heute alles live und in Farbe mit.“ Ein Lachen. Richard sah ihn an, in seinen Augen glomm der pure Hass.
Sein Entführer zuckte leicht zurück. Es behagte ihn nach wie vor nicht, wenn sein Opfer wütend war. Wut bedeutete Kontrollverlust. Kontrollverlust bedeutete Scheitern. Und Scheitern bedeutete das Ende. Und das wollte er nicht. Er musste dem Ganzen einen Riegel vorschieben, bevor der Schwarzhaarige am Ende noch aufmüpfig wurde.
„Na sieh doch mal einer guck, was schaust du denn so böse? Dir muss ja ein ganzes Heer von Läusen über die Leber gelaufen sein, wenn du so einen Blick drauf hast...“ Richard wandte sich ab, dann stand er auf. Zwar wurde ihm dabei kurz schwarz vor den Augen, aber dann stand er doch sicher auf seinen Füßen und bedachte seinen Entführer immer noch mit dem gleichen wütenden Blick wie schon zuvor. Nur war jetzt auch Entschlossenheit darin.
Sein Entführer wich vor ihm zurück. Für einen Außenstehenden wäre das jetzt ein interessant zu beobachtendes Schauspiel gewesen. Da hatte doch tatsächlich ein kräftig gebauter junger Mann, vielleicht so Anfang 20, Angst vor seinem abgemagerten viel schwächeren und auch noch doppelt so alten Gegenüber.
Richard machte einen Schritt vorwärts. Es war nicht nur die Wut und die Entschlossenheit, die ihn dies tun ließ. Es war auch zum Teil der Mut der Verzweiflung. Was hatte er denn schon zu verlieren? Nichts, absolut nichts, nicht einmal das Leben, das wusste er. Und ein Gegner, der nichts zu verlieren hat, ist immer noch der schlimmste und gefährlichste. Richard konnte sich zwar kaum noch an etwas aus seinem eigentlichen Leben erinnern, aber das war jetzt, in diesem Augenblick unwichtig. Seine innere Stärke war wieder da, vielleicht war sie auch nie weggewesen, und sein Überlebenswille war ausgeprägter als je zuvor.
Er machte noch einen Schritt vorwärts und sein Peiniger wich gleichsam einen Schritt zurück. Dann formulierte Richard mit erschreckend klarer fester Stimme, die keine Widerworte duldete, einen Satz: „Lass mich gehen!“
Der Psycho war wie erstarrt. Sein eigentliches Opfer scherte sich nicht großartig darum, sondern ging einfach an ihm vorbei mit festen Schritten auf die Tür zu. Richards Entführer sah ihm mit verständnislosem Blick nach. Auflehnung war er nicht gewohnt. Das verwirrte ihn. Das passte nicht in seinen Plan. In ihm tobte gerade ein harter Kampf:
‚Es ist vorbei...’
‚Nein ist es nicht!’
‚Doch, ich habe es vermasselt...’
‚Es ist erst dann vorbei, wenn du sagst, dass es vorbei ist!’
‚Aber er ist gegangen...’
‚Falsch! Er ist gerade dabei abzuhauen!’
‚Nein, er geht...einfach so...’
‚Ja, was hast du denn erwartet? Dass er einfach so hier bleibt?’
‚...’
‚Los! Jetzt tu schon was!’
‚Aber wenn er doch nicht mehr hier sein will...’
‚ER HAUT AB!!!’ Das ließ den Psycho aus seiner Starre erwachen. Er hastete seinem Opfer hinterher.
Richard hatte die Tür schon fast erreicht, als er hörte, spürte, wie sich sein Entführer aus der Starre löste. Mit ein, zwei schnellen Schritten war er bei der Tür und drückte die Klinke hinunter. Dann schob er die Tür auf und schlüpfte schnell hinaus. Licht blendete ihn, doch das bekam er nicht wirklich mit. Er rannte aus dem Schatten des großen Gebäudes hinaus in den Schnee. Selbiger war immer noch eiskalt, genauso wie die Luft um ihn herum, doch auch das nahm er kaum wahr. Er lief einfach. Lief, so schnell ihn seine Beine trugen. Er flog förmlich über den kaum noch sichtbaren Feldweg. Seine Lunge fing an, bedenklich zu schmerzen.
‚Oh nein! Jetzt bitte nicht, verdammt noch mal!’ Doch es war kaum aufzuhalten. Er versuchte, es zu unterdrücken. Hinter ihm holte sein Peiniger weiter auf. Doch der Husten war schneller.
Richard versuchte weiterzulaufen, doch er hatte keine Chance. Hustend und spuckend brach er zusammen und fiel auf die Knie. Er fing sich mit den Händen ab und rang keuchend nach Luft, als der nächste Anfall kam und seine Lunge brannte.
Schon war sein Peiniger hinter ihm. Wieder wurde sein Oberkörper brutal nach unten gedrückt, er wurde von hinten gepackt und dann vergewaltigte ihn der Jüngere erneut. Richard schrie auf, dann hustete er wieder, ihm liefen die Tränen über das Gesicht. Es war noch schlimmer, noch brutaler als beim letzten Mal. Sein Entführer schrie ihn dabei die ganze Zeit an: „Dachtest wohl, du kannst abhauen, was? Dich mir widersetzen? Denkst wohl, dass du auch was zu sagen hast? Merk es dir ein für alle Mal: Du. Bist. Wertlos! Klar?“, rief er im Takt seiner Stöße. Richard zuckte unter ihm, er wurde vom Husten und von Schluchzern geschüttelt.
„Du hast hier nichts zu melden! Und schon gar nicht hast du das Recht, irgendwelche Forderungen zu stellen! Du dürftest eigentlich gar nicht existieren! Es gibt nur einen Grund, warum du noch hier bist und zwar...“ Er unterbrach sich, dann kam er.
Richard spürte, wie sein Peiniger sich aus ihm zurückzog und er fiel endgültig in den Schnee. Zitternd und haltlos schluchzend lag er da. Der Psycho hatte es mal wieder geschafft, ihn tief in seinem Innersten zu treffen. Er sah müde, mit verweinten Augen auf, als er spürte, wie ein Schatten auf ihn fiel. Er hörte ein Klicken und ein Summen und dann durchfuhr ihn wieder dieser rasende Schmerz, er war komplett gelähmt. Richard wurde bewusstlos.
Rache, der vierte Teil
Richard erwachte nur kurze Zeit später in einer vertrauten Position: Mit Ketten, an den Armen hochgezogen, von der Decke hängend. Die ersten Krämpfe bahnten sich schon wieder an. Er hörte ein erneutes Summen, nur klang es diesmal anders, er hielt die Augen jedoch weiterhin fest geschlossen. Er wusste nicht, was schlimmer war: Die Schmerzen, die nun stärker als je zuvor seinen Körper beherrschten, oder das Bewusstsein darüber, dass er erneut missbraucht worden war. Beim Gedanken an das Letztere kamen ihm schon wieder die Tränen. Er spürte ein grobe Berührung am Hinterkopf und zuckte zusammen.
„Hey! Aufwachen! Was fällt dir eigentlich ein, dich mir zu widersetzen? Ich werde dir Beine machen, du wertloses Stück Dreck!“ Richard hielt es für besser, sich beim Klang der erbosten Stimme zu regen und schlug die Augen auf.
„Na also! Geht doch! Und jetzt schön stillhalten, sonst wiederholen wir das Ganze von vorhin und das willst du doch sicherlich nicht, oder?“ Mit dieser Drohung drängte sich der Psycho näher an sein Opfer.
Richard erstarrte. ‚Nein! Nicht schon wieder!’, ging es ihm durch den Kopf. Er spürte, wie er am Kinn gepackt wurde und das Summen näher kam. Was ging denn jetzt ab? Seine Augen wurden groß, als er erkannte, dass der Typ ihn gerade rasierte. Was hatte das denn jetzt zu bedeuten? Doch ehe er großartig zum Nachdenken kam, war sein Peiniger schon fertig, stellte das Summen ab und verschwand aus Richards Blickfeld. Er kam mit einer Schere wieder.
‚Toll, und jetzt?’ Mehr fiel dem Schwarzhaarigen dazu nicht ein. Er spürte, wie ihm durch die Haare gestrichen wurde.
„Hmm, eigentlich wollte ich dir ja den Kopf scheren, aber du hast so schöne Haare, weißt du, es wär schade, wenn die alle weg wären...“ Richard glaubte sich verhört zu haben. Doch er wurde eines besseren belehrt, als er spürte, wie die ersten Strähnen fielen.
„Hmm, ich glaube, wir können so fünf Zentimeter stehen lassen, oder?“ Keine Antwort. Der Psycho hatte auch keine erwartet. In Richards Kopf kreisten im Moment die Gedanken nur um einen Punkt: Was sollte das alles? Er wollte schon zu einer Frage ansetzen, aber sein Peiniger kam ihm, wie so oft, zuvor: „Du willst sicherlich wissen, was das alles soll, oder? Nun ja, ich möchte eigentlich nur, dass du gut aussieht, wenn das letzte Video auf Sendung geht...“
Richard schluckte. Das letzte Video? Was bedeutete das? War es dann zu Ende? Würde der Typ ihn dann umbringen? Richards Überlebensinstinkt regte sich. Er wollte noch nicht sterben. Er wollte leben. Aber wofür eigentlich? Was brachte ihm das Leben? Der Tod wäre doch eigentlich besser, oder?
‚Nein, ist er nicht!’, widersprach er sich selbst in Gedanken. Warum seine Gedanken in solch einem großen Gegensatz zu denen von vor ein paar Tagen standen, wusste er nicht. Vermutlich auch Überlebensinstinkt. Er sah nach unten. Überall lagen seine dunklen Haare herum. Sie waren in den letzten Tagen tatsächlich ganz schön lang geworden. Jetzt war sein Peiniger fast fertig und machte nur noch gewissermaßen die „Feinarbeit“. Zum Schluss wuschelte er ihm beinahe liebevoll durch die Haare. Richard wehrte sich nicht. Seine Instinkte sagten ihm, dass das taktisch klüger war, wenn er überleben wollte. Und das wollte er. Unbedingt. Trotzdem schien der Psycho seine Anspannung zu bemerken.
„Keine Sorge, mit diesem Video ist es nur für die da draußen zu Ende. Wir dagegen werden noch sehr lange und sehr viel Spaß zusammen haben, das kann ich dir jetzt schon versprechen...“ Richard nickte kaum merklich. In gewisser Hinsicht war er erleichtert. Er spürte, dass sich sein rechter Arm bald verkrampfen würde und atmete tief durch.
„Hey, was ist denn los?“, fragte ihn sein Entführer. Jetzt war er mal wieder ganz der Besorgte.
„Krampf.“, brachte der Schwarzhaarige gerade noch zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und dann kam besagter auch schon.
Richard schrie auf. Er versuchte, den Arm zu dehnen, was ihm allerdings nicht gelang. Seine Füße berührten gerade noch so den Boden, um seinen Körper zu stützen, somit blieb ihm auch keine Möglichkeit zur Entlastung. Er wartete mit zusammengebissenen Zähnen und angehaltenem Atem bis der Krampf endlich nachließ.
„Hmm...“, hörte er eine vertraute Stimme hinter sich, „...das ist aber nicht so gut, wenn du jetzt ständig wieder Krämpfe kriegst, hmm...“
‚Dann lass mich hier nicht in so einer beschissenen Position hängen, dann hätten wir das Problem beide nicht...’, ging es dem Älteren durch den Kopf.
„Hmm, muss ich mir wohl was einfallen lassen...“
‚Ja, lass mich runter und kette mich von mir aus wieder an die Wand, wenn du solche Maßnahmen wirklich für nötig hältst...’
„Was mache ich denn da nur?“
‚Wie wäre es, wenn du leise nachdenkst, das tu ich schließlich auch die ganze Zeit...’
Richard fragte sich, wie er so zynisch sein konnte. Auch Überlebensinstinkt?
‚Natürlich, dann behalte ich wenigstens einen klaren Kopf, wie praktisch...’
Er musste sich stark ein Augenrollen verkneifen.
„Ha! Ich hab ne Idee! Das is gut, das is sehr sehr guuut...“ Feixend verschwand er aus Richards Blickfeld. Jetzt rollte der Schwarzhaarige wirklich mit den Augen. Was hatte der Typ denn jetzt schon wieder mit ihm vor? Er hasste es, wenn der so happy war. Das bedeutete nämlich im Normalfall nichts Gutes. Und auch jetzt war das so.
Richard spürte, wie seine Arme auf einmal weiter in die Höhe gezogen wurden. Was ging den jetzt ab? Oh, fuck, das tat weh!
Jetzt berührten nur noch seine Zehenspitzen den Untergrund, im nächsten Moment hing er frei in der Luft, ein paar Zentimeter über dem Boden, seine Arme trugen sein ganzes Gewicht.
Richard stöhnte. Er wusste nicht, wie lange er das durchhalten würde.
Jetzt spürte er, wie sein Peiniger wieder hinter ihm stand und ihm sanft die Hände auf die Schultern legte. Dann flüsterte er ihm ins Ohr: „Ich hatte gerade eine ganze tolle Idee, willst du wissen, welche?“ Richard sagte nichts dazu und das konnte er auch nicht, denn im nächsten Moment wurde er brutal nach unten gedrückt. Seine Füße berührten schon fast wieder den Boden, als er ein Knacken hörte und er schrie so laut er konnte. Dann umfing ihn die gnädige Bewusstlosigkeit, sein Körper erschlaffte.
Der Psycho ließ ihn wieder mit den Füßen auf den Erdboden hinunter und dann hatte er eine Zeit lang einfach nur Spaß daran Richard zu betrachten, wie er an den ausgerenkten Armen von der Decke hing.
Ungefähr zwei Stunden später hing Richard nicht mehr von der Decke, sondern lag auf dem Boden in seinem eigenen Blut. Der Psycho kam mit einem ziemlich großen Eimer. Darin schwappte eine klare Flüssigkeit mit einem markanten Geruch. Richards Entführer kippte den kalten Alkohol über den Rücken des Schwarzhaarigen, doch der regte sich nicht. Er war bewusstlos. Dem Psycho kam das nur recht. Er ging zu seinem Computer und machte sich daran, das heutige, das letzte Video zu bearbeiten. Er musste noch ein bisschen was schneiden und ein paar Geräusche einfügen.
Eine halbe Stunde später lehnte er sich entspannt zurück und beobachtete die letzten Sekunden. Ein lauter Schrei, ein leises, kaum zu hörendes Knacken, ähnlich dem, wie es entsteht, wenn ein dürrer Zweig zerbricht, eine kleine Pause und dann wurde das Bild plötzlich schwarz. ‚Perfekt.’
Er klickte auf „Absenden“.
„My sickness slips inside you, drowning in my poison...“ Till kamen jedes Mal die Tränen, wenn er dieses Lied hörte. Er hatte ja gewusst, dass Richard sensibel war, aber wie sehr, das hatte er erst erkannt, als er Richards Album gehört hatte. Sein Freund gab darin so viel von sich preis. Till wusste nicht, ob er das auch könnte. Und immer wieder stellte er sich die gleiche Frage: Wenn Richard normal schon so ein Gefühlsmensch war, wie würde er sich erst verhalten, wenn sie ihn fanden? Ihn lebend fanden, wohlgemerkt. Schließlich hatten sie keine Ahnung, was dieser Irre mit ihm anstellte, wenn er mal kein Video drehte. Und das war jetzt schon lange Zeit so. Viel zu lange Zeit.
„In my tears...“ Till wischte sich die Tränen weg. Tatsächlich waren jetzt schon fast zwei Wochen, um genauer zu sein dreizehn Tage, vergangen, ohne, dass es irgendein Lebenszeichen oder eine Spur von Richard gegeben hätte. Die Videos kursierten nach wie vor im Internet, obwohl man sich alle Mühe gab, sie so schnell wie möglich zu löschen, sie tauchten irgendwo immer wieder auf. Aber für alle, die mit Richard zittern und hofften, dass er noch lebte, waren nicht die Videos das Schlimmste, sondern diese lange Zeit ohne Gewissheit. Die Polizei hatte immer noch keine neuen Erkenntnisse. Die Rammsteiner wussten auch nicht wirklich, wie es mit der Suche voranging. Hatten sie sich in der ersten Woche noch regelmäßig dort blicken lassen, kamen sie in der zweiten Woche immer seltener und zum Schluss gar nicht mehr. Till hatte das Gefühl, dass die Beamten auch gar nicht mehr so intensiv suchten. Wahrscheinlich gab es Fälle, die wichtiger waren. Klar, Richard war berühmt, und wie er das war, aber er war halt auch nur ein Mensch und wenn es kein Lebenszeichen mehr gab, dann verschwand er, wie die ganzen anderen ungelösten Fälle, irgendwann als irgendein Aktenzeichen in irgendeinem Archiv.
„In my tears...“ Es klingelte an der Haustür. Till drehte schnell die Musik leiser und ging dann in den Flur, um die Tür aufzumachen. Wer das wohl war? Es war später Nachmittag und er konnte sich nicht erinnern, dass er sich mit irgendjemandem verabredet hätte.
Er öffnete und als er die Personen vor seinem Haus erkannte, zeigte er keine Miene der Überraschung. Paul und Olli standen vor seiner Tür, beide völlig aufgelöst, Paul war wieder am Heulen.
„Was...“, setzte Till an, wurde aber von Olli unterbrochen.
„Können wir reinkommen?“
„Äh, ja klar...was ist denn los?“ ‚Blöde Frage...’, dachte sich Till im selben Moment. Es war doch klar, worum es ging. Oder eher um wen. Diese Überraschungsbesuche waren keineswegs ungewohnt, allerdings waren sie in letzter Zeit seltener geworden. Jeder der fünf hatte irgendwie auf seine eigene Weise versucht, mit dem Problem klarzukommen, aber irgendwie hatte es keiner von ihnen so wirklich geschafft.
Er sah zu, wie Olli Paul ins Wohnzimmer geleitete und ihn dann auf dem Sofa absetzte. Der Kleinere von ihnen schien das überhaupt nicht mitzubekommen. Er saß einfach nur da, starrte ins Leere, während ihm die Tränen über das Gesicht liefen. Bevor Till auch nur irgendetwas tun konnte, war Olli auch schon zu ihm auf den Flur getreten und begann mit leiser Stimme zu erzählen: „Er hatte einen Nervenzusammenbruch. Ich hab ihn auf der Straße aufgelesen, ich war eh zu dir unterwegs. Ich hab keine Ahnung, was passiert ist und was ich mit ihm machen soll, ich komme einfach nicht an ihn ran.“ Olli zuckte hilflos mit den Schultern. „Vielleicht kannst du ja mal dein Glück versuchen?“
Till zuckte ebenso hilflos mit den Schultern. „Wenn du meinst, dass das was bringt...dann kann ich’s ja mal versuchen...“
„Gut...vielleicht sollte ich mal die anderen anrufen, was meinst du?“
Till zuckte nochmals mit den Schultern, dann nickte er kurz und ging ins Zimmer. Paul saß immer noch da, wo Olli ihn hatte sitzen lassen und schien nichts um sich herum wahrzunehmen. Till ging langsam auf ihn zu und sprach ihn leise an: „Paul? Kannst du mich hören?“ Keine Reaktion. Till setzte sich neben ihn und berührte ihn leicht am Arm. Wieder keine Reaktion. Er sah, dass sein Freund die Lippen bewegte und versuchte, das Murmeln zu verstehen, was ihm allerdings nicht gelang.
„Paul?“, versuchte er es noch einmal. „Willst du mir sagen, was passiert ist?“ Er kam sich ein bisschen wie ein Psychiater vor, allerdings schien es zu funktionieren, oder auch nicht. Paul hatte nämlich gerade den Kopf geschüttelt. Naja, immerhin eine Reaktion. Till legte ihm den Arm um die Schulter und zog ihn zu sich. Sein Freund wehrte sich nicht. Er schien auch das nicht wirklich zu bemerken. Was war da wohl passiert? Waren ihm die letzten Tage schon so sehr über den Kopf gewachsen, dass es sich jetzt einfach entlud? Oder war da noch irgendetwas anderes gewesen, dass es seinen Freund so aus der Bahn warf?
Till hörte auf einmal ein leises Flüstern: „...zu Ende...nein...“
„Paul? Was hast du gesagt?“
„...schrecklich...so schrecklich...kann...nicht mehr...hör auf...bitte hör...endlich auf...“
Till konnte sich nicht so wirklich einen Reim auf diese bruchstückhaften Sätze seines Freundes machen. Er wusste nur eines: Irgendetwas ganz Schlimmes musste passiert sein, etwas, das alles andere noch toppte und er hoffte inständig, dass Richard in diesem Moment noch am Leben war.
Olli kam ins Zimmer. „Ich hab die anderen gerade angerufen, sie sind auf dem Weg...Hast du was aus ihm rausgekriegt?“ Till schüttelte nur den Kopf und zuckte hilflos mit den Schultern.
„Er murmelt ständig irgendetwas vor sich hin, aber ich kann mir keinen Reim darauf machen. Es muss irgendetwas Schreckliches passiert sein...“
Olli seufzte. „Meinst du, dass...dass Richard noch lebt?“ Till zuckte wieder nur mit den Schultern, ihm kamen die Tränen.
Beim Klang von Richards Namen hatte Paul aufgehorcht. „...Schwein...dieses verdammte...Schwein...hör auf...hör endlich auf...“ Till strich ihm unbeholfen über den Rücken.
„So geht das schon die ganze Zeit.“, kam es von Olli. „Ob vielleicht...“ Er konnte den Satz nicht vollenden, denn in dem Moment klingelte es an der Haustür.
„Ich geh schon...“, meinte Olli und war damit auch schon verschwunden.
Till sah ihm nach, dann hörte er vertraute Stimmen. Nur eine fehlte. Und vor allem fehlte die Person, zu der die Stimme gehörte. Seine drei Bandkollegen kamen ins Zimmer. Als sie den lethargisch dasitzenden Paul sahen, tauschten sie schockierte Blicke.
„Was ist denn passiert?“, kam es von Flake.
„Wissen wir auch nicht so genau. Ich hab ihn so auf der Straße gefunden...“, meinte Olli mit einem Kopfrucken in Pauls Richtung. Der hatte die Augen weit aufgerissen und starrte nach wie vor ins Leere, schien seine Umgebung nicht wirklich wahrzunehmen.
In dem Moment klingelte das Telefon, was sie zusammenschrecken ließ. Till nahm den Hörer ab, lauschte kurz und beendete mit einem „Wir kommen sofort“ das Gespräch. Als er sich seinen Freunden zuwandte, war er kreidebleich. „Es ist ein neues Video aufgetaucht...und sie haben Richard für tot erklärt...“
„Sie haben WAS?“, fragte Schneider geschockt, er schrie fast.
„Das können die doch nicht machen! Was...“
„...doch...das können sie...“, unterbrach Pauls heißeres Flüstern Ollis Einwände. Alle Köpfe wandten sich dem Gitarristen zu, der immer noch auf dem Sofa saß und ins Leere starrte. Als er weitersprach, sah er keinen von ihnen an.
„Richard...lebt...nicht mehr...dieses Schwein...hat ihn umgebracht...er hat ihn...gequält und dann...und dann...“ Paul geriet ins Stocken, der letzte Teil wollte ihm nicht über die Lippen.
„Was dann?“, hackte Till sanft nach, der immer noch seinen Freund in der Umarmung hielt.
„Dann...dann war das...das Video...zu Ende und...und Richard...Richard ist...“
„Verdammt, das ist doch nicht wahr!“ Olli war laut geworden. Paul zuckte zusammen, hob langsam den Kopf und sah zu ihm hoch.
„Du hast das Video schon gesehen?“, fragte Till leise und Paul nickte. „Aber...wie?“
„Er hat es mir geschickt...dieses Schwein hat es mir geschickt...per Mail...ich wusste nicht...was es war...ich wusste es einfach nicht...“ Wieder liefen ihm die Tränen über das Gesicht.
„Und hat er...hat er Richard in dem Video...“ Paul schüttelte heftig den Kopf.
„Er hat...ihn gefoltert...“
„Aber wie kannst du dir dann so sicher sein, dass Richard nicht mehr lebt?“ Till verstand das Gemurmel seines Freundes nicht so wirklich.
„Weil...weil...“ Weiter kam Paul nicht, er brach weinend zusammen. Sie tauschten besorgte Blicke.
„Ich glaub, wir sollten so schnell wie möglich zur Polizei gehen...“ Sie sahen Flake an, dann verließen sie in stillem Einvernehmen den Raum. Till und Olli nahmen Paul an die Hand, denn der war wieder in seiner eigenen Welt versunken und nahm nichts mehr um sich herum wahr.
Auf der Wache angekommen, wurden sie von einem bekannten Gesicht begrüßt. Der Leiter der Soko sah ziemlich aufgeregt aus und versuchte noch aufgeregter, ihnen ihr Vorhaben auszureden, sich das Video anzusehen. Doch wie bei den vorigen beiden Malen bekam er das nicht hin und die fünf liefen einfach an ihm vorbei auf einen bekannten Raum zu. Kurz bevor sie jedoch die Tür erreichten, blieb Paul abrupt stehen.
„Was ist los?“, kam es von Till, der Paul die ganze Zeit an der Hand mitgezogen hatte.
„Ich will mir das nicht noch einmal ansehen!“, war die Antwort. „Ich will nicht! Ich will’s einfach nicht. Ich will nicht...“ Er fing wieder an zu weinen.
„Hey, ist doch gut, das verlangt doch auch keiner von dir. Ganz ruhig, du musst es nicht sehen, bleib am besten hier sitzen, ok?“ Till schaffte es irgendwie, Paul auf einem Stuhl abzusetzen und dann ging er mit den anderen dreien in den bekannten dunklen Raum, um das zu sehen, was Paul so derartig verstört hatte.
Sie setzten sich auf die Stühle und dann warteten sie wieder. Zuerst das bekannte Prozedere: Ein schwarzer Bildschirm, es wurde weiß ein „Rache, der vierte Teil“ eingeblendet. Und dann war da diese Stimme, die Stimme, die sie seit fast zwei Wochen nicht mehr gehört hatten und die sie inzwischen schon so hassten: „Herzlich willkommen zu der Dokumentationssendung ‚Wie bringe ich einen Menschen zum Bluten?’ Es ist mir eine Ehre, Sie alle wieder zu einem neuen Video zu begrüßen, das hoffentlich nicht das Letzte bleiben wird. Ich bitte Sie alle recht herzlich, die kleine Verspätung zu entschuldigen. Leider ist etwas dazwischen gekommen. Doch nun will ich Sie nicht länger hinhalten. Sie erinnern sich doch noch alle an meinen kleinen Gast, oder?“ Man konnte hören, dass der Typ grinste, als er den letzten Satz sagte.
Und dann sahen sie ihren Freund. Und jetzt konnten sie auch verstehen, warum Paul so zusammengebrochen war. Richards Anblick war einfach nur...sie fanden keinen passenden Ausdruck dafür. Als sie ihn sahen, waren sie zu keiner Regung fähig, so tief saß der Schock. Richard war unglaublich abgemagert, man konnte jeden einzelnen Knochen an ihm erkennen. Grausamerweise sah man dadurch auch die Bruchstellen seiner Rippen. Und dann waren da überall die zahlreichen Schnittwunden, die seinen Körper bedeckten und von denen einige sogar schon vernarbt waren. Und dann die Art und Weise, wie er von der Decke hing, die Arme in einer völlig unnatürlichen Position. Es war deutlich zu erkennen, dass sie ihm ausgerenkt worden waren. Kurzum, Richard machte den Eindruck eines Menschen, der völlig am Ende war und wohl nicht mehr lange unter den Lebenden weilen würde.
Sein Entführer kam ins Bild. In der Hand hielt er etwas, das aussah, wie ein Bunsenbrenner.
„Tjaa, ich hatte mich vorhin wohl zu früh gefreut, als ich sagte, dass du wach bist. Schließlich bist jetzt ja schon wieder am Pennen, also nee nee...“ Er schüttelte den Kopf, dann nahm er ein Streichholz, zündete es an und hielt es vor den Brennerkopf. Sofort schoss eine gleichmäßig blaue, ca. 10cm hohe Flamme daraus hervor.
„Was macht er denn jetzt, oh nein, tu das nicht, bitte...“
Doch der Psycho auf dem Video hörte Schneiders Einwurf nicht, sondern fing an, mit der Flamme auf dem Rücken seines Opfers entlang zu streichen. Dabei kam er der Haut immer näher, die sich erst rötete und dann anfing, Blasen zu werfen. Richard regte sich, dann schlug er stöhnend die Augen auf. Sein Entführer nahm die Flamme von ihm weg. Der Schwarzhaarige sah sich verwirrt um. Was war passiert? Er konnte sich nur noch daran erinnern, dass er von der Decke hing und dann...
Er schrie auf, als sein Entführer mit seinem Lieblingsskalpell die frischen Brandwunden bearbeitete.
„Schön, dass du auch schon wach bist.“, meinte er feixend.
Richard atmete schwer. Mit den Schmerzen kamen bei ihm auch die Erinnerungen zurück. Erschrocken versuchte er, seine Arme zu bewegen. Nichts, außer einer weiteren Schmerzattacke, bei der aber nicht wirklich zuordnen konnte, ob die von seinen Armen, oder von seinem Rücken kam. Es war ihm aber auch relativ egal, wichtiger war, dass er seine Arme nicht mehr bewegen konnte. Verdammt, was tat er denn jetzt? Würden sie ihm wieder eingerenkt werden? Und was, wenn nicht? Sein Entführer schien mal wieder zu wissen, was ihn beschäftigte, denn in dem Moment hörte er seine Stimme: „Mach dir mal keine Gedanken wegen deinen Armen, das passt schon. Sieh es positiv: Jetzt hast du wenigstens keine Krämpfe mehr...“
Richard sah aus, als würde er dem Typen jeden Moment eine runterhauen wollen und den anderen Rammsteinern ging es ähnlich. In dem Moment hatten sie einfach nur eine Stinkwut auf diesen Kerl, der ihren Freund so grausam und brutal folterte. Sie konnten ja nicht ahnen, dass sich ihre Gefühlslage bald ändern sollte.
Richards Entführer verschwand für kurze Zeit aus dem Bild und kam dann mit seinem geliebten Rollwagen wieder und das, was heute darauf lag, ließ die vier Rammsteiner entsetzt nach Luft schnappen. Auf dem Wagen lagen nämlich Peitschen unterschiedlichster Form und Größe, manche waren sogar mit kleinen Dornen gespickt.
„Warum tut er das? Warum tut er das denn nur?“ Tills Stimme zitterte bedenklich. Richard reagierte kaum, als er sah, was ihn da erwartete. Erst die Stimme seines Peinigers schien ihn wieder in die Wirklichkeit zurück zu holen: „Soo, du weißt ja noch gar nicht, was du heute machen sollst, hm?“ Richard nickte schwach. Den Rammsteinern wurde schlecht. Es versetzte ihnen jedes Mal einen Stich, wenn sie mit ansehen mussten, wie ihr Freund den Anweisungen dieses Irren folgte. Was würde es wohl diesmal sein?
„Nun, ich werde dir gleich ein paar Dinge sagen und du wirst sie wiederholen und zwar aus deiner Perspektive, verstanden? Ansonsten kann ich sehr sehr unangenehm werden, wie du weißt, und lass dir gesagt sein, du fühlst dich wirklich gut an...und du bist auch so unglaublich niedlich...“
Die Rammsteiner sahen, dass Richard schauderte und sie tauschten schockierte Blicke. Hatten sie das gerade richtig verstanden? Hatte dieser Typ Richard etwa...
Sie hörten einen Knall und dann einen lauten Schrei und zuckten erschrocken zusammen. Richards Rücken zierte ein langer roter Striemen.
„Oh Gott, oh Gott, scheiße!“ Olli zitterte. Jetzt verstand er, warum Paul so verstört gewesen war, als er ihn auf der Straße aufgelesen hatte. Sie hörten eine bekannte Stimme: „Und jetzt sag, dass du wertlos bist!“
„Nein tu’s nicht. Tu es bitte nicht!“ Till sah aus, als würde er am liebsten in das Video reinkriechen und Richard da rauszerren wollen. Doch sein Freund erfüllte ihm diesen Wunsch nicht. Das konnte er auch nicht, denn in dem Moment hörten sie einen erneuten lauten Knall. Richards Körper ruckte nach vorn, dann schrie der Schwarzhaarige auf.
„Ich...ich bin...“ Noch ein Knall, gefolgt von einem Schrei. Till begann wieder zu weinen, die anderen waren den Tränen nahe.
„Sag es!“
„Ich bin...wertlos...“ Und wieder knallte die Peitsche.
„Geht doch!“, meinte Richards Peiniger feixend.
„Und jetzt...“ Ein weiterer Knall. „Jetzt sag, dass dich niemand braucht!“
„Niemand...“ Ein Knall, ein Schrei.
„Niemand...braucht mich...“ Richard begann zu weinen. Nicht nur, weil er sich so unglaublich gedemütigt fühlte, sondern auch, weil er tatsächlich glaubte, was er da sagte. Er war im Prinzip selbst an dieser Situation schuld, oder? Es war doch gerecht, was ihm angetan wurde, oder? Er hatte es doch schließlich nicht anders verdient, oder?
Als die Rammsteiner seine Tränen sahen, gab es auch bei ihnen kein Halten mehr. Das war doch einfach nicht gerecht! Niemand verdiente, dass einem so etwas angetan wurde, dass man so erniedrigt wurde. Es war ganz gut für sie, dass sie nicht wussten, dass Richard die ganze Sache schon als gerecht empfand. Er war in seinem Denken schon so verstört und von seinem Entführer abhängig, dass er ihm alles glaubte.
Und noch ein Hieb. Richards Rücken war mittlerweile knallrot, überall zierten ihn die Striemen. Jetzt wechselte der Psycho die Peitschen und nahm eine mit kleinen Dornen daran.
„So, und jetzt...“ Ein Knall, ein weiterer Hieb. Die kleinen Dornen rissen tiefe blutige Rillen in die Haut. Kleine Fleischstückchen lösten sich und Richard schrie.
„Jetzt sag, dass du keine Freunde mehr hast!“ Ein bestialisches Grinsen, ein weiterer Hieb.
„Ich...ich hab...“ Und noch ein Knall.
„Na mach schon!“
„Ich hab...keine Freunde mehr...“ Und wieder ein Hieb. Richards Rücken blutete mittlerweile.
„Nein! Nein, das ist nicht wahr! Das ist nicht wahr! Das ist einfach nicht wahr! Sag das nicht! Du weißt, dass das nicht stimmt! Sag das nicht!“ Till brach weinend zusammen. Olli fing ihn auf und hielt ihn fest. „Das ist doch nicht wahr...er weiß doch, dass das nicht wahr ist...warum sagt er das? Das glaube ich nicht...“
‚Nicht noch einer, scheiße, was können wir bloß machen?’ Olli tröstete Till leise: „Ist ja gut, ganz ruhig...willst du rausgehen?“
„Nein...nein! Ich will das weiter sehen! Ich kann doch nicht einfach so aufhören! Nein, ich schau es mir bis um Ende an...ich schau es mir biszuende...an...“ Sein letzten Worte waren nur noch ein undefinierbares Flüstern.
„Gut, wie du meinst...“
Das Video lief indessen munter weiter. Und genauso munter folterte der Psycho Richard und zwang ihn dabei, diese Sachen zu sagen. Das ging gut zwei Stunden lang so.
Unter Richard bildete sich eine Blutlache. Seine Stimme verkam zu einem Flüstern, das am Ende kaum noch auszumachen war.
Dann, ganz am Schluss holte Richards Peiniger eine Kette hervor und fing an, brutal auf den Schwarzhaarigen einzuschlagen, doch der bekam das nicht mehr wirklich mit. Er schrie auch nicht mehr, nur sein Körper ruckte bei jedem Hieb nach vorn. Allerdings war er noch bei Bewusstsein. Noch.
Sein Peiniger holte weit aus, dann schlug er ihm noch einmal mitten auf den Rücken, direkt auf die hervorstehenden Wirbel.
Es knackte. Kaum zu hören, aber es knackte.
Richard zuckte noch einmal, er schrie laut auf, dann erschlaffte sein Körper.
Die Rammsteiner rissen erschrocken die Augen auf, aber sie waren nicht die einzigen. Auch der Psycho schien schockiert. Er ließ die Kette sofort fallen, dann trat er zu seinem Opfer und fühlte dessen Puls. Seine Augen wurden riesengroß und dann wurde das Bild plötzlich schwarz.
Kein „To be continued“.
Kein „Replay“.
Das Bild war einfach nur schwarz.
Nichts mehr.
Das Video war zu Ende.
Es dauerte eine Sekunde.
Es dauerte zwei Sekunden.
Dann hallte Tills lauter Schrei durch den Raum.
„NEEEIIIIIIN!“
Du bist schuld!
Tills lauter Schrei hallte durch den kleinen Raum:
„NEEEIIIN!!!“
Die anderen drei zuckten erschrocken zusammen.
„Nein! Das kann nicht sein! Sagt, dass das nicht wahr ist! Richard ist nicht tot! Er kann doch gar nicht tot sein! Das ist nicht wahr!“
Sie versuchten den aufgebrachten Sänger zu beruhigen. Vergebens.
„Das ist nicht wahr...das ist einfach nicht wahr...“, murmelte er immer wieder vor sich hin.
„Doch...es ist wahr...“ Paul hatte unbemerkt den Raum betreten. Till sah ihn an, als wäre er ein Geist. Er ging langsam auf ihn zu.
„Nein!“, sagte er kopfschüttelnd und wieder: „Nein!“
Paul schwieg, er nahm den Größeren einfach in die Arme.
„Wir...werden es wohl einfach...akzeptieren müssen...“
Till schüttelte wieder den Kopf. Ihm liefen die Tränen über das Gesicht. Gemeinsam gingen sie nach draußen. Die anderen drei hinterher. Sie schienen noch nicht wirklich begriffen zu haben, was gerade passiert war. Oder wollten sie es einfach nicht begreifen.
„Aber...woher wissen wir denn mit Sicherheit...dass Richard wirklich...tot ist?“ Schneider wollte das nicht einfach so hinnehmen. Wenn die anderen das taten, bitte schön, aber er nicht!
„Nun ja, wir haben das Video analysieren lassen.“, kam es da vom Leiter der Soko.
„Sie haben doch sicherlich das Knacken gehört?“ Fünf ziemlich wütende Gesichter sagten ihm, dass er seine Worte lieber bedachter wählen sollte.
„Nun ja, wegen dieser Tatsache haben wir Grund zur Annahme, dass es die Wirbelsäule Ihres Freundes erwischt hat. Und sollte das der Fall sein, und das Video lässt eigentlich nur diesen Schluss zu, dann hat Ihr Freund keine Überlebenschance. Deswegen muss ich Ihnen auch mitteilen, dass wir die großräumigen Suchaktionen abgebrochen haben und...“
„Moment mal! Sie haben WAS?“
Paul war aus seiner Lethargie erwacht. Er hatte die ganze Situation verhältnismäßig schnell für sich akzeptiert. Was er aber jetzt nicht akzeptieren wollte und konnte war, dass das jetzt ein Grund sein sollte, die Suchaktionen abzubrechen.
„Nun ja, sie müssen wissen...wir haben noch andere Fälle. Dringendere Fälle, bei denen die Chancen noch sehr hoch liegen, die vermissten Personen zu noch finden. Eine kleine Truppe sucht natürlich weiter. Schließlich brauchen wir ja noch die Leiche...“ Weiter kam er nicht, denn sowohl Paul als auch Till wollten ihn in diesem Moment zeitgleich eine runterhauen. Ihre drei Kollegen hatten Mühe sie zurückzuhalten.
„Ja, also...ich geh dann mal...auf Wiedersehen...“, kam es von dem Beamten ziemlich eingeschüchtert und damit war er auch schon verschwunden.
Die Rammsteiner sahen ihm nach. Sie konnten nicht glauben, was die da gerade eben gehört hatten. Das konnte doch nicht wahr sein! Das war ja noch schwerer zu glauben, als die Tatsache, dass Richard wirklich tot sein sollte. Sie verließen die Wache.
„Super! Und was machen wir jetzt?“ Olli sah ziemlich ratlos drein. Ebenso wie die anderen.
„Wir machen das, was ich schon vor zwei Wochen machen wollte: Wir suchen selber!“
„Aber Paul, hattest du nicht gerade eben noch selber gesagt, das...“
„Ist mir scheiß egal, um ehrlich zu sein! Ich lass nicht zu, dass diese Deppen sich hinter ihren Ausreden verkriechen! Glaubt ihr denn tatsächlich daran, dass sie jetzt noch suchen? Nichts werden sie tun, überhaupt nichts!“
Pauls verzweifelter Gesichtsausdruck war wilder Entschlossenheit gewichen. Na schön, Richard lebte mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr, und diese hohe Wahrscheinlichkeit mussten sie akzeptieren, aber wussten sie wirklich definitiv, dass sie jetzt nur noch zu fünft in der Band waren? Nein, das wussten sie nicht. Es bestand immer noch Hoffnung. Und die bestand solange, bis sie Richard endlich gefunden hatten. Und daran klammerte sich Paul.
„Hört zu, es ist mir herzlich egal, was ihr macht, aber ich werde Richard suchen! Und wenn es lange dauern sollte, dann dauert es eben lange!“, setzte er noch hinzu, denn Flake hatte den Mund aufgemacht. „Dann suche ich eben so lange, bis ich ihn gefunden habe! Fakt ist, dass ich jetzt nicht einfach aufgeben werde!“
Es war schon interessant, wie sich die Gefühlslagen der Menschen ändern konnten, aber an sich völlig normal. Fast alle Menschen reagierten auf schlechte Nachrichten mehr oder weniger gleich. Zuerst waren sie ungläubig, wollten es nicht wahrhaben, dann wurden sie wütend, schließlich wollten sie verhandeln, die Situation irgendwie noch bereinigen, dann kam die Depression und zum Schluss die Resignation und die Zustimmung.
Und Paul war gerade wütend. Und wie er das war.
„Paul?“, fragte Till leise.
„Versuch ja nicht, mich aufzuhalten!“, fauchte der Kleinere zurück.
„Wollen wir doch auch gar nicht.“, sagte Olli beschwichtigend. „Wir wollten dir eigentlich nur sagen, dass wir deiner Meinung sind...Wir kommen mit!“
„Sag mal, bist du denn jetzt komplett durchgedreht? Du hast ja völlig ein Rad ab!“ Kopfschüttelnd ging ein ganz bestimmter „Arzt“ an dem Psycho vorbei. Der hatte seinen Kumpel mal wieder angerufen, da ja irgendjemand Richard die Arme wieder einrenken musste. Er selbst konnte es nicht.
„Sag mal, wie kommt man eigentlich auf so eine bescheuerte Idee? Die Arme ausrenken! Bist du denn noch zu retten? Oder die Sache mit dem Peitschen. Du hast sie doch nicht mehr alle! Dir ist doch hoffentlich klar, dass es bei dem Blutverlust schwierig sein wird, dass der Gute überhaupt überlebt?“
Der Psycho sah betreten zu Boden. „Naja, bluten tut er ja schon nicht mehr...“, murmelte er dann leise vor sich hin.
„Was war das gerade? Ich hab dich nicht verstanden!“
„Ich sagte, dass er ja schon nicht mehr blutet!“
„Ach...“ Da klang jemand ziemlich überrascht. „Und wie hast du das bitte schön angestellt?“
Jetzt grinste der Gefragte. „Kalter Alkohol.“
Der Arzt pfiff durch die Zähne. „Naja, wenigstens weißt du dir zu helfen...Ich hoff doch mal den Guten, dass er da schon bewusstlos war...“
„Natürlich! Hast du das Video nicht gesehn? Blöde Frage, sorry! Du siehst dir ja...“
„Doch! Zur Abwechslung mal habe ich es gesehen!“, unterbrach der Arzt seinen Kumpel scharf. „Und ich hoffe mal für dich, dass das Knacken nicht die Wirbelsäule betraf...“
„Oh, sah es so echt aus?“ Der Psycho wirkte ehrlich erfreut. „Guut und nein, keine Sorge, das Geräusch war eingefügt, ich hab ihm nichts gebrochen...glaube ich zumindest...“
Genervtes Augenrollen. „Ok, wo ist er?“
Richards Peiniger führte seinen Kumpel zu dem Schwarzhaarigen, der immer noch nicht aus der Bewusstlosigkeit erwacht war. Nach wie vor lag er auf dem kalten Boden, nackt, die Arme völlig verdreht, in seinem Blut, das mittlerweile geronnen war.
„Du bist echt nicht mehr normal, weißt du das? Das hier ist nicht mehr nur grausam oder brutal oder krank...ehrlich gesagt fehlen mir dafür die Worte...“
‚Gut, dann hält er vielleicht endlich mal die Klappe...obwohl...neeeiiin, das wird er vermutlich nicht tun, da hab ich keine Hoffnung...’ Der Psycho sah abwartend zu seinem Kumpel. Der machte sich daran, Richard aus der Bewusstlosigkeit zu holen, zunächst erfolglos.
„Wie wär’s, wenn du ihm die Arme wieder einrenkst, vielleicht wacht er ja dann auf...“, hörte er einen Einwurf von der Seite.
„Wie wär’s, wenn du mir mal ein bisschen Wasser besorgst, damit wir erst mal das ganze Blut abwaschen können? Das geht so nämlich überhaupt nicht!“
Der Psycho seufzte, dann trollte er sich. Er kam mit einem Gartenschlauch wieder.
„Geh mal ein paar Schritte beiseite, oder willst du auch nass werden?“
„Ich hatte ja eigentlich an einen Eimer Wasser gedacht...“
„Ach, Quark, das geht so auch!“ Damit drehte er das Wasser voll auf. Der Strahl war eiskalt und traf Richard hart auf den Bauch, dann ruckte es ihn ein Stück zur Seite.
„Sag mal, bist du noch zu retten? Hör sofort damit auf!“
„Ja was denn? Du wolltest den Kleinen sauber machen, da hast du’s. Was ist denn jetzt wieder nicht richtig?“
Kopfschüttelnd entfernte sich der Arzt und drehte das Wasser ab. „Du bist zu brutal, das hab ich dir schon einmal gesagt. Ich dachte, du willst, dass er noch ein Weilchen lebt?“
Damit nahm er dem Psycho den Schlauch aus der Hand und machte sich nun selbst an die Arbeit. Diesmal aber mit einem weicheren Strahl. Das Wasser war immer noch eiskalt und so arbeitete er sich langsam vor. Er musste aufpassen, sonst würde er Richard noch mehr auskühlen, als er es ohnehin schon der Fall war. Deshalb gab er jetzt auch die nächste Anweisung: „So, und du besorgst jetzt einen Eimer mit WARMEN Wasser mit einer ANGENEHMEN Temperatur, verstanden? Und bring Klamotten mit!“
„Wieso das denn jetzt? Den zweiten Teil kannst du knicken, dass das klar ist!“
„Dann kann ich auch gleich wieder gehen! Wenn du so weiter machst, stirbt dir der Gute an einer Unterkühlung und wenn das nicht passiert, dann kommt die Lungenentzündung wieder. Die ist sowieso noch nicht auskuriert. Hatte ich dir nicht gesagt, dass du ihn warm halten musst?“
„Hmm, hattest du das gesagt? Ich glaub, ich hab grade Gedächtnisschwund...“ Grinsend entfernte sich der Psycho, kam aber kurze Zeit später tatsächlich mit ein paar Klamotten und einem ziemlich großen Eimer wieder, aus dem es dampfte.
„Na also! Geht doch!“, meinte sein Kumpel. Inzwischen hatte er es geschafft, fast das gesamte Blut abzuwaschen, nur die größeren Verletzungen hatte er ausgespart. Er stellte das Wasser ab. Jetzt versuchte er erneut, Richard aus der Bewusstlosigkeit zurück zu holen, was ihm aber wieder nicht gelang.
„Und ich wäre immer noch dafür, dass du ihm die Arme erst mal wieder einrenkst, dann wacht er vielleicht auf...“, kam es da von der Seite. Wieder rollte er genervt mit den Augen, musste aber zugeben, dass der Jüngere Recht hatte.
‚Gut, dann wollen wir mal...’ Damit packte er den rechten Arm und die rechte Schulter und renkte den Arm mit einer schnellen Drehbewegung wieder ein. Es knackte und Richard zuckte kurz, kam aber nicht zu Bewusstsein. Der Arzt machte sich an die linke Seite. Doch kaum hatte er an der Schulter zugefasst, regte sich sein Patient mit einem Stöhnen und schlug verwirrt blinzelnd die Augen auf.
„Siehst du! Ich hab dir doch gleich gesagt, dass das funktioniert!“
‚Als ob ich je etwas anderes behauptet hätte...’
Richard regte sich bei der Stimme, die Angst wollte ihn flüchten lassen, doch der Arzt hielt ihn immer noch am linken Arm fest und auch sein schmerzender Rücken verhinderte dies. Er hörte eine sanfte beruhigende Stimme: „Hey ruhig, ich tu dir nichts. Hier geblieben, ja? Ich muss dir auch noch den anderen Arm wieder einrenken...“
Richard sah ihn zunächst verständnislos an, dann nickte er langsam. Kurz darauf hörte er ein Knacken, spürte den Schmerz und er verzog das Gesicht. Trotzdem war er heilfroh darüber, dass seine Arme wieder da waren, wo sie sein sollten und die Schmerzen waren im Vergleich zu denen, die von seinem Rücken ausgingen, auch noch erträglich.
„Ok, kannst du mal kurz die Arme heben? Keine Sorge, ich will nur sehen, ob wenigstens damit alles in Ordnung ist...“ Richard nickte wieder langsam, dann hob er noch langsamer seine Arme hoch, bis ihn die Schmerzen daran hinderten.
„Ok, soweit ich sehen kann, ist alles in Ordnung, kannst sie wieder sinken lassen...“ Er tat auch dieses und schloss dann die Augen. Er war wieder einmal unglaublich müde und wollte am liebsten schlafen und am besten nie wieder aufwachen.
‚Aber ich muss doch aufwachen, sonst....sonst...’ Er spürte etwas Warmes auf seinem Rücken und zuckte zusammen.
„Ruhig bleiben, ich wasch dir nur das Blut runter. Sag mir, falls es wehtut.“
„Es tut...immer weh...“, meinte Richard daraufhin leise. Er hörte ein Lachen.
„Jetzt hör aber mal auf, den Armen ständig auszulachen, das ist ja nicht zum Aushalten!“, sagte der Arzt aufgebracht zum Psycho, der schon wieder ziemlich genervt aussah. Seinen Kumpel störte das nicht, er wandte sich wieder Richard zu: „Ok, dann sag mir, wenn es sehr wehtut, ok?“ Ein Nicken war die Antwort. Vorsichtig fuhr er in seiner Arbeit fort. Als er fertig war, stupste er Richard sachte an, was diesen erneut zusammenzucken ließ.
„Sag mal, kannst du dich aufsetzen? Das wäre nämlich ziemlich hilfreich, weißt du...“
„Ich kann’s...ja mal versuchen...“ Das tat der Schwarzhaarige dann auch. Bis jetzt hatte er nämlich die ganze Zeit auf der Seite gelegen. Vorsichtig schob er erst die eine, dann die andere Hand unter seinen mittlerweile viel zu schlanken Körper und versuchte dann, sich hochzustützen, was ihm aber nicht wirklich gelingen wollte.
„Warte, ich helf dir. Und du!“ Damit wandte sich der Arzt wieder an den Jüngeren. „Du gehst einen neuen Eimer holen und das Wasser hat bitte wieder die gleiche Temperatur!“
Der Psycho trollte sich. Tatsächlich war das Wasser in dem Eimer blutrot. Der Arzt half Richard derweil, sich aufzusetzen.
„Ok, das geht so. Meinst du, du kannst so sitzen bleiben?“, fragte er dann, nachdem sie es geschafft hatten. Richard nickte schwach. Am liebsten wollte er sich ja wieder hinlegen, aber er sah ein, dass das jetzt nicht ging. Und wenn er sich nicht hinlegen durfte, dann fiel das ohnehin flach.
„Oh scheiße!“ Er erschrak bei der lauten Stimme. „Wie lange ist das eigentlich her?“
Richard sah auf die Stelle, auf die der Andere deutete. Das große R auf seinem Bauch. Das hatte er schon fast vergessen. Die Verletzung sah überhaupt nicht gut aus. Sie eiterte, überall war ein weiß-gelblicher Schleim verteilt.
Der Schwarzhaarige zuckte mit den Schultern. „Gebrannt...“, meinte er daraufhin leise. „Scheiße, das weiß ich auch! Wie lang ist das her, wollte ich wissen!“ Richard zuckte wieder mit den Schultern, dann schüttelte er den Kopf. Wie lange war das her? Wochen, Monate, Jahre? Er wusste es nicht mehr. Er wusste nur noch, dass es ganz am Anfang gewesen war, kurz nachdem...ja, wonach jetzt? Er konnte sich nicht mehr erinnern, was vorher passiert war. So sehr er es auch versuchte, er konnte es einfach nicht mehr.
Er schüttelte wieder den Kopf, dann kamen ihm die Tränen.
„Hey, nicht weinen, ok? Ist ja gut, ganz ruhig, reg dich nicht auf, ist ja gut...“ Die Stimme beruhigte ihn tatsächlich, aber noch mehr tat es das sanfte Streicheln und Kraulen, das er am Kopf fühlte. Der Arzt hatte mitbekommen, dass Berührungen am Kopf seinen Patienten beruhigten, auch, wenn er nicht so genau wusste, warum das so war.
„Gut, ich werde dir jetzt ein Schmerzmittel geben, ok? Also nicht aufregen, wenn es mal kurz piekt...“ Richard sah ihn zunächst verwirrt an, dann schüttelte er heftig den Kopf.
„Was ist denn los?“
„Kein...Schmerzmittel...“
„Ja aber...warum denn nicht?“
„Weil...weil ich doch Schmerzen haben muss, oder? Ich...ich...“
Er spürte wieder das sanfte Kraulen und sah auf. „Das lass mal meine Sorge sein, ok? Und nein, du musst nicht immer Schmerzen haben, das ist so nicht richtig. Und jetzt ruhig bleiben, es piekst jetzt gleich kurz...“ Richard tat, was von ihm verlangt wurde und das Setzen der Spritze bekam er nicht einmal richtig mit. Es wurde von anderen, viel schlimmeren Schmerzen überdeckt.
Er schreckte zusammen, als er eine erboste Stimme hörte: „Sag mal, was machst du denn da?“ Der Psycho sah mehr als nur wütend aus.
„Ich hab ihm ein Schmerzmittel gegeben.“, war die ruhige Antwort.
„Du hast WAS? Hatte ich dir nicht gesagt, dass du das lassen sollst? Er soll leiden, verdammt noch mal!“
„Hmm, hattest du mir das gesagt? Ich glaub, ich hab grade Gedächtnisschwund...“, erwiderte der Arzt lächelnd. Dann wurde er ernst: „So, und jetzt sag ich dir mal was und das solltest du dir gut merken: Auch Schmerzen können töten. Das, was du hier abziehst, hält kein Mensch auf Dauer aus. Deswegen solltest du dir überlegen, ob es nicht vielleicht besser wär, dem Guten ab und zu mal ein paar Pausen zu gönnen!“
„Aber die hat er doch! Immer, wenn er schläft und lass dir gesagt sein, das tut er oft!“, meinte der Psycho grinsend. Ein genervtes Augenrollen war die Antwort.
„Du weißt schon, wie ich das meine...“
„Jaja, schon klar, aber was ist jetzt? Willst du nun das Wasser, oder nicht?“
Wortlos nahm der Arzt seinem Kumpel den Eimer ab und machte sich vorsichtig daran, die restlichen Verletzungen und auch den Brand am Bauch des Schwarzhaarigen zu säubern.
„Sag mal, wie lange ist das hier eigentlich schon her?“, fragte er und zeigte auf eben jene Verletzung.
„Keine Ahnung.“, war die Antwort.
„Geht’s auch ein bisschen präziser?“
„Ähm, naja, etwas mehr als zwei Wochen würde ich sagen...warum?“
„Zwei Wochen? Und da ist das immer noch nicht abgeheilt? Du weißt aber schon, dass das nicht gut ist, ja?“
„Naja, bis gerade eben wusste ich das tatsächlich noch nicht. Ok, wenn’s soo schlimm ist, dann mach halt was dagegen...“
Wieder rollte der Arzt genervt mit den Augen, dann begann er, Verbandsmaterial auszupacken und den Brand zu desinfizieren.
Richard nahm kaum wahr, was um ihn herum geschah. Das Schmerzmittel wirkte. Er fühlte sich zum ersten Mal seit sehr sehr langer Zeit wieder einigermaßen normal. Er spürte, wie ihm etwas Weiches, Warmes auf den Bauch gedrückt wurde. „Hier, halt mal eben...“ Er tat, was ihm gesagt wurde und dann spürte er etwas auf dem Rücken, das ebenfalls so schön weich war. Auch der Psycho wurde zum Festhalten verdonnert und dann machte sich der Arzt daran, die Wundauflagen zu fixieren. Auch das nahm Richard nur wie aus weiter Ferne wahr, erst, als seine linke Schulter berührt wurde, zuckte er zusammen. Das hatte heftig wehgetan.
„Was war das denn jetzt?“, hörte er die Stimme des Psychos.
„Ich nehme mal an, du hast ihm doch was gebrochen...“, war die genervte Antwort.
„Echt? Ich hab aber gar nichts in der Schulter knacken gehört...“
„Hey Kleiner.“, sprach der Arzt Richard an. Der hob mühsam den Kopf und sah ihm in die Augen. „Hast du irgendetwas knacken gehört, bevor du bewusstlos geworden bist?“
Der Schwarzhaarige antwortete nicht sofort, er schien zu überlegen. Dann schüttelte er jedoch den Kopf.
„Siehst du! Doch nichts gebrochen. Vielleicht kommt das ja noch vom Einrenken...“
„Das glaube ich nicht, denn er reagiert ja nur bei der linken Schulter so. Und die Schmerzen vom Einrenken müssten eigentlich unterdrückt sein. Erkennen kann ich aber nichts, was auf einen Bruch hinweisen könnte, vielleicht hat er auch nur einen Riss im Schulterblatt. Hmm, naja, das kann ich jetzt auch nicht so genau feststellen. Ich kann ihn ja noch mal röntgen, wenn ich wiederkomme...“
„Von mir aus. Tu, was du für richtig hältst...“
Der Arzt beendete seine Arbeit. „So, fertig. Jetzt müssen wir ihm nur noch was anziehen und dann muss er irgendwohin, wo es möglichst warm ist und er es möglichst bequem hat, verstanden?“ Der Psycho nickte nur und gemeinsam trockneten sie den Schwarzhaarigen ab und zogen ihn an. Der unterstützte sie wenig dabei, er war einfach viel zu erschöpft, um noch irgendeine großartige Regung zu machen. Er spürte allerdings, wie ihm schlagartig wärmer wurde, als er die Klamotten endlich anhatte und er schloss genießerisch die Augen.
„Na sieh mal einer an, das gefällt ihm...“, hörte er die Stimme des Psychos und er fühlte wieder das Kraulen an seinem Kopf.
„Gut...und wie kriegen wir ihn jetzt ins Bett?“ Anscheinend hatte der Psycho Gefallen daran gefunden, Richard etwas Gutes zu tun, was er allerdings nicht ohne Hintergedanken tat.
„Ach, du willst tatsächlich wieder auf dem Sofa pennen? Naja, wie du meinst, besser ist das für den Kleinen...Ich würde sagen du die Arme, ich die Beine?“ Ein Nicken war die Antwort.
Der Psycho fasste Richard vorsichtig bei den Schultern, der Arzt tat dasselbe bei den Beinen und so brachten sie Richard schließlich ins Bett. Der bekam das allerdings nicht mehr wirklich mit, er war schon auf dem Weg dahin eingeschlafen.
„Gut, ich geh dann mal wieder...Ich komme morgen noch mal und falls du mich eher brauchen solltest...“
„Kostet das extra, ich weiß, ich weiß!“, meinte der Psycho genervt.
„Nein, ich wollte eigentlich nur sagen: Ruf mich an, ich bin da. Und nein, es kostet nicht extra. Wir sehen uns.“ Damit ließ der Arzt einen ziemlich verwirrten Psycho stehen, setzte sich in sein Auto und verschwand.
Richard erwachte nur kurze Zeit später mit knurrendem Magen. Obwohl er eigentlich hundemüde und total erschöpft war – der Hunger war stärker. Das Schmerzmittel wirkte noch und so schaffte er es auch, sich aufzusetzen. Er zog die Beine an und stellte dabei fest, dass an seinem linken Knöchel etwas Hartes war. Er fasste dorthin, betastete dieses Etwas und schlug dann überrascht die Decke zurück. Was er sah, war zwar zu erwarten gewesen, trotzdem kam er sich ein wenig vor, wie ein Hund. Er war nämlich mit dem linken Fuß ans Bett gekettet worden. Die Kette an sich war ziemlich lang, er konnte also auch aufstehen und sich relativ frei in dem Raum bewegen, aber er konnte nun nicht mehr weglaufen.
Er ließ sich erschöpft aufs Kissen zurückfallen und deckte sich wieder zu. Trotzdem er jetzt endlich wieder etwas an hatte und der Raum relativ warm war, wurde ihm schnell kalt. Lag wahrscheinlich daran, dass er mittlerweile eigentlich nur noch Haut und Knochen war, so sehr hatte er abgenommen. Wie aufs Stichwort knurrte sein Magen erneut. Richard wollte und musste unbedingt etwas essen. Und Durst hatte er auch. Er sah sich um. Sein Entführer war nirgends zu sehen und er konnte auch nichts wirklich Essbares in der Nähe entdecken. Wo war der Typ, wenn man ihn mal brauchte?
Er fuhr mit der Hand unter den Pullover, den er trug und betastete vorsichtig den dicken Verband. Er war sich darüber im Klaren, dass er die letzte Folteraktion nur mit unglaublich viel Glück überlebt hatte und er wusste nicht, ob das nun gut oder schlecht war. Würde der andere Typ morgen noch mal vorbeikommen? Er hoffte es sehr, denn vielleicht wurde ihm dadurch noch ein schmerzfreier Tag beschert. Obwohl...war es denn überhaupt in Ordnung, wenn er keine Schmerzen hatte? Warum war er überhaupt hier? Wenn er doch nichts wert war, warum gab es dann immerhin noch zwei Menschen, die sich um ihn kümmerten? Klar, sie taten ihm auch weh, vor allem sein Entführer tat es, aber das hatte er ja auch verdient, oder? Allerdings gab er ihm auch Wärme und Zuneigung, denn wenn der Typ ihn nicht gerade wieder folterte, war er ja eigentlich ganz nett zu ihm.
So gesehen hatte Richard keinen Grund mehr zum Weglaufen. Denn wer dort draußen wollte denn noch was von ihm? Würde es wirklich noch jemanden geben, der ihn brauchte, der ihn haben wollte – dieser Jemand hätte ihn doch schon längst rausgeholt, oder?
Ihm kam nicht in den Sinn, dass dieser eine Mensch, der ihm Wärme und Zuneigung gab vielleicht daran Schuld sein könnte, dass ihm niemand half und niemand ihn fand. Das wurde in seinen Gedanken ausgeblendet. Der Jüngere war der Einzige, der ihm noch einen Halt gab und so war er schon dermaßen von ihm abhängig, dass er es nie für sich persönlich hätte zulassen können, irgendeinen kritischen Gedanken ihm gegenüber auch nur zu denken.
Sein Magen knurrte wieder. Ihm war schon ganz schlecht vor Hunger. Wo war der Typ denn nur? Sonst wuselte der doch auch immer hier in der Gegend herum. Warum denn jetzt nicht?
Richard seufzte. Da blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als zu warten. Lange musste er das allerdings nicht tun, denn schon kurze Zeit später betrat eine wohlbekannte Person den Raum, vollbeladen mit großen Tüten.
„Ich hab gehofft, dass du vor morgen noch mal wach wirst.“, begrüßte der Psycho den Schwarzhaarigen gut gelaunt. „Guck mal, ich war einkaufen. War mal wieder nötig, weißt du...die nicht sehr nette Behandlung tut mir übrigens leid.“, setzte er noch hinzu und deutete auf die Kette. „Aber wir wollen ja nicht, dass du wieder wegläufst, oder?“
‚DU willst nicht, dass ich wieder weglaufe, aber...mittlerweile will ich das ja auch nicht mehr...wo will ich denn auch hin? Ich kann mich schließlich an kaum noch etwas erinnern...ich weiß aber, dass ich es müsste...irgendwie...aber ich kann’s nicht...ich...kann’s einfach nicht...’
Richard zog die Beine an den Bauch und machte sich ganz klein, dann flossen wieder die Tränen. Der Jüngere ließ sofort die Tüten stehen, dann war er bei ihm, strich ihm beruhigend über den Kopf und fing wieder an, ihn zu sanft kraulen.
„Hey, was ist denn los? Hör auf zu weinen, ist doch gut...ich sehe das nicht gerne, weißt du das?“
Richard kuschelte sich an ihn. „Weißt du...“, flüsterte er dann mit tränenerstickter Stimme, „ich...ich kann mich an nichts mehr...erinnern...ich...ich weiß nicht einmal mehr...meinen...Namen...“ Er weinte heftiger und drängte sich noch näher an seinen Peiniger heran. Der zog ihn in eine Umarmung und strich ihm über den bandagierten Rücken.
„Aber das ist doch gar nicht so wichtig.“, sagte er dann mit grausamen Grinsen. „Du musst deinen Namen nicht wissen, verstehst du? Und du musst auch nicht wissen, was war, bevor du hierher gekommen bist. Denn...“, und damit sprach er das aus, was Richard schon lange bewegte, „denn wenn du irgendjemandem da draußen wirklich etwas bedeuten würdest, dann wäre dieser Jemand doch schon längst gekommen und hätte dich mitgenommen, oder? Du bedeutest niemandem da draußen etwas, das wirst du wohl akzeptieren müssen. Du bist es auch gar nicht wert, dass du überhaupt eine Bedeutung hast...“
„Aber...aber du...“, unterbrach der Schwarzhaarige fassungslos. „Ich, ja ich...ich bin eben der Meinung, dass man trotz allem noch einen gewissen Nutzen aus dir schlagen kann. Du musst dir nur darüber klar werden, dass du auch gar kein Recht dazu hast, dass dich irgendjemand noch braucht, oder etwas mit dir zu tun haben will. Und das liegt daran, dass du schuld bist. Du hast es dir selbst zuzuschreiben, dass du jetzt da bist, wo du eben bist. Du bist schuld. Und das weißt du doch...oder?“ Richard nickte. Ja, das wusste er tatsächlich.
„Na also. Und deswegen ist es auch besser für dich, besser für alle, wenn du hier bleibst...“ Er nickte wieder und suchte erneut die Nähe des Jüngeren, doch der entzog sich ihm. Stattdessen strich er ihm noch einmal über den Rücken.
Richard beruhigte allmählich. Der einzige Mensch, dem er noch trauen konnte, hatte seine Vermutungen bestätigt. Und obwohl es vielleicht eine grausame Bestätigung war, für den Schwarzhaarigen war es eine Erleichterung. Jetzt konnte er die Sache ruhiger angehen. Er wusste jetzt, wo sein Platz war. Ja, das wusste er ganz genau. Sein leerer Magen meldete sich wieder zu Wort.
„Oh, wie ich höre, hast du Hunger...“, meinte der Psycho daraufhin lächelnd. Richard wischte sich die Tränen weg und setzte sich vorsichtig auf. Langsam und dumpf kamen die Schmerzen wieder.
„Ja.“, sagte er dann und nickte. „Und...ich hab...Durst...“
„Nun, dem kann ja geholfen werden, meinst du nicht auch? Hmm...“ Der Jüngere wühlte in den Tüten herum. „Willst du lieber was Warmes oder was Kaltes?“
Richard wunderte sich, dass er überhaupt vor die Wahl gestellt wurde. „Egal...“, meinte er deshalb und das war es ihm wirklich. Hauptsache, er bekam endlich etwas zu essen.
Der Psycho schraubte lächelnd das Glas auf und begann dann, ohne vorher zu fragen, den Älteren zu füttern. Auch diesmal schafften sie nur ein halbes Glas, bevor Richard wieder schlecht wurde.
„Du solltest wirklich mehr essen...“, meinte sein Entführer kopfschüttelnd. „Naja, bekommst du eben später den Rest. Willst du jetzt was trinken?“ Ein Nicken war die Antwort und er hielt Richard die Flasche mit dem Wasser vor die Nase. Der nahm den Aufsatz in den Mund und begann gierig, die Flasche zu leeren. Auch hier war nach der Hälfte Schluss für ihn, sein Magen vertrug einfach noch nicht mehr. Der Psycho stellte alles in Griffweite ab.
„Und jetzt solltest du schlafen, ok? Du brauchst dringend Ruhe...“ Richard nickte zur Antwort, dann legte er sich hin und ließ sich zudecken und kraulen, bis er endlich eingeschlafen war.
Schmerz...
Richard erwachte nur ein paar Stunden später, mitten in der Nacht. Die wiederkehrenden Schmerzen hatten ihn aus dem Schlaf geholt. Verwirrt sah er sch um. Im schwachen Mondlicht konnte er zwar nicht viel ausmachen, er sah aber, dass der Jüngere friedlich auf dem Sofa lag und schlief.
Richard hatte Durst. Er tastete auf dem Tisch neben sich herum und fand schließlich die halb volle Flasche mit dem Wasser. Seine schmerzenden Finger ignorierend fing er an zu trinken. Erst als sein Magen erneut rebellierte, hörte er auf. Er stellte die Flasche ab und wollte sich auf die Seite drehen und weiterschlafen, er war hundemüde. Allerdings musste er feststellen, dass das nicht so ohne Weiteres ging. Er konnte sich nicht auf die linke Seite legen, da machte seine Schulter Probleme. Die schmerzte auch so genug. Auch auf die rechte Seite und auf den Bauch legen konnte er sich schlecht, denn seine gebrochenen Rippen dachten nicht daran zu heilen. Wie denn auch? Körperlich war er gar nicht in der Verfassung dazu, mit irgendwelchen schwerwiegenderen Verletzungen fertig zu werden. Das Ganze war zwar jetzt über zwei Wochen her, aber in der Zeit hatte er nie zur Ruhe kommen können oder dürfen. Erholung war für seinen Körper zum Fremdwort geworden.
Er biss sich in die Hand. Durfte er denn überhaupt zur Ruhe kommen? Er musste doch das machen, was von ihm verlangt wurde, oder? Schließlich was das doch das Einzige, wozu er noch gut war. Wenn das überhaupt stimmte.
Richard schüttelte schwermütig den Kopf. Das brachte ihn jetzt auch nicht weiter. Er wollte schlafen. Unbedingt. Egal, ob das jetzt richtig war, oder nicht, sein Überlebensinstinkt sagte es ihm ganz einfach, dass er es wollte und auch musste. Also versuchte er sich nun auf den Rücken zu legen. Keine Chance. Er hätte beinahe aufgeschrieen, als er die frischen Verletzungen belastete. Was tat er jetzt? Ihm ging langsam, ganz langsam auf, dass sein Peiniger ihm jede Möglichkeit genommen hatte, vernünftig zu schlafen. Dabei war er doch so müde. Ihm fielen schon im Sitzen die Augen zu. Moment! Im Sitzen? Naja, wenn es nicht anderes ging.
Vorsichtig glitt er vom Bett hinunter. Die Kette klirrte. Erschrocken sah er zum Sofa. Hatte er damit den Jüngeren geweckt? Das wollte er eigentlich vermeiden. Aber nein, nichts regte sich. Richard versuchte sich in eine einigermaßen bequeme Position zu bringen, dann lehnte er den Kopf gegen die Bettkante. So würde es gehen, das hoffte er zumindest. Er zog die Decke zu sich hinunter und drapierte sie über sich. Ihm war in der kurzen Zeit ohne Decke schon wieder so kalt geworden, dass er angefangen hatte zu zittern. Noch mal schaute er zum Sofa. Doch dort war alles ruhig. Langsam döste er wieder ein.
Der Psycho hatte Richards Versuche wieder einzuschlafen interessiert, amüsiert und auch ein wenig ängstlich beobachtet. Im Prinzip war ja die Tatsache, dass der Schwarzhaarige nicht mehr bequem schlafen konnte ganz lustig, das hatte er so gar nicht bedacht.
Er lächelte in sich hinein. Das Foltern hatte er echt drauf, da konnte niemand meckern. Er konnte seinen Opfern selbst die normalsten Dinge der Welt zur Qual werden lassen und das auch noch, ohne, dass sie es merkten! An sich wundervoll. Doch hier war das eigentlich alles andere als gut. Er wusste jetzt schon, dass er sich morgen wieder auf einen Anschiss von seinem Kumpel gefasst machen konnte. Hmm, oder ob er ihn jetzt gleich anrief? Aber dann würde Richard wieder ein Schmerzmittel kriegen, damit er wenigstens ruhig schlafen konnte. Und der Anschiss würde auch sofort kommen. Aber vielleicht war er dann weniger groß? Andererseits würden sie Richard damit den Schlaf rauben und den brauchte er ja eigentlich auch. Und außerdem war er ja jetzt gerade wieder eingeschlafen, vermutlich war die Erschöpfung so groß, dass es ihm erst einmal egal war, ob er nun im Sitzen oder im Liegen schlief.
‚Ach, was soll’s, er wird schon eine ruhige Nacht haben. Und falls er wirklich noch einmal aufwachen sollte, kann ich ja immer noch anrufen.’ Mit diesem Gedanken drehte sich der Psycho auf die Seite und schlief dann auch weiter.
Richards Entführer irrte. Die Nacht wurde für den Schwarzhaarigen keineswegs so ruhig, wie er angenommen hatte. Ständig fuhr der Ältere aus dem Schlaf, wenn man diesen Halbzustand zwischen Wachsein und Nichtwachsein überhaupt als schlafen bezeichnen konnte. Richard fand nicht so wirklich eine bequeme Position und döste mehr oder weniger vor sich hin. Sein Hintern tat ihm auch irgendwann von dem langen Sitzen weh, aber eine andere Position hatte er nicht. Die Schmerzen wurden auch immer schlimmer. Schließlich übermannte ihn doch irgendwann einmal die Müdigkeit und dann schlief er wieder, mal eine Stunde, mal eine halbe, manchmal auch nur ein paar Minuten und dann wachte er wieder auf und suchte sich eine bequemere Position, meist ohne Erfolg. Außerdem war ihm, trotz der Decke, kalt. Er fror erbärmlich, was aber auch an den Verletzungen lag. Er sehnte den Tag herbei, irgendeine Ablenkung von dem Dilemma einen unglaublichen Drang zum Schlafen zu haben und diesen gleichzeitig nicht erfüllen zu können. Schließlich nickte er doch wieder ein.
Als die ersten Sonnenstrahlen den Raum erhellten, wachte er wieder auf. Die Schmerzen waren mittlerweile unerträglich geworden. Alles tat ihm weh, vor allem sein Rücken und die gebrochenen Knochen. Dazu kam diese unglaubliche Müdigkeit. Ihm war schlecht, gleichzeitig hatte er Hunger. Ein neuerlicher Hustenkrampf bahnte sich an. Das machte alles noch viel schlimmer. Richard kamen wieder die Tränen, vor Schmerzen und vor Verzweiflung, weil er es einfach nicht mehr aushielt.
Er spürte, wie ein Schatten auf ihn fiel. Sein Peiniger stand vor ihm und musterte ihn mit besorgtem Gesichtsausdruck. Dann verschwand er für kurze Zeit, kam jedoch rasch wieder. Richard hatte sich immer noch nicht beruhigt. Er spürte, wie der Jüngere sich zu ihm setzte und anfing, ihm beruhigend den Kopf zu kraulen.
„Schh, alles wird gut, gaaanz ruhig, Hilfe ist doch schon unterwegs, ganz ruuuuhig...“ Der Ältere drängte sich näher an seinen Entführer und der verweigerte ihm die Nähe nicht. So saßen sie eine Weile aneinandergelehnt da, bis sie draußen das Geräusch eines ankommenden Autos hörten. Sie sahen beide auf.
„Warte, ich bin gleich wieder da, ok? Kommst du kurz allein klar?“ Richard blickte ihn an, dann nickte er langsam. Sofort bereute er es jedoch wieder, da ihm die Nähe und die Wärme eines anderen Lebewesens fehlte. Halbherzig streckte er die Hände nach dem Jüngeren aus, doch der bekam das nicht mehr mit und so ließ er es auch schnell wieder bleiben.
Nur kurz darauf betraten zwei Gestalten den Raum, die eine machte einen ziemlichen Lärm: „...hättest mich schon viel eher anrufen sollen! Ich hab dir doch gesagt, dass das nichts extra kostet! Bist du denn noch zu retten? Das war doch klar, dass er nicht schlafen kann! Dabei braucht er das doch! Du hättest mich wirklich...“
„...schon viel eher anrufen sollen, jaja, ich weiß!“, unterbrach der Psycho ziemlich genervt.
„Ach, und warum tust du es nicht? Du machst nie das, was man dir sagt, schlimm, ehrlich mal!“
Während des Streits waren sie immer näher gekommen und Richard hatte sich immer kleiner gemacht. Die lauten Stimmen hatten ihn zutiefst verängstigt. Jetzt bekam die einzige Person, der er noch trauen konnte auch noch wegen ihm Ärger. Das war doch nicht richtig! Konnte er sich denn nicht zusammenreißen? Wegen das bisschen Schmerzen gleich zu flennen! So schlimm war’s doch gar nicht, oder? Es würde auch wieder vorüber gehen, da war er sich ganz sicher. Aber nein, er konnte nicht mal ein bisschen was aushalten. Er war wirklich nichts wert, wenn ihn schon so etwas dermaßen aus der Bahn warf.
Er schrak zusammen, als ihn jemand ansprach: „Hey Kleiner! Kannst du mich hören?“
Richard sah ihn an. Der Arzt zuckte leicht zurück, als er in diese Augen sah, in denen sich die nackte Angst abzeichnete.
„Hey, ist doch alles gut. Du brauchst keine Angst zu haben. Ich will dir doch nur helfen...“
„Aber...aber...“ Mehr brachte Richard nicht heraus, er starrte ängstlich zu seinem Entführer, der neben ihm stand wie ein begossener Pudel.
„Ach, um den mach dir mal keine Gedanken.“, meinte der Arzt grinsend als er den Blick bemerkte, „Der braucht ab und zu mal jemanden der ihm ordentlich die Leviten liest. Und jetzt bleib ruhig, ja? Es wird jetzt gleich kurz pieksen...“ Richard nickte nur, er wirkte jetzt etwas erleichterter. Den Einstich spürte er kaum, es beeindruckte ihn auch nicht sonderlich. Sein Peiniger war hingegen leicht überrascht. Hatte der Schwarzhaarige schon so eine Angst vor ihm? Wenn ja, das wäre ja wunderbar, dann hatte er ihn ja komplett in der Hand. Er hätte nie gedacht, dass sein Psychoterror schon so rasch Wirkung zeigen würde. An sich grandios. Er war darüber ziemlich happy und das merkte man ihm auch an.
Richard spürte derweil, wie die Schmerzen langsam nachließen und er fühlte sich gleich viel wohler. Wieder wurde er angesprochen: „Geht es dir jetzt besser?“ Er nickte.
„Gut, dann würde ich vorschlagen, dass du dich jetzt wieder ins Bett legst, ok?“ Wieder ein Nicken, dann versuchte Richard langsam aufzustehen. Das war jedoch schwieriger, als gedacht. Er konnte sich kaum auf den Beinen halten und er wäre sicherlich wieder umgefallen, wären da nicht gleich vier Hände gewesen, die ihn auffingen und stützten.
„Mach langsam, ja? Ganz ruhig, wir wollen dir schließlich nur helfen...“ Damit verfrachteten der Psycho und sein Kumpel den Schwarzhaarigen wieder ins Bett. Der war froh, dass er sich endlich hinlegen konnte. Am liebsten wäre er gleich wieder eingeschlafen, so müde war er. Die beiden Jüngeren bemerkten, dass ihm immer wieder die Augen zufielen.
„Hey, schlaf ruhig noch ein wenig, ok? Wir können warten.“ Richard nickte dankbar und war fast auf der Stelle wieder eingeschlafen.
„Ach, können wir das, ja?“
„Ja, können wir! Jetzt reg dich ja nicht auf, mach uns lieber mal was zu essen!“
Der Psycho warf seinem Kumpel einen undefinierbaren Blick zu, dann verschwand er jedoch tatsächlich in die Küche und kochte Kaffee und suchte alles für ein Frühstück zusammen.
Richard erwachte zwei Stunden später. Er blinzelte kurz, dann rieb er sich den Schlaf aus den Augen und setzte sich vorsichtig auf. Durch das Schmerzmittel hatte er einen einigermaßen erholsamen Schlaf gehabt und war jetzt hungrig. Bevor er sich aber überlegen konnte, wie er denn jetzt am besten auf sich aufmerksam machen könnte, standen auch schon zwei Personen vor dem Bett. Ängstlich schaute er zu ihnen hoch. Sie hatten ihm zwar gesagt, dass sie ihm helfen wollten, aber woher konnte er wissen, ob sie nicht doch logen? Er spürte ein beruhigendes Kraulen an seinem Kopf.
„Ist doch gut, wir tun dir doch nichts.“
„Zumindest nichts, was du nicht auch verdient hättest...“, fügte der Psycho mit einem grausamen Lächeln hinzu. Der Arzt sah ihn kopfschüttelnd an, dann wandte er sich an Richard: „Du hast doch sicherlich Hunger, oder?“ Er nickte und bevor er nur ansatzweise über das, was sein Entführer gesagt hatte, nachdenken konnte, hatte der auch schon wieder angefangen, ihn zu füttern. Und wieder war nach einem halben Glas Schluss. Richard verfluchte sich innerlich. Warum konnte er nicht einfach weiter essen? So ein paar Magenkrämpfe waren doch nicht so schlimm, oder? Obwohl...wenn er alles wieder rausbrachte, war es doch schlimm.
Der Arzt sprach ihn an: „Sag mal kannst du immer noch nicht mehr essen?“ Der Ältere nickte ängstlich. Würde er dafür jetzt Ärger bekommen?
„Hmm, das ist aber nicht so gut...Wie oft gibst du ihm was zu essen?“, wandte sich sein Gegenüber wieder an den Psycho.
„Naja, kommt drauf an...immer wenn er wach ist im Normalfall...“, antwortete der, während er Richard mit Wasser versorgte.
„Hmm, also du musst auf jeden Fall zusehen, dass der Gute mehr isst, sonst verhungert der dir noch. Und das, obwohl du ihm immer etwas zu essen gibst...“
„Und wie soll ich das bitteschön anstellen? Du siehst doch, wie wenig er verträgt...“
„Jetzt sei doch nicht gleich wieder so gereizt! Damit meine ich, dass du die Abstände zwischen den Mahlzeiten verkürzen musst. Und wenn du damit seinen Schlaf stören musst, dann ist das eben so. Jedenfalls braucht er mehr zu essen. Meiner Meinung nach müsstet ihr wenigstens auf so vier bis sechs Gläser kommen, pro Tag versteht sich natürlich...“
Der Psycho nickte ergeben und stellte die Flasche wieder weg. „Also gut.“, meinte er dann. „Was ist jetzt? Ich dachte, du wolltest ihn noch untersuchen...“
„Mach ich ja auch.“, war die Antwort. Der Arzt wandte sich an den Schwarzhaarigen, der im Bett saß und nicht so recht wusste, was er von dem Gespräch eben halten sollte. Dumpf spürte er, wie der Schmerzen zurückkamen.
„Ich werde dich jetzt noch einmal röntgen, ok? Und dann müssen wir noch die Verbände wechseln. Wirst du stillhalten?“ Richard bedachte ihn erst einmal mit einem verständnislosen Blick, dann nickte er langsam.
„Gut, dann werde ich mal das ganze Zeug holen gehen. Und du!“ Damit wandte sich der Jüngere an den Psycho. „Du lässt ihn in Ruhe! Verstanden?“ Ein zögerliches Nicken. „Na dann ist ja gut...“ Damit verschwand er.
Richards Entführer setzte sich zu dem Schwarzhaarigen aufs Bett. Der lehnte sich sofort an ihn, froh darüber, dass seine Bezugsperson da war.
„Warum...warum sagt er...dass du mich...dass du mich in Ruhe...lassen sollst?“
Richards ganzes Verhalten erinnerte mehr an das eines kleinen verängstigten Kindes, als an das eines erwachsenen Mannes und der Jüngere hätte ihn am liebsten erst mal so richtig durchgeknuddelt. Er beließ es aber dabei, ihm weiterhin sanft den Kopf zu kraulen. Stattdessen begann er, ihm mit der freien Hand zärtlich den Rücken zu streicheln.
„Naja, vielleicht dachte er ja, dass ich dir weh tue. Aber das stimmt doch nicht, oder? Ich tu dir doch jetzt nicht weh, oder?“ Richard schüttelte den Kopf und gab sich dann wieder ganz den liebevollen Berührungen hin.
„Nein...“, sagte er dann leise. „Nein, das stimmt wirklich nicht...“
Innerlich musste der Psycho lachen. Wie sehr er doch sein Opfer schon in der Hand hatte. Wirklich zu komisch. Trotzdem...er konnte sich eines warmen Gefühls nicht erwehren, wie da so saß und dem Älteren zur Abwechslung auch mal etwas Gutes tat.
Er schüttelte unmerklich den Kopf. So etwas konnte er jetzt überhaupt nicht gebrauchen. Eigentlich hasste er Richard und die anderen Rammsteiner doch, oder? Darum tat er das doch alles hier, oder? Was er jetzt am wenigsten gebrauchen konnte, waren so etwas wie freundschaftliche Gefühle oder gar Liebe zu einem der sechs Menschen, die er am meisten verabscheute. Darüber musste er sich klar werden.
Abrupt beendete er seine Streicheleinheiten und stand auf. Wieder streckte Richard halbherzig die Hände nach ihm aus und diesmal bemerkte es sein Peiniger. Er sah ihm tief in die Augen. Der Schwarzhaarige blickte ihn ängstlich an, er wirkte hilflos wie ein kleines Kind. Der Psycho wusste nicht, was er machen sollte. Am liebsten hätte er in diesem Moment die ganze Sache abgebrochen, Richard ins Krankenhaus gebracht und sich der Polizei gestellt.
Glücklicherweise betrat in diesem Moment der Arzt den Raum und half seinem Kumpel diesen Moment der Schwäche zu überspielen.
„Oh, wie ich sehe, hältst du dich mal an das, was ich dir sage, sehr schön!“, meinte er lächelnd. Dann machte er sich daran, ein paar bekannte Gerätschaften aufzubauen. Er trat wieder mit einer großen Metallplatte zu Richard, der verwirrt und ängstlich auf dem Bett saß.
„Ok, du musst dich jetzt darauf legen, ok?“ Ein verständnisloser Blick traf den Arzt, dann tat der Schwarzhaarige aber das, was von ihm verlangt wurde. Immer wieder suchte er die Augen seines Entführers. Er konnte überhaupt nicht verstehen, was mit dem gerade eben los gewesen war. Warum war er plötzlich so abweisend geworden? Richard hatte doch keinen Fehler gemacht, oder? Vielleicht durfte er die Streicheleinheiten auch gar nicht genießen, wer wusste das schon so genau?
Er spürte das kalte Metall unter seinem Rücken und die eintretenden Schmerzen holten ihn wieder in die Realität zurück. Er verzog das Gesicht. Schon wieder tat ihm alles höllisch weh. Er wusste allerdings, dass sich das Ganze noch steigern würde. Verdammt! Nur entfernt hörte er die Stimme des Arztes über sich:
„Hey, was ist denn los? Hast du etwa schon wieder Schmerzen?“ Richard hatte Mühe, seine Augen zu fixieren, schaffte es jedoch und nickte dann.
„Hmm, dabei dürfte es doch jetzt noch gar nicht soweit sein...“
„Naja, vielleicht hast du ja was falsch dosiert, oder so?“ Das war der Psycho, der sich wieder gefangen hatte und jetzt im Nachhinein über seinen kurzen Moment der Schwäche nur müde lächeln konnte. Was hatte er sich bloß dabei gedacht? Nichts, überhaupt nichts, und deshalb lohnte es sich auch gar nicht, weiter darüber nachzudenken.
Die Stimme seines Kumpels holte ihn wieder in die Realität zurück: „Nein, das kann eigentlich nicht sein, naja gut, er hat jetzt zwei Stunden geschlafen, vielleicht hab ich mich da etwas verschätzt, aber eigentlich...hmm, was machen wir denn da jetzt mit dir?“
„Dann gib ihm halt noch eine Spritze, wenn’s denn unbedingt sein muss...“ Richards Peiniger klang ziemlich gereizt.
„Nein, nein, das ist mit noch einer Spritze nicht getan...der Gute braucht jetzt mindestens eine Woche lang absolute RUHE, WÄRME und vor allem KEINE SCHMERZEN! Hab ich mich verständlich ausgedrückt? Sonst überlebt der das hier nie, wenn du so weitermachst. Ich dachte ja eigentlich, dass du noch ein wenig Spaß mit ihm haben wolltest...“
„Naja...wollte ich ja auch...“
„Also dann halte dich gefälligst auch mal an das, was ich dir sage! Das war bei den anderen schon schlimm genug. Und mit denen hast du ja nur geübt! Ich war ja eigentlich der Meinung, dass du jetzt, wo du denjenigen hast, den du haben wolltest, mit ein bisschen mehr Ernst an die Sache herangehst...“
„Jaja, ist ja schon gut!“, erwiderte der Psycho genervt. Der Typ war ja noch schlimmer als seine Mutter! Oder besser gesagt: Ihre Mutter. Musste der sich wohl von ihr abgeguckt haben. Innerlich verdrehte er die Augen, als er nur daran dachte.
„Na, das will ich auch schwer hoffen, dass es jetzt ‚gut’ ist...“, hörte er den Anderen murmeln. Er blickte gerade noch rechtzeitig zu ihm, um zu sehen, dass Richard erneut eine Spritze gesetzt wurde.
Der Schwarzhaarige atmete tief durch, als er spürte, wie die Schmerzen langsam wieder nachließen. Er hörte eine bekannte Stimme: „Gut und jetzt halt mal bitte kurz die Luft an und beweg dich nicht, ok?“ Er tat es und hörte nur wenige Sekunden später ein „Gut, kannst weiter atmen...“
Der Arzt kam zu ihm.
„Ok, während das Bild entwickelt, werde ich dir jetzt die Verbände wechseln. Kannst du dich aufsetzen?“ Richard nickte und kam vorsichtig hoch.
„Gut, ruhig bleiben, ja? Sag mir Bescheid, wenn es nicht mehr geht oder wenn die Schmerzen wiederkommen.“ Ein Nicken war die Antwort. Der Arzt machte sich vorsichtig daran, die Verbände zu entfernen. Als er damit fertig war, begutachtete er zusammen mit dem Psycho das, was darunter zum Vorschein kam.
„Na, das sieht doch schon mal ganz gut aus. Hätte schlimmer sein können...“, kommentierte der Ältere der beiden. Richards Rücken sah tatsächlich schon bedeutend besser aus als es gestern noch der Fall war. Nirgends war eine Wunde offen, alles war von Schorf bedeckt, nichts hatte sich entzündet. Dann besahen sie sich den Brand. Auch der nässte und eiterte nicht mehr, allerdings hatte sich eine dicke gelb-weiße Kruste darauf gebildet.
„Bähh, was ist das denn?“ Der Psycho wirkte leicht angeekelt.
„Das ist der getrocknete Eiter du Depp! Sei froh, dass es so aussieht und nicht anders. Der Gute hatte echt viel Glück, davon kann man nämlich auch eine Blutvergiftung kriegen...“ Damit machte sich der Arzt daran, die Verletzungen noch einmal zu desinfizieren. Danach strich er eine Art Paste darauf. Bevor sein Kumpel fragen konnte, was das war, erklärte er auch schon: „Das Zeug beschleunigt die Wundheilung. Ist ganz nützlich, vor allem bei Fällen, wie diesem hier...“ Dann machte er sich daran, Richard wieder zu verbinden. Der ließ das alles widerstandslos über sich ergehen. Er war froh, dass die Schmerzen endlich weg waren und befand sich in einem tranceartigen Zustand. Am liebsten hätte er weitergeschlafen. Allerdings machte ihm da sein Magen erneut einen Strich durch die Rechnung. Ein lautes Knurren war zu hören.
„Oh, du hast ja schon wieder Hunger. Na das ist doch mal ein gutes Zeichen.“, meinte der Arzt lächelnd. Er war fertig mit der Wundversorgung und nahm die Metallplatte weg.
„Du kannst dich jetzt wieder hinlegen und ausruhen, ok?“ Entgegen aller Erwartungen schüttelte Richard allerdings den Kopf.
„Nein? Warum denn nicht?“ Der Schwarzhaarige sah unsicher zum Psycho, welcher kaum merklich nickte.
„Weil...weil ich dann gleich wieder schlafe...und ich hab doch...Hunger...“ Er hörte ein Lachen, dann wurde ihm liebevoll der Kopf getätschelt.
„Naja, dann wollen wir dir nicht länger den Schlaf vorenthalten...Mund auf!“ Richard sah dankbar zu seiner Vertrauensperson, dann ließ er sich wieder füttern. Diesmal schafften sie schon etwas mehr als die Hälfte des Glases. Anscheinend gewöhnte sich Richards Magen langsam wieder Nahrung.
„Gut“, meinte der Arzt. „Dann sehen wir uns jetzt noch das Röntgenbild an und dann kannst du wieder schlafen, ok?“ Ein Nicken war die Antwort. Der Arzt holte das Bild. Interessiert steckten alle drei die Köpfe zusammen und begutachteten das Ergebnis.
„Aha, konnte ich es mir doch denken...“
„Was konntest du dir denken?“, fragte der Psycho seinen Kumpel.
„Er hat einen Riss im linken Schulterblatt, siehst du? Hier.“ Er deutete auf die Stelle. Eine dünne Linie, gut drei, vier Zentimeter lang, zog sich dunkel über den weißen Knochen.
„Und...ist das jetzt gut, oder schlecht?“ Der Jüngste der drei hörte sich ziemlich besorgt an.
„Naja, ‚gut’ ist es bestimmt nicht, du schlaues Kind! Aber mit viel Ruhe und Schonung heilt das wieder. Ich hoffe, du hast verstanden, was ich meine...“
„Jaja, ist ja schon gut...“, kam eine gereizt geknurrte Antwort.
Richard legte sich vorsichtig wieder hin. Er wusste nicht so recht, was er von der Tatsache, dass nicht nur ein paar seiner Rippen, sondern auch noch seine Schulter gebrochen waren, halten sollte. Und wenn er schon bei seiner Schulter war – warum schmerzte die schon wieder? So lange war das doch noch gar nicht her, dass er das Schmerzmittel erhalten hatte, oder? Sollte er jetzt etwas sagen? Oder würde er dafür Ärger bekommen?
Seine Überlegungen erübrigten sich, als die beiden Jüngeren mitbekamen, wie er krampfhaft versuchte, die Schulter zu entlasten.
„Sag bloß, du hast schon wieder Schmerzen?“, kam es von dem Arzt. Richard konnte nichts anderes tun, als zu nicken. Er wünschte sich ja so sehr, dass es endlich aufhörte.
„Hmm, was machen wir denn da bloß?“
„Na, dann gib ihm halt noch ne Spritze...“
Der Arzt verdrehte genervt die Augen. Sein Kumpel konnte ja so unglaublich nervig sein.
„Du machst es dir aber auch verdammt einfach, weißt du das? Wenn die Schmerzen ständig wiederkommen, ist das überhaupt nicht gut. Und das lässt sich auch nicht so einfach mit Spritzen beheben...“
„Na toll, und hast du auch eine Idee zur Lösung dieses Problems?“
„Hmm...am einfachsten wäre es, wenn ich ihm eine Infusion legen würde...“
„Na, dann tu das. Musst du wissen, schließlich hab ich...“
„...nicht Medizin studiert, ich weiß. Das musst du mir nicht ständig unter die Nase reiben! Ich weise dich aber darauf hin, dass das dann...“
„...extra kostet, ich weiß! DAS musst DU mir auch nicht ständig unter die Nase reiben!“
„Ähmm...ich will mich ja nicht einmischen...“, kam eine leise Stimme von dem Mann neben ihnen.
„Dann tu es auch nicht!“, herrschte der Psycho Richard scharf an. Der zuckte ängstlich zurück, sprach dann aber doch weiter: „Naja...ich wollte eigentlich nur fragen...ob ich mich wieder hinsetzen kann...es tut weh...“
„Na dann mach doch! Tu, was du nicht lassen kannst.“ Aus irgendeinem Grunde war der Jüngste von ihnen ziemlich sauer.
‚Wie schön, dass wir uns alle hier so prächtig verstehen...’, ging es seinem Kumpel durch den Kopf. Dass der Typ auch immer gleich eingeschnappt sein musste. Das war schon so gewesen, als sie noch Kinder waren. Naja gut, eigentlich müsste er sich ja langsam mal daran gewöhnt haben. Hatte er aber nicht.
Seufzend machte sich der Arzt daran, Richard eine Infusion zu legen, durch die der Schwarzhaarige kontinuierlich mit Schmerzmitteln versorgt werden konnte.
‚Wenn das so weitergeht, können wir Richard gleich in ein Krankenhaus verfrachten. Das wäre sowieso besser für ihn...’ Es war das erste Mal, dass einer von den beiden Richard beim Namen nannte, wenn auch nur in Gedanken. Sonst vermieden sie das immer. Der Psycho ganz bewusst, schließlich sollte sein Opfer ja alles vergessen, was ihm einmal etwas bedeutet hatte. Sein Kumpel hatte das eher unbewusst nachgeahmt. Erst jetzt war es ihm zum ersten Mal aufgefallen...
Er fixierte den Schlauch an der Hand des Schwarzhaarigen. Danach hängte er einen Infusionsbeutel daran und verdonnerte seinen Kumpel zum Halten.
„Gut, jetzt müsstest du dich wieder hinlegen können...“ Richard nickte und tat das dann auch. „Danke.“, flüsterte er. Es war ganz leise, doch die Person, der es galt, hörte es. Der Arzt nickte knapp.
„Gut, ich geh dann mal, ich lass dir noch ein paar Infusionsbeutel da. Sollte noch was sein...“
„...ja, es ist noch was! Soll ich das Ding jetzt die ganze Zeit über hochhalten, oder was?“ Der Psycho wirkte schon wieder ziemlich genervt.
„Naja, lass dir halt was einfallen.“, war die Antwort. „Der Beutel muss auf jeden Fall hochgelagert werden, klar soweit? Gut, jetzt muss ich aber wirklich. Wie gesagt: Sollte noch was sein...“
„...ruf ich dich an und ich werde ja dann sehen, ob das extra kostet!“ Da war jemand aber wirklich genervt.
„Du hast es erfasst!“, meinte der Arzt gut gelaunt und dann war er auch schon wieder verschwunden und Richard war wieder mit seinem Peiniger allein.
Ein glorreicher Plan
Der Psycho sah genervt und unentschlossen drein. Richard zupfte interessiert an dem Zugang an seiner Hand herum.
„Lass das!“, hörte er eine scharfe Stimme und er zuckte ängstlich zurück. „Das muss dranbleiben, verstanden? Sonst hast du wieder Schmerzen und ich dachte, das wolltest du nicht.“
Der Ältere sah ihn erst verständnislos an, nickte dann aber folgsam.
„Hier halt mal eben.“ Der Psycho drückte ihm den Infusionsbeutel in die Hände und verschwand für kurze Zeit. Richard sah ihm nach. Er hatte wieder Angst. Er wollte nicht alleine gelassen werden. Schon war er kurz davor, wieder zu heulen, als der Psycho mit einem Haken, ein paar Dübeln und einer Bohrmaschine wiederkam. Dann fing er an, in die Wand hinter dem Bett und knapp über Richards Kopf ein Loch in die Wand zu bohren. Der Schwarzhaarige zuckte bei dem lauten Geräusch erschrocken zusammen und verkroch sich unter der Bettdecke, während er sich das Kopfkissen auf die Ohren drückte. Als der Psycho fertig war, steckte er den Dübel in das frisch gebohrte Loch und dort hinein den Haken um letztendlich den Infusionsbeutel daran zu befestigen.
„Gut...“, murmelte er dann, „das müsste jetzt so funktionieren, was meinst du?“ Damit wandte er sich an den Schwarzhaarigen und war erst einmal erstaunt, dass er den nirgends entdecken konnte. Doch dann sah er den zitternden Deckenhaufen und ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Er zog vorsichtig die Decke weg und erblickte ein Paar riesengroße ängstliche Augen, die ihn anstarrten.
„Hey, ist ja gut...“, meinte er leise und dann: „Sag bloß, das war dir jetzt zu laut?“
Richard starrte ihn immer noch ängstlich an und nickte dann zitternd.
„Hey, das war doch gar nicht so schlimm, beruhig dich wieder, ja? Na komm, leg dich hin, du musst schlafen...“
Er wurde immer noch angestarrt, doch dann tat der Ältere folgsam das, was von ihm verlangt wurde. Er kuschelte sich in die Decken und als er wieder am Kopf gekrault wurde, fielen ihm die Augen zu und er schlief friedlich ein.
Er wurde von einem lauten Freudenschrei geweckt. Erschrocken fuhr Richard aus dem Schlaf, sein Puls hämmerte gegen seine Schläfen und er sah sich gehetzt um. Was war denn jetzt los? Er erinnerte sich, dass er wieder geträumt hatte. Fünf Gestalten, die er nicht kannte und die ihm doch seltsam vertraut schienen, waren aufgetaucht und hatten ihn hier rausgeholt. Er erinnerte sich, dass er sich darüber gefreut hatte, gleichzeitig war er traurig darüber gewesen, weil ihn doch da draußen keiner mehr haben wollte und weil es doch besser für alle war, wenn er hier blieb. Und dann war er wieder in den Schnee gefallen und wurde zurückgezogen und dann war es schwarz und dieser rasende Schmerz...
Wieder hörte er den lauten Freudenschrei. Er sah, wie sein Entführer förmlich angesprungen kam und wunderte sich. Gleichzeitig befiel ihn die Angst. Es bedeutete für ihn nie etwas Gutes, wenn der Jüngere so happy war. Was würden jetzt wieder für Quälereien auf ihn zukommen? Und hatte der Arzt nicht gesagt, dass er für die nächste Woche keine Schmerzen mehr haben dürfe? Er zitterte. Warum konnte er seine Scheu vor Schmerzen nicht ablegen? Warum denn nicht? Oder war er es etwa gar nicht wert, dass ihm die Schmerzen irgendwann egal waren? Vielleicht war er ja so wertlos, dass er immer Schmerzen empfinden musste?
Seine verwirrten Gedanken wurden unterbrochen, als sich sein Peiniger zu ihm aufs Bett setzte, ihn angrinste und dann den Fernseher einschaltete. „Du, ich hab grad was in den Nachrichten gesehn, das solltest du dir unbedingt auch angucken! Ich bin sicher, das...hmm...wird ziemlich interessant für dich sein...“ Grinsend drehte er den Ton lauter.
Richard blickte mit großen, ängstlichen Augen zum Fernseher und was er dort sah, ließ ihn erschrocken zurückzucken. Es liefen gerade Nachrichten und es wurde ein Bild von ihm eingeblendet. Der Schwarzhaarige fragte sich, woher die das hatten und warum er darauf eigentlich so glücklich aussah. In ihm regte sich ein vage Erinnerung, doch als er dieser nachgehen wollte, verschwand sie so schnell, wie sie gekommen war. Richard hatte allerdings keine Zeit, ihr hinterher zu trauern, denn jetzt wurde ein Bild von der gesamten Band „Rammstein“ eingeblendet. Und plötzlich meinte Richard zu wissen, wer diese Gestalten in seinem einen, ständig wiederkehrenden Traum waren. Doch auch dieses Gefühl hielt nicht lange, da seine Überlegungen durch das unterbrochen wurden, was der Nachrichtensprecher zu sagen hatte und was erst mit sehr großer zeitlicher Verzögerung in sein Ohr drang: „Vor mittlerweile mehr als zwei Wochen ist der Richard Z. Kruspe, Gitarrist bei der bekannten deutschen Band Rammstein, entführt worden. Kurz nach seinem Verschwinden waren Videos aufgetaucht auf denen der Vermisste grausam und brutal gefoltert wurde. Jetzt teilte die Polizei mit, dass sie die Suche eingestellt haben. Die Gründe dafür sind unklar...“
Mehr bekam Richard nicht mit, er war wie vor den Kopf geschlagen. Was hatte das zu bedeuten? Und wer waren diese fünf Menschen, die ihm so seltsam vertraut vorkamen und die er doch nirgends in seinem Gedächtnis einordnen konnte?
Wenn er doch wenigstens wissen könnte, wer sie waren. Dann hätten sich vielleicht auch die Erinnerungen einstellt, die er für sehr wichtig hielt. Doch er wusste es nicht. Oder eher nicht mehr. Und das machte ihm Angst. Es machte ihm so sehr Angst, dass er anfing zu zittern. Und dann kamen auch wieder die Tränen, doch er hielt sie zurück. Er wollte nicht weinen. Warum sollte er wegen Leuten weinen, die er nicht kannte? Und warum sollte er verlorenen Erinnerungen nachweinen, die doch nicht wiederkamen?
Er wusste nicht, dass er eigentlich um seine verlorene Hoffnung, doch noch gefunden zu werden, weinen wollte. Er wusste nicht, dass gerade etwas dabei war, in ihm zu zerbrechen, ausgelöst durch die riesige Enttäuschung, dass tatsächlich alles stimmte, was sein Peiniger ihm eingeredet hatte. Noch wusste er das nicht. Aber er sollte es erfahren, gut drei Tage später. Jetzt aber, da er noch nichts mit seinen Empfindungen anzufangen wusste, tat er das, was er mittlerweile immer tat, wenn er sich hilflos fühlte: Er suchte sich Trost bei dem einzigen Menschen, von dem er wusste, dass der ihm Halt geben konnte.
Richards Entführer bemerkte den Stimmungsumschwung und streichelte sein Opfer sanft, welches zunächst zurückzuckte, ihn dann aber doch gewähren ließ.
„Hey mein Kleiner, was ist denn los?“
Richards heißeres Flüstern war kaum zu verstehen: „Ich kenne sie nicht. Ich kenne sie einfach nicht. Aber ich weiß, ich müsste sie kennen...oder?“
Der Jüngere konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
„Nein...nein, das musst du nicht...“
„Nicht?“
Richard musste einfach fragen, was sich aber als keine so gute Idee herausstellte, da ihm so heftig auf die gebrochene Schulter geboxt wurde, dass die Empfindung sogar durch seine von den Schmerzmitteln betäubten Sinne drang. Er verbiss sich mit Mühe einen Schrei. Gleich darauf spürte er jedoch ein beruhigendes Streicheln und wieder zuckte er zurück.
„Du bist selber schuld!“, hörte er dann, „Du weißt doch, dass du mich nicht unterbrechen darfst!“
Richard nickte.
„Aber ich will mal nicht so sein und auf deine Frage antworten: Nein, du musst sie nicht kennen. Du musst überhaupt niemanden kennen, so, wie dich auch überhaupt niemand kennen muss. Ich bin der Einzige, der sich noch um dich kümmert, obwohl du auch das eigentlich nicht verdienst und deshalb bin ich auch der Einzige, den du kennen musst. Ist dir das klar?“
Richard nickte wieder. Ja, das war ihm klar. Das war ihm eigentlich schon von Anfang an klargewesen. Er drängte sich näher an seinen Peiniger und der zog ihn in eine sanfte Umarmung.
Richard wehrte sich nicht. Er genoss es einfach. Nach einiger Zeit hörte er allerdings ein leises Flüstern: „Aber weißt du Kleiner...du solltest wissen...ich tue fast nichts ohne Gegenleistung...“
Der Schwarzhaarige verspannte sich. Er wusste, was von ihm verlangt wurde. Und er wusste, er hatte keine Wahl. Und dann hörte er wieder dieses eine Wort, das er mittlerweile schon so sehr hassen gelernt hatte: „Umdrehen!“
Er tat es, ohne Gegenwehr. Nur seine Tränen flossen wieder. Langsam und doch stetig. Es tropfte still von seinem Kinn. Im Gegensatz zu sonst spürte er es diesmal allerdings kaum, als der Jüngere in ihn eindrang. Das lag zum Einen an den Schmerzmitteln, zum Anderen war sein Peiniger heute auch erstaunlich sanft. Erst, als er anfing, sich in ihm zu bewegen, brachen bei Richard alte Wunden auf. Nicht nur körperliche, sondern auch seelische. Ihm kam die Tatsache zu Bewusstsein, dass er gerade erneut missbraucht wurde. Er schloss die Augen und wartete bis es endlich vorbei war. Was sollte er auch sonst tun?
Er nahm sich vor, beim nächsten Mal nicht mehr zu heulen. Die Sache war es nicht wert, jedes Mal deswegen zu flennen. ER war es nicht wert, dass wegen ihm Tränen vergossen wurden. Nicht einmal von ihm selbst.
Die Augen weiter geschlossen, bemüht, den stetigen Tränenfluss aufzuhalten, wartete er auf das Ende. Als dieses dann aber endlich kam, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes, war er bereits vor Erschöpfung eingeschlafen.
Richards Entführer war ziemlich überrascht und leicht enttäuscht darüber gewesen, dass sein Opfer so wenig Gegenwehr zeigte. Dann aber überlegte er sich, dass der Schwarzhaarige sowieso viel zu schwach dafür war, mal ganz davon abgesehen, dass es dem Psycho eigentlich egal war, ob er sich wehrte oder nicht. Er wusste, wie sehr er Richard mit den Vergewaltigungen traf, er traf ihn damit mehr als mit den Misshandlungen. Dazu kam der andauernde Psychoterror. Er konnte alles in allem mit sich zufrieden sein.
Beinahe liebevoll deckte er sein Opfer zu und strich ihm noch einmal sanft durch die Haare, was ein leises wohliges Schnurren von Richard zur Folge hatte. Der Psycho lächelte. Dann drehte er sich um und wollte sich in Richtung Küche aufmachen – als plötzlich sein Handy klingelte. Verwirrt sah er sich um, dann entdeckte er es auf einem Kleiderhaufen. Kopfschüttelnd sah er auf das Display. Diese Nummer war ihm mehr als nur vertraut, aber warum rief ihn sein Bruder ausgerechnet jetzt an? Sie benahmen sich ja eigentlich nicht wirklich wie Brüder, in Wahrheit konnte keiner von beiden den anderen so richtig leiden und der Psycho selbst würde lieber sterben, als zuzugeben, dass der Typ zur Familie gehörte. Eine Familie die sie beide nie gehabt hatten.
Er schüttelte wieder den Kopf, dann ging er ran. „Was willst du denn?...Ach, tatsächlich? Hätte ich jetzt nicht für möglich gehalten...das war Ironie!“
Genervtes Augenrollen.
„Natürlich weiß ich das! Das weiß ich schon ne ganze Weile!...Ja...Ja, ist ja gut...Was?...Jaa, dem geht’s ganz gut...Ja, die Infusion ist noch dran, hältst du mich für bescheuert?...Das hab ich jetzt nicht gehört!...Nein, ich hab ihn in Ruhe gelassen!“
Ein Grinsen.
„Ja, das weiß ich...Von mir aus, tu, was du nicht lassen kannst...Ja...Ja bis dann.“
Damit drückte er das Gespräch weg. Dieser Typ konnte ja so unglaublich nervig sein! Als ob er nicht selber ganz genau wüsste, dass die anderen Rammsteiner nun alleine nach seinem Kleinen suchten, jetzt, da die Polizei dies nicht mehr tat. Wer hatte die Band denn sechs Jahre lang ausspioniert?
Plötzlich kam ihm ein Gedanke. Was wenn...?
Er überlegte, baute die Idee noch weiter aus und dann zog sich ein brutales Grinsen über sein Gesicht als der Plan in seinem Kopf feststand. Am liebsten wäre er in die Luft gesprungen vor Freude über seine Idee. Würde mal ein wenig Abwechslung in die Sache bringen. Er warf einen Blick auf den schlafenden Richard. Er würde mal wieder verschwinden müssen. Aber wie lange?
‚Hmm, eigentlich nur ein paar Stunden, aber...wo bleibt den da der Spaß?’
Wieder ein grausames Grinsen. Ein paar Tage hielt er für angebrachter. Viel angebrachter.
Erneut betrachtete der Psycho sein Opfer. Er würde noch ein wenig da unten umbauen müssen, bevor der Schwarzhaarige wieder dort „einziehen“ konnte, aber das war kein Problem. Außerdem musste er dann dringend noch etwas „abliefern“, wenn er seinen Plan wirklich so in die Tat umsetzen wollte, aber auch das war kein Problem.
Mit einem weiteren Grinsen wandte sich Richards Entführer ab und lief in die Halle, um seine „Umbauarbeiten“ vorzunehmen und später eine gewisse „Auslieferung“ zu tätigen.
Richard erwachte nur langsam aus dem Tiefschlaf und stellte fest, dass irgendetwas anders war, noch bevor er die Augen geöffnet hatte. Langsam tat er das nun und musste feststellen, dass es dunkel um ihn herum war. Er ahnte nichts Gutes, tastete nach der Wand und als er eine vertraute Empfindung wahrnahm, war sein Verdacht bestätigt: Er befand sich wieder in diesem kleinen, schalldichten, dunklen Raum, war wieder allein, einsam und ohne Orientierung. Am liebsten hätte er die Augen geschlossen und weitergeschlafen, doch er musste feststellen, dass das nicht ging. Die Angst, die langsam und schleichend in ihm hinaufkroch, nahm ihm jegliche Müdigkeit und lähmte seine Glieder.
Wenigstens hatte er keine Schmerzen. Doch freuen konnte er sich nicht so wirklich darüber. Er erinnerte sich an das, was passiert war, bevor er erneut in den Tiefschlaf versank. Der Jüngere hatte ihn schon wieder vergewaltigt. Doch der Teil in ihm, der immer kleiner wurde, der Teil, der sich immer mehr zurückzog, der Teil in ihm, der noch gegen den Psychoterror, die Schmerzen kämpfte und diesen Kampf letztendlich doch verlieren sollte, der Teil stellte fest, dass es ihm schon gar nicht mehr so viel ausmachte. Jetzt, nach der dritten Vergewaltigung und den vielen Tagen, Wochen voller Schmerzen und Erniedrigung, war er schon so sehr abgestumpft und von seinem Entführer abhängig, dass Richard sich so sehr nach dem Psycho sehnte, dass er sich wünschte, er würde auftauchen, selbst, wenn der Jüngere ihn dann wieder missbrauchen würde. Mittlerweile war Richard fast alles egal. Das Einzige, was ihm nicht egal war, war die Einsamkeit. Er wollte nicht alleine sein. Sicher, es war ein Unterschied, ob man allein oder einsam war, doch Richard war beides.
Und das machte ihm nicht nur Angst. Nein, es machte ihn traurig. So traurig, dass er schon wieder weinte. Er war mittlerweile so auf seinen Entführer fixiert, dass er sich gar nicht mehr vorstellen konnte, dass es neben ihm noch andere Menschen geben könnte, die ihn liebten, die ihn hier raus holen wollte, die ihn einfach wieder bei sich haben wollten. Den Bericht im Fernsehen hatte er schon wieder vergessen. Doch er sollte ihm wieder in Erinnerung kommen, drei Tage später. Aber bis dahin sollte Richard einsam bleiben und er würde in dieser Zeit noch sehr viele Tränen deswegen vergießen.
Ein ziemlich unauffälliger schwarzer Autobus hielt genau drei Tage später vor einem stillgelegten Fabrikgelände. Die Türen öffneten sich und fünf Männer stiegen aus. Auf einen Beobachter hätten sie ziemlich fertig gewirkt. Und das waren sie auch.
Die fünf Rammsteiner suchten nun schon seit einigen Tagen nach ihrem verschwunden Freund. Sie gingen dabei erstaunlich systematisch vor. Auf einer großen und möglichst genauen Karte der näheren Umgebung von Berlin hatten sie sämtliche Gebäude, in denen Richard eventuell sein könnte, mit roten Punkten markiert. Daneben fanden sich noch etliche grüne Punkte, die Hotels und ähnliche Einrichtungen auswiesen. Sie machten sich nicht erst die Mühe, nach jedem Tag des Suchens wieder nach Hause zu fahren, sondern blieben über Nacht immer woanders. Am Tag versuchten sie, so viele alte Gebäude, wie möglich zu durchkämmen. Die Besitzer derselbigen, sofern es überhaupt noch Besitzer gab, waren ihnen gegenüber um Einiges hilfsbereiter als sie es bei der Polizei waren. Und wenn sich die Hilfsbereitschaft dann doch in Grenzen hielt, so war das mit ein paar Scheinchen schnell gelöst.
Allerdings hatten diese letzten Tage auch Spuren bei ihnen hinterlassen. Die ständige Hoffnung, dass sie Richard im nächsten Gebäude fanden und die regelmäßig darauffolgende Enttäuschung, wenn es dann doch nicht so war, hatte an ihren Nerven gezehrt. Diese ständige psychische Belastung hatte sie nach und nach abstumpfen lassen. Es war keine Hoffnungslosigkeit, die sich bei ihnen breitgemacht hatte, sondern eher Resignation. Hoffnung hatten sie immer noch, die hatten sie solange, bis sie Endgültigkeit hatten, nur – sie ließen ihre Gefühle nicht mehr zu. Es war zu anstrengend, ständig mit den Emotionen Hoffnung und Enttäuschung Achterbahn zu fahren und deshalb verbannten die diese aus ihrem Denken in irgendeine kleine Ecke. Sie waren noch da, aber sie wurden unterdrückt.
Diese letzten Tage hatten die Rammsteiner auch körperlich mitgenommen, mehr noch als die Wochen, in denen sie voller Bangen auf ein neues Video gewartet hatten oder eher warten mussten. Sie wirkten ausgezehrt, kaum einer von ihnen dachte noch an regelmäßiges Essen oder Schlafen, sie mussten sich immer wieder gegenseitig daran erinnern. Denn sie wussten auch, dass sie Richard wohl kaum damit helfen würden, wenn sie sich selbst so fertig machten. Er und die Suche nach ihm war ihr Grund zum Durchhalten und sie glaubten fest daran, dass dies bei ihm genauso war.
Heute sollte allerdings etwas passieren, mit dem sie überhaupt nicht gerechnet hatten, was aber eigentlich auch eine leise Hoffnung von ihnen war. Sie waren sich nämlich sehr wohl darüber im Klaren, dass Richards Entführer ihnen sicherlich nicht freiwillig sagen würde, wo der Schwarzhaarige nun war. Insgeheim tippten sie aber darauf, dass der Psycho irgendwann einmal einen Fehler machte, dass er sie zu sich lockte, weil ihm Richard vielleicht noch nicht reichte oder was auch immer.
Mit diesem Gedanken liefen sie schnell auf das alte Gebäude zu. Dann allerdings wurden sie langsamer, vorsichtiger, bestand doch die Möglichkeit, dass Richards Entführer hier irgendwo auf sie lauerte. Sich vorsichtig umsehend, öffneten sie die Tür und betraten die Halle. Auf den ersten Blick was nichts zu sehen. Langsam gingen sie hinein und durchsuchten dann zusammen systematisch die Halle. Sie wollten sich nicht trennen. Zum Einen waren sie dann ein leichteres Ziel, zum Anderen aber, und das war viel wichtiger, wollten sie Richard unbedingt gemeinsam finden. Dass sie ihn fanden, stand für sie ja ganz außer Frage. Und Richard sollte sie zusammen sehen, nicht nur einen von ihnen.
Sie durchkämmten alles sehr sorgfältig. Nichts. Nun gut, dann vielleicht beim nächsten Mal. Sie wollten schon wieder nach draußen gehen und den nächsten roten Punkt auf der Karte ansteuern, als Till plötzlich etwas entdeckte, das sie eigentlich schon eher hätten sehen müssen. Oder war es vorher noch gar nicht dagewesen? Till wusste es nicht. Er blieb stehen und besah sich das ziemlich bekannte Teil näher.
„Till? Was ist denn?“ Paul sah den Sänger fragend an.
„Ich weiß auch nicht...Was ist das da?“
Er hob das, was er gefunden hatte, hoch. Als er erkannte, dass es tatsächlich das war, was er vermutet hatte, setzte fast sein Herz aus und beinahe hätte er das, was er in der Hand hielt, wieder fallen gelassen.
„Ich fass es nicht!“, entfuhr es ihm. „Das ist Richards Handy!“
„Wie bitte?“, riefen seine Bandkollegen im Chor.
Tatsächlich hielt Till ein bestimmtes kleines Gerät in den Händen, das die anderen sofort wiedererkannten.
„Wie kommt das hierher?“
Schneider sah sich suchend um. Genau wie ihm war allen anderen sofort klar, was der Fund von Richards Handy bedeutete: Entweder ihr vermisster Freund war hier oder, und das war wahrscheinlicher, der Psycho hatte ihnen eine Falle gestellt. Sie hatten allerdings keine Zeit, lange zu überlegen, denn in dem Moment hörten sie etwas, das ihnen einen kalten Schauer den Rücken hinunter laufen ließ.
„DU! DU HAST! DU HAST MICH...“
Sie starrten auf das Handy, das angefangen hatte zu leuchten, während Tills laute Stimme durch die Halle dröhnte. Besagter Sänger brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass gerade ein Anruf auf dem Telefon einging. Zögernd drückte er auf den grünen Hörer und nahm das Gespräch entgegen.
„H-Hallo?“, wisperte er kaum hörbar. Er lauschte eine Weile, dann wurden seine Augen riesengroß. Er brachte kaum ein „Wo?“ und „Sind sie sicher?“ hervor, dann war die Leitung auch schon wieder tot. Wie in Trance drückte er das Gespräch weg. Dann sah er seine Freunde an, die erwartungsvoll zurückblickten.
„Was?“, fragte Paul, „Was ist los?“
Der Sänger antwortete nicht. Er konnte nicht fassen, was er da gerade gehört hatte. Ungläubig sah er wieder auf das Handy in seiner Hand. In seinen Augen glitzerte es.
„Till...“ Er zuckte leicht zusammen, als Paul ihm vorsichtig die Hand auf die Schulter legte.
„Was ist los?“, hörte er daraufhin die sanfte Stimme des Gitarristen.
Der Sänger schluckte hart, dann begann er langsam, dumpf zu berichten: „Es war ein Typ dran...klang schon älter...hat gesagt, dass er in der Nähe einer Lagerhalle jemanden gesehen hat, der wie Richard aussah...sagte, er kannte die Nummer des Handys von den Videos...will sich mit uns treffen...“
Dem Sänger versagte die Stimme. Seine Freunde starrten ihn sprachlos an. Sie waren sich jetzt nicht mehr so sicher, ob es eine Falle war oder nicht.
„Wo?“, fragte Paul schließlich tonlos, „Wo will er sich mit uns treffen?“
Schweigend nahm Till Schneider die Karte aus den Händen und zeigte auf ein Gebiet, das sie erst in zwei Wochen angesteuert hätten.
Der Psycho grinste in sich hinein, als er aufgelegt hatte. Das Gespräch war einfach nur perfekt gelaufen. Er wusste, dass die fünf Rammsteiner kommen würden. Er wusste auch, dass sie das Ganze für eine Falle halten würden. In gewissen Sinne war das auch so. Doch er würde ihnen nichts tun. Noch nicht. Er brauchte sie erst einmal nur hier. Alles Weitere würde sich von alleine ergeben.
Er sah sich um. Wieder hatte er umräumen müssen, schließlich wollte er nicht zu viele Verdachtsmomente schaffen, falls die Rammsteiner tatsächlich auf die Idee kommen sollten, die Polizei anzurufen. Er glaubte allerdings nicht, dass sie das tun würden. Und selbst wenn: Er konnte jederzeit verschwinden und Richard sogar notfalls auch mitnehmen. Wieder musste er grinsen. Sein Opfer gehörte ihm und nur ihm ganz alleine, er würde sich Richard nicht mehr wegnehmen lassen.
Dann ging er sich umziehen und ein wenig unkenntlich machen. Auf den Videos hatte er das auch immer schon zur Genüge getan, aber Vorsicht war nun mal besser als Nachsicht. Noch einmal sah er sich abschließend um, räumte noch ein wenig verräterische Spuren aus dem Weg bis irgendwann nichts mehr darauf hinwies, dass hier seit längerem schon jemand wohnte.
Er lief aus der Halle, setzte sich in sein Auto und fuhr zum vereinbarten Treffpunkt, den er Till genannt hatte. Dort angekommen, versteckte er sein Auto, er würde es später wieder holen. Er schloss ab und stellte sich an die Straße.
Dann wartete er.
Lass mich nicht allein...
„Hmm, hier müssten wir richtig sein, aber ich sehe niemanden...“
Paul sah prüfend aus dem Fenster. Die fünf Rammsteiner waren sofort losgefahren, als sie den genauen Treffpunkt auf der Karte lokalisiert hatten. Das war jetzt allerdings schon ein paar Stunden her. Die ganze Zeit lang überlegten sie, ob sie nicht doch hätten die Polizei einschalten sollen, doch diesen Gedanken taten sie jedes Mal als sinnlos ab. Sie hatten die Beamten nicht dazu bewegen können, weiter großräumig nach Richard zu suchen. Selbst dann nicht, als sie eindeutige Hinweise für eine eventuelle Fälschung in dem Video bringen konnten. Nachdem sie länger darüber nachgedacht hatten, waren Paul und Till gleich mehrere Ungereimtheiten aufgefallen.
Da war zum Einen die Tatsache, dass der Psycho am Anfang mit ziemlicher Bestimmtheit darauf hinwies, dass dieses vierte Video nicht das Letzte sein sollte. Das hatte er sonst noch nie getan. Er hatte noch nie irgendetwas über die Zahl der Videos ausgesagt. Sicher, man hätte jetzt auch vermuten können, dass er seine Vorgehensweise geändert hatte, aber warum hätte er das tun sollen?
Zum Anderen dieses Geräusch. Dieses trockene Knacken, als die Kette Richards Wirbelsäule traf. Sie durchzuckte immer noch ein unangenehmes Gefühl, wenn sie daran dachten. Sie wussten, dass es möglich war, dass man auf diese Weise einzelne Wirbel zerstören konnte, aber dann war da auch die Art und Weise, wie Richards Peiniger auf den Aufschrei und die anschließende Leblosigkeit seines Opfers reagiert hatte. Es hatte alles sehr echt ausgesehen, die Schockiertheit in seinen Augen zum Beispiel, gleichzeitig wurden sie allerdings das Gefühl nicht los, dass der Psycho ein ziemlich guter Schauspieler war.
Und schlussendlich noch die Tatsache, dass da kein „Replay“ und auch kein „To be continued“ erschien. Warum sollte der Psycho darauf noch Wert legen, ob es nun da war oder nicht? Warum stellte er überhaupt den Film ins Internet, wenn er doch so schockiert über Richards angeblichen Tod war?
Es sollte irgendwie alles übertrieben deutlich auf das Ableben des Gitarristen hinweisen und genau das war es, was anfangs Paul und Till und schließlich auch die restlichen Rammsteiner so stutzig machte. Selbst der Polizeipsychologe hatte eingeräumt, dass sie vielleicht mit ihrer Theorie recht haben könnten und Richard wahrscheinlich noch lebte. Trotzdem waren keine erneuten Suchaktionen gestartet worden, aus welchen Gründen auch immer. Und deshalb hatten sie nun auch die Polizei außen vor gelassen. Ihnen war klar, dass das für sie selber ziemlich gefährlich werden konnte, doch wenn sie Richard dadurch wiedersahen, war es ihnen das Risiko allemal wert.
„Seht mal, da steht einer! Ist er das?“
Schneider spähte aufgeregt aus dem Fenster. Auch die anderen sahen genauer hin. Tatsächlich stand eine einsame Person am Straßenrand und schien offensichtlich auf etwas zu warten. Olli, der am Steuer saß, wurde langsamer und hielt schließlich ziemlich genau neben der Person an.
„Guten Tag...“, murmelte die Gestalt, anscheinend ziemlich unsicher. Der Stimme nach war es ein Mann, allerdings kein junger, so, wie es die Jungs erwartet hatten, sondern schon ein älterer. Er war auch nicht schlank, wie der Typ in den Videos, sondern hatte eher einen ziemlichen Bauchumfang. Außerdem stand er leicht gebückt da. Sein Gesicht hatte auch überhaupt keine Ähnlichkeit mit dem des Psychos, außerdem waren seinen Augen blau, nicht dunkelbraun, fast schwarz. Er wirkte auch nicht eiskalt, sondern eher naiv, fast schon einfältig. Die Rammsteiner blieben trotzdem auf der Hut, das konnte alles nur ein Täuschungsmanöver sein.
Till machte schließlich den ersten Schritt: „Haben Sie uns angerufen?“
Der Mann nickte und wieder hörten sie ein leises Murmeln: „Ja, allerdings, Sie sind doch die Freunde von dem armen Kerl, der da so brutal gefoltert wurde, oder?“
Jetzt war es an den fünf Menschen im Auto zu nicken.
„Gut...ich hab hier in der Nähe jemanden gesehen, der Ähnlichkeit mit Ihrem Freund hatte und hier gibt es auch eine alte Lagerhalle. Nur die Einheimischen hier wissen, dass es sie noch gibt. Eigentlich sollte sie schon vor Jahren abgerissen werden, wegen der Einsturzgefahr, wissen Sie?“ Der Mann schien offensichtlich ins Plaudern geraten zu sein. „Hat damals einen ziemlichen Aufruhr gegeben, weil da wohl Fledermäuse drin gelebt haben und da haben dann wohl die Umweltschützer rebelliert. Es war sogar das Fernsehen hier, ohja, da war ganz schön was los hier. Dabei sind die Dörfer hier eigentlich ziemlich verschlafene Nester. Sie können sich sicher denken, was da für einen Aufregung herrschte...“
Sie sahen sich an und wussten nicht so recht, was sie davon halten sollten. Das passte doch alles gar nicht zusammen!
„Nun ja, jetzt sind die Fledermäuse weg. Man hat sie, glaube ich, ausgeräuchert. Aber die Halle steht immer noch. Keine Ahnung, warum sie die dann doch nicht abgerissen haben, muss wohl...“
„Ähm Entschuldigung, dass ich ihren äußerst interessanten Vortrag unterbreche“, meinte Till etwas gereizt, „aber ich dachte, sie wollten uns dahin führen?“
Der Mann sah ihn erst einmal verständnislos an, dann schien ihm einzufallen, warum er denn eigentlich hier war.
„Ach stimmt ja...ja natürlich...“
Er machte Anstalten, in das Auto einzusteigen. Den Rammsteinern war das nicht gerade geheuer und Paul zögerte auch nicht, etwas deswegen zu unternehmen, oder es zumindest zu versuchen.
„Hören Sie, wäre es vielleicht möglich, wenn Sie und einfach nur den Weg beschreiben würden? Wir hätten auch eine Karte mit, da können Sie es uns auch zeigen...“
Der Mann sah ihn zunächst nur an, es hatte den Anschein, als hätte er den Gitarristen überhaupt nicht verstanden. Dann jedoch meinte er lächelnd: „Oh naja, das wäre natürlich auch möglich, aber ich bezweifle, dass Sie den Weg dann auch finden werden. Hier kennen sich nur wenige Leute aus, wissen Sie?“
Wieder sahen sie sich an, alle hatten ein mulmiges Gefühl im Bauch. Schließlich zuckte Till mit den Schultern.
„Na schön, dann zeigen Sie uns mal, wo wir hin müssen...“
Er erhielt ein Nicken zur Antwort und kurz darauf fuhren sie auch schon weiter. Keiner der sechs sagte etwas während sie den Zielort ansteuerten, außer der Mann, den sie aufgesammelt hatten und auch sein Vokabular beschränkte sich auf „Rechts“, „Links“ und „Geradeaus“.
Schließlich kamen sie an einem breiten Feldweg an. Der Mann hatte recht gehabt. Hätte er ihnen nicht jedes Mal ganz genau erklärt, wo sie entlang fahren mussten, sie hätten die Halle bestimmt nicht gefunden, so abgelegen war die Gegend.
Olli hielt an und sie stiegen aus. Der Bassist schloss das Auto ab. Dann betraten sie unsicher den Feldweg. Der Mann ging voraus und sie folgten ihm. Nach einigen Minuten sahen sie in der Ferne ein ziemliches großes Gebäude aufragen. Unmerklich beschleunigten sie ihre Schritte, hüteten sich aber davor, den Mann zu überholen.
Schließlich waren sie angekommen. Der Mann, den sie in ihrer Aufregung nicht einmal nach seinem Namen gefragt hatten, zog eine schwere Tür auf und ging dann hinein. Die Rammsteiner folgten ihm. Drinnen angekommen, sahen sie sich erst einmal um. Eine gewisse Enttäuschung machte sich in ihnen breit, als sie erkennen mussten, dass die Halle von innen überhaupt keine Ähnlichkeit mit dem Gebäude aus dem Video hatte. Trotzdem durchkämmten sie alles äußerst gründlich. Der Mann, der sie hierher gebracht hatte, half ihnen sogar dabei. Schließlich kamen sie zu dem gleichen Ergebnis, zu dem sie auch schon die Tage zuvor gekommen waren: Nichts.
Sie trafen sich mit dem Mann im hinteren Teil der Halle.
„Tjaa, so, wie es aussieht, ist Richard hier auch nicht...“, meinte Till seufzend.
„Nun“, kam es von dem Anrufer, „das tut mir Leid...Aber es war doch immerhin einen Versuch wert, oder?“
„Jaa allerdings...das war es wohl...“
Paul war immer noch misstrauisch. Und er sollte mit seinem Misstrauen Recht haben. Sie standen nämlich genau über einem ganz bestimmten kleinen, schalldichten, dunklen Raum. Sie waren ihrem Freund so nah – und doch so fern.
Unter ihnen horchte besagter Schwarzhaariger auf. Die letzten Tage waren furchtbar für ihn gewesen. Die ganze Zeit nur Dunkelheit und grausame Stille. Sein Peiniger hatte ihm genug zu essen und zu trinken dagelassen, damit er nicht verhungerte, dazu noch die Infusionsbeutel, die der Bruder des Psychos mitgebracht hatte, aber das war auch schon alles gewesen. Richard hatte sich selbst kümmern müssen, was ihm nach einigen anfänglichen Schwierigkeiten auch gelungen war. Vor allem der Hunger bestimmte nun seinen Tagesrhythmus. Er schlief kaum mehr als zwei oder drei Stunden durch, dann musste er wieder etwas essen, so lange, bis ihm wieder schlecht wurde. Es wurde jedes Mal ein bisschen mehr, das er vertrug, allerdings pegelten sich seine Rationen nach einiger Zeit auf ein bestimmtes Maß ein. Nach dem Essen schlief er meistens wieder. Durch die Infusionen blieben ihm die Schmerzen erspart, ein entscheidender Beitrag zu seinem körperlichen Wohlbefinden. Denn physisch erholte er sich in diesen Tagen ganz gut. Nur seine Seele litt inter der Einsamkeit. Sie litt mehr als sie es in den Wochen zuvor getan hatte. Er sehnte sich nach seinem Entführer. Er brauchte die Nähe zu der einzigen Bezugsperson, die er noch hatte und kannte. Er weinte viel, manchmal schrie er auch und schlug auf die Wände ein, benahm sich wie ein gefangenes Tier, dass gegen eben diese Gefangenschaft ankämpft. Er wollte hier raus, er wollte nicht alleine sein, er wollte und brauchte die Nähe eines ganz bestimmten Menschen.
Doch die meiste Zeit über wimmerte er nur wie ein kleines Kind, lag zusammengerollt unter den Decken und flehte, dass der Psycho endlich wieder auftauchen möge. Er hatte keinen Namen für seinen Peiniger, den hatte er ihm nie gesagt. Und so waren es immer die gleichen Worte, die er, fast gebetsartig, ständig wiederholte: „Komm zurück...lass mich nicht allein...komm zurück...lass mich bitte nicht allein...lass mich nicht allein...“ Meist schlief er darüber vor Erschöpfung ein.
Jetzt aber wurde sein Rhythmus unterbrochen. Er meinte, etwas gehört zu haben. Schritte, Stimmen. Stimmen, die ihm unglaublich bekannt vorkamen und die er doch schon vergessen hatte. Gebannt lauschte er, versuchte, die Worte zu verstehen, doch das blieb ihm verwehrt. Er kam gar nicht auf die Idee, sich zu fragen, warum er überhaupt etwas hörte. Eine Antwort hätte er sich selber sowieso nicht geben können. Er konnte schließlich nicht wissen, dass der Psycho einen Teil der Dämmung entfernt hatte, noch bevor er Richard wieder in den Raum sperrte.
Jetzt entfernten sich Schritte und mit ihnen taten es auch die Stimmen. Aus irgendeinem Grund machte das Richard traurig. Vielleicht hatte er ja gehofft, dass er jetzt nicht mehr einsam sein musste. Vielleicht hatte er ja auch einfach nur weiter den Geräuschen zuhören wollen, waren es doch die ersten, die er seit Tagen vernommen hatte. Vielleicht, vielleicht, vielleicht. Er machte sich über so etwas kaum noch Gedanken.
Schließlich erstarben die Geräusche. Er lauschte noch lange, angestrengt, ob nicht doch noch etwas zu vernehmen war, doch da war nichts mehr. Und als er das wusste, mit letzter Sicherheit wusste, flossen bei ihm wieder die Tränen und er rollte sich unter den Decken zusammen, machte sich ganz klein und wimmerte wieder, denn ihn überrollte eine unglaubliche Traurigkeit, weil er allein war und allein bleiben würde. Allein und einsam.
Die Rammsteiner gingen derweil nach draußen, zum Auto zurück. Hier hatten sie nichts erreichen können und im Grunde waren sie auch froh darüber, die Nähe dieses merkwürdigen Mannes zu verlassen. Am Ende des Feldweges angekommen, verabschiedeten sie sich knapp von ihrem Begleiter. Trotzdem Paul ihm nicht traute, rang er sich dennoch zu einer Höflichkeit durch, etwas, das er für den Rest seines Lebens bereuen sollte: „Können wir Sie noch irgendwohin mitnehmen?“
Erstaunte Blicke der anderen vier.
Der Mann winkte ab. „Nicht nötig.“, meinte er, „Ich wohne hier ganz in der Nähe, aber danke für das Angebot.“
Er lächelte dazu sanft, fast schon zu sanft, aber die fünf Jungs gaben sich damit zufrieden. Sie stiegen in den Bus und machten, dass sie wegkamen. Keiner von ihnen sagte ein Wort, bis sie wieder zurück im Hotel waren.
Der Psycho sah ihnen immer noch lächelnd hinterher. Dann wurde das Lächeln zu einem Grinsen und schließlich schüttelte er sich vor Lachen. Er konnte nicht glauben, dass das tatsächlich alles so perfekt funktioniert hatte. Das war doch nicht zu fassen! Sie hatten ihm seine Rolle wirklich abgekauft! Gut, darauf hatte sein Plan ja auch letztendlich basiert und er war schon immer ein äußerst talentierter Schauspieler gewesen, aber das – übertraf einfach alles.
Immer noch grinsend wandte er sich um und lief beschwingten Schrittes über den Feldweg auf das große Gebäude zu. Drinnen sah er sich erst einmal in aller Ruhe um. Dann begann er, die Halle wieder „umzugestalten“. Ein bisschen Maskerade war nicht nur bei ihm, sondern auch bei dem Gebäude nötig gewesen.
Er lächelte zufrieden, als er alles wieder in den Originalzustand versetzt hatte. Dann ging er sich duschen und umziehen. Als er damit fertig war, holte er die Bänder der Überwachungskameras, die er überall in der Halle installiert hatte, und sichtete in aller Seelenruhe das Material. Es würde einige Zeit dauern, bis er einen ordentlichen Film daraus zusammengeschnitten hatte, das wusste er. Doch das störte ihn nicht. Er hatte alle Zeit der Welt. Und dann würde er sich wieder um sein Opfer kümmern. Ganz intensiv würde er sich um es kümmern.
Richard schreckte aus dem Schlaf. Irgendetwas hatte ihn geweckt. Aber was?
Verwirrt sah er sich um, obwohl er eigentlich überhaupt nichts sehen konnte und konzentrierte sich dann auf seine Ohren. Jetzt hörte er etwas, ein Geräusch von Schritten. Sie bewegten sich auf ihn zu. Jetzt waren sie über ihm. Er vernahm ein Schaben und dann blendete ihn auf einmal grelles Licht. Es blendete ihn so stark, dass er die tränenden Augen zusammenkniff und sich ängstlich unter den Decken versteckte. Als er sich einigermaßen an das Licht gewöhnt hatte, spähte er vorsichtig in den Raum. Zu seiner Überraschung war es dunkel, aber dann kam wieder dieses Licht, oder eher ein Lichtstrahl. Seine Angst steigerte sich. Was war das?
Doch plötzlich hörte er eine Stimme, eine vertraute Stimme, eine Stimme von der er fast nicht mehr geglaubt hatte, sie noch einmal hören zu dürfen: „Hey Kleiner, wo bist du denn? Ich dachte, du freust dich, wenn ich dich jetzt wieder holen komme. Na los, komm raus, ich muss dir unbedingt was zeigen...“
Er machte ein paar schnalzende Geräusche mit der Zunge und dann hörte Richard ein Geräusch, das sich ebenso in seinen Kopf einbrennen sollte, wie ein ganz bestimmtes Wort, auf das sonst immer eine Vergewaltigung gefolgt war: Klick-Klack.
Er nahm es gar nicht so bewusst wahr, im Moment hörte er nur die Stimme seines Entführers und so etwas, wie Freude durchströmte ihn.
Klick-Klack.
Und dann spürte er auf einmal, wie ihm jemand durch die Haare strich, seinen Kopf kraulte und er schloss die Augen und gab sich ganz den Berührungen hin. Seine Bezugsperson war wieder da! Er konnte sein Glück kaum fassen und drängte sich näher an seinen Peiniger. Der lächelte kaum merklich und streichelte sein Opfer eine ganze Zeit lang einfach nur liebevoll.
Richard kamen gerade wieder die Tränen und er wollte etwas sagen, als er ein leises Klicken und dann ein Summen hörte. Instinktiv zuckte er zurück, doch da waren seine Glieder auch schon gelähmt und da die Schmerzmittel langsam nachließen, spürte er genug Pein, um erneut bewusstlos zu werden.
Als er erwachte, stellte Richard fest, dass er sich an einem sehr vertrauten Ort befand. Einem Ort, den er um Einiges lieber mochte, als den kleinen dunklen Raum. Die langsam in voller Stärke zurückkommenden Schmerzen ignorierend, setzte er sich auf und lehnte sich gegen die Gitterstäbe. Er schloss die Augen, froh darüber, dass er in dem kleinen Käfig war und jetzt wohl erst einmal keine Einsamkeit, keine Stille, keine Blindheit mehr ertragen musste.
Er hörte Schritte näher kommen und blickte in die Richtung. Auf einmal bemerkte er, dass, sehr zu seinem Erstaunen, die Käfigtür weit offen stand. Verwundert schaute er hinaus. Wieso war er nicht eingesperrt? Oder war das nur ein Test?
Das Geräusch der näher kommenden Schritte wurde lauter und dann sah er zwei Beine vor dem Käfig stehen. Der Psycho lugte herein.
„Oh, du bist wach! Wunderbar! Komm raus, ich will dir unbedingt was zeigen!“
Ihn traf ein verständnisloser Blick. Richards Entführer seufzte, dann zog er den Schwarzhaarigen an einem Arm aus dem Käfig. Richard wich zunächst zurück, ließ es dann aber doch mit sich machen.
„Na los, jetzt mach mal ein bisschen mit! Oder soll ich etwa nachhelfen?“
Der Jüngere klang mehr als nur gereizt, ein drohender Unterton hatte sich bei ihm eingeschlichen. Angst zeichnete sich in Richards Augen ab und er beeilte sich, aus dem Käfig und auf die Beine zu kommen.
„Na also! Geht doch!“
Richard hielt sich mühsam aufrecht. Er konnte kaum einen Schritt vorwärts machen, ohne sich dabei abzustützen. Durch die Anstrengung kam mal wieder ein Hustenkrampf, es schüttelte ihn. Genauso wie er sich immer noch nicht ganz von dieser Hungerkur erholt hatte, hatte er auch die Lungenentzündung noch nicht auskuriert. Das lag zum einen an der Kälte und dem Nahrungsmangel, zum anderen aber auch an seinem psychischen Zustand. Angst, vor allem die Angst, ließ ihn fast nie zur Ruhe kommen.
Er wurde grob im Nacken gepackt und zuckte zurück. Der Psycho faste brutaler zu und bugsierte ihn dann quer durch die Halle in den Nebenraum. Dort setzte er den Älteren auf dem Sofa ab.
Richard zitterte. Ihm war kalt ohne den Decken, trotzdem er immer noch die Klamotten anhatte. Außerdem steigerte sich seine Angst. Irgendwie ahnte er, dass jetzt gleich etwas kommen würde, was er lieber nicht erleben wollte. Plötzlich stand der Psycho hinter ihm.
„Schau gut hin.“, flüsterte er seinem Opfer grinsend ins Ohr. Dann schaltete er den Fernseher ein.
Richard tat, was von ihm verlangt wurde und starrte ängstlich auf den Bildschirm. Zuerst war es nur schwarz, dann sah man den hinteren Teil der Halle von oben. Richard erkannte das Innere des Gebäudes nicht gleich wieder, allerdings war er jetzt schon so lange hier, dass man ihm da kaum noch etwas vormachen konnte. Dann hörte er etwas: Stimmen. Aufregung verdrängte seine Angst, denn diese Stimmen kannte er. Es waren die gleichen, die er in dem dunklen Raum auch schon gehört hatte. Er wollte unbedingt wissen, wem diese Stimmen gehörten, er ahnte, dass er sich dann wieder an alles erinnern würde können. Er lehnte sich auf dem Sofa sogar etwas vor, so sehr war er begierig darauf, zu erfahren, wer da sprach.
Als er die Stimme seines Entführers hörte, lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken. Er wollte nicht, dass der Jüngere den Personen, zu denen diese Stimmen gehörten, etwas antat. Dazu hörten sie sich viel zu gut, viel zu vertraut an. Dann sah er das, was er sehen wollte. Sechs Männer kamen ins Bild, fünf von der einen, einer von der anderen Seite.
Und endlich erkannte er sie wieder. Erkannte seine Freunde wieder. Er hätte am liebsten laut gejubelt, als sich bei ihm die Erinnerungen einstellten. Gleichzeitig kamen ihm Zweifel. Sie waren hier gewesen – nur: Warum hatten sie ihn nicht mitgenommen? Er hatte keinen Antwort auf diese Frage. Sie schienen ihn ja immerhin zu suchen...oder nicht?
Jetzt verstand er auch, was sie sagten: „Tjaa, so, wie es aussieht, ist Richard hier auch nicht...“
Das war Till. Und er seufzte. Warum seufzte er?
„Nun...das tut mir Leid...Aber es war doch immerhin einen Versuch wert, oder?“
Der Psycho. Ein weiterer eiskalter Schauer für Richard.
„Jaa allerdings...das war es wohl...“
Paul.
Der Schwarzhaarige konnte es nicht fassen. Warum fanden sie ihn nicht? Oder wollten sie ihn gar nicht finden? Diese Befürchtung sollte sich für ihn bestätigen, denn er hörte wieder Pauls Stimme: „Nun gut...dann gehen wir mal wieder...wenn er hier nicht ist...“
Fast im gleichen Moment wandten sie sich zum Gehen. Und noch einen Moment später waren sie verschwunden, als wären sie nie dagewesen.
„Und?“, hörte er wieder ein grausames Flüstern an seinem Ohr. „Was sagst du dazu?“
Richard regte sich nicht. Konnte er auch gar nicht. Er war im Moment viel zu sehr in seiner Welt gefangen, um überhaupt auf irgendwelche Fragen zu antworten.
„Gut, du willst mir also nicht antworten...dann werde ich es dir sagen...“
Der Psycho umarmte ihn von hinten und der Ältere zuckte nicht einmal zurück, so sehr stand er noch unter Schock. Und dann tröpfelten langsam, ganz langsam die folgenden Worte in sein Gehirn: „Ich hatte Recht, weißt du das? Ich hab dir gesagt, dass dich keiner mehr braucht und dich keiner mehr will, richtig? Und du hast gerade gesehen, dass das stimmt. Die Leute, die du mal als deine Freunde bezeichnet hast, sind wieder gegangen, ohne dich einmal zu besuchen. Du bedeutest ihnen nichts. Warum hätten sie sonst die Suche nach dir abbrechen sollen? Du bist es nun mal einfach nicht wert, dass dich noch jemand haben will, verstehst du? Aber...eigentlich weißt du das ja alles schon, hab ich recht? Ich wollte es dir nur noch einmal beweisen...“
Unmerklich und ohne, dass er es wollte, nickte Richard. Für ihn brach gerade eine Welt zusammen. Der Psycho hatte die ganze Zeit über wirklich recht gehabt. In seinem tiefsten Innern hatte er es ja schon immer gewusst, aber jetzt hatte er knallharte Beweise. Der Teil in ihm, der bis jetzt noch gekämpft hatte und immer kleiner geworden war – der Teil war zwar noch nicht zerstört, nur zog er sich jetzt endgültig zurück, überließ den neuen Verhaltensmustern, vom Psycho eingeprügelt, das Schlachtfeld. Dieser Teil hatte nichts mehr zu melden, er gab im wahrsten Sinne des Wortes auf. Zurück blieben Angst, Schmerzen, Hilflosigkeit und die bedingungslose Hörigkeit zum Psycho. Und jetzt brachen sie wieder die Tränen ihre Bahn.
Richard tat das, was für ihn mittlerweile erschreckend normal war: Er suchte sich Trost bei seinem eigentlichen Peiniger. Und der verweigerte ihm die Nähe nicht, er hielt ihn fest, streichelte ihn, gab ihm Halt.
„Lass mich nicht allein...“, flehte Richard zitternd. „Lass mich bitte nicht allein...bitte...“
Jetzt hatte der Psycho endgültig das erreicht, was er erreichen wollte. Und das freute ihn, das machte ihn so glücklich, wie schon lange nicht mehr.
„Aber nein“, sagte er deshalb mit sanfter Stimme. „Ich werde dich nie wieder allein lassen, hörst du? Nie wieder...“
Dazu machte er ein Geräusch.
Klick-Klack.
Erste Trainigserfolge
Als der Psycho bemerkte, dass Richard sich beruhigt hatte, bettete er ihn vorsichtig auf das Sofa. Der Schwarzhaarige murmelte undeutlich vor sich hin. Der Schock, der darauffolgende Ausbruch, das alles hatte ihn sehr erschöpft. Sein Entführer kraulte ihn noch einige Zeit, dann war er eingeschlafen.
Richard träumte wieder. Er lag in dem kleinen Käfig, als die Tür aufging und er fünf Personen ausmachen konnte. Plötzlich standen sie vor seinem Käfig. Er freute sich, gleichzeitig hatte er Angst. Er wusste, wer sie waren, allerdings schienen sie es nicht zu wissen. Und dann hörte er eine Stimme. Eine Stimme, die so vertraut war und die er doch nicht zuordnen konnte: „Hmm, das ist er nicht. Das ist nicht der, den wir gesucht haben. Gehen wir wieder.“
Damit verschwanden sie aus Richards Blickfeld. Er sah ihnen nach, konnte es nicht fassen, dass sie ihn hier alleine ließen, dass sie ihn offensichtlich nicht wiedererkannten. Und dann hörte er den Psycho neben sich, der ihm ins Ohr flüsterte, dass er allein war und allein bleiben würde und dann waren da nur noch Schmerzen...
Schreiend und zitternd erwachte er und schüttelte immer wieder den Kopf. Verkniff sich die Tränen, die schon wieder kommen wollten. Der Traum hatte ihn an diese riesige Enttäuschung erinnert, die er gefühlt hatte, als er das Video sah. Er hatte nicht gewusst, dass er noch enttäuscht werden konnte. Diese Emotion war ihn schon fast fremd geworden. Doch jetzt war sie wieder da und das stärker als je zuvor.
Er sah sich um. Niemand war im Raum, außer ihm, allerdings stand die Tür zu der Halle offen. Richard überlegte. Er wollte nicht alleine sein. Aber durfte er jetzt einfach aufstehen?
Er beschloss, es darauf ankommen zu lassen und stand vorsichtig auf. Die Schmerzmittel hatten nun endgültig aufgehört zu wirken und so taumelte er bedenklich. Trotzdem schaffte er es, sich aufrecht zu halten und lief langsam auf die offene Tür zu. Dort angekommen, spähte Richard vorsichtig in die Halle. Sehen konnte er niemanden, doch er hörte von weiter hinten Geräusche.
Er stieß sich vom Türrahmen ab und ging langsam auf diese Stelle zu, um die Ursache für die Geräusche herauszufinden. Er war auch schon ziemlich weit gekommen, als ihn eine wohlbekannte Stimme zusammenzucken ließ: „Na sag mal...Wo willst du denn so plötzlich hin?“
Richard befiel wieder das Zittern, am liebsten hätte er sich auf den Boden gelegt und ganz klein gemacht. Diese Angst, die er mittlerweile hatte und die ihn ständig begleitete, konnte ihm keiner nehmen.
Der Arzt seufzte leise. „Ist doch gut.“, meinte er dann. „Ich tu dir nichts, das weißt du doch. Ich wollte euch eigentlich nur mal besuchen kommen. Weißt du zufällig, wo mein Bruder ist?“
Richard sah ihn ängstlich an, schüttelte dann aber den Kopf. Er hätte ja selbst ganz gern gewusst, wo der Psycho war.
„Ich bin hier. Und nenn mich nicht ‚Bruder’!“, hörte man nur Sekunden später die Stimme des sehr aufgebrachten Psychos. Er sah ziemlich verärgert auf die beiden Personen, die da in seiner Halle herumstanden. In seinen genervten Ausdruck mischte sich jetzt aber auch Verwirrung, als er sich die Frage stellte, was die beiden hier eigentlich taten.
„Sagt mal...was macht ihr hier eigentlich?“
„Nun, ich hatte dir doch gesagt, dass ich noch mal vorbei kommen wollte. Schließlich wollen wir ja nicht, dass unserem Kleinen noch was passiert, oder?“
Damit deutete er vielsagend auf Richard, der ziemlich verloren in der Szenerie wirkte.
„Und wo wir schon mal bei ihm sind: Ich hab keine Ahnung, was er hier wollte, ich hab ihn nur hier aufgelesen. Er schien aber auf dem Weg zu dir zu sein...“
„Sooo?“, fragte der Psycho drohend und ging langsam auf sein Opfer zu. Richard zitterte jetzt noch stärker.
„Du wolltest also tatsächlich zu mir?“
Der Schwarzhaarige nickte schnell. Am liebsten hätte er sich seiner einzigen Bezugsperson, die er noch hatte, vor die Füße geworfen und sie um Vergebung angebettelt.
„Und du bist dir SICHER, dass du nicht wieder weglaufen wolltest, hmm?“
Ein weiteres Nicken.
„Ich...ich wollte nicht weglaufen...“, flüsterte Richard heißer, „ich...ich hab dich gesucht...ich war allein...ich will nicht allein sein...lass mich nicht allein...bitte...“
Richards Stimme zitterte bedenklich, er hatte den Blick zu Boden gerichtet, war nicht in der Lage, seinem Peiniger in die Augen zu schauen. Der hingegen breitete jetzt die Arme aus und meinte dann sanft: „Na wenn das so ist...komm schon her...“
Über Richards Gesicht huschte für Bruchteile von Sekunden ein freudiger Ausdruck, dann ließ er sich bereitwillig in eine Umarmung ziehen, ja, er klammerte sich geradezu an den Menschen, der ihm so viel Leid zugefügt und doch das Einzige war, das Richard noch hatte.
Der Arzt hatte die Szene schweigend und auch ein wenig amüsiert mitverfolgt. „Na sieh mal einer an.“, meinte er nun zu seinem Bruder gewandt. „Da hängt ja jemand ziemlich stark an dir. Was hast du bloß mit ihm angestellt?“
Der Psycho grinste und sagte über Richards Kopf hinweg: „Najaaa, sagen wir mal soo: Er hat endlich erkannt, dass er mir vertrauen kann...“
Der Arzt musste sich mit dieser, für ihn sehr verwirrenden, Aussage wohl oder übel abfinden, denn gleich darauf stellte nun sein Bruder eine Frage: „Was willst du eigentlich hier? Du hattest zwar gesagt, dass du mal vorbeikommen willst, aber was das genau jetzt werden soll, darüber hüllst du dich in Schweigen...“
Immer noch hielt der Psycho Richard in einer sanften Umarmung und der Schwarzhaarige dachte auch gar nicht daran, wieder loszulassen.
„Hab ich dir doch gerade gesagt: Ich wollte nur mal nach dem Rechten sehen und nebenbei unseren Kleinen noch einmal untersuchen, wenn es dir nichts ausmacht.“
Der Psycho überlegte kurz, dann gab er sich mit einem Nicken einverstanden. Er wandte sich an Richard: „Soo, mein Hübscher, du musst jetzt auch wieder loslassen, hörst du? Na komm, lass los...“
Er befreite sich vorsichtig aus dem Klammergriff der Schwarzhaarigen. Der sah ihn traurig an, gehorchte dann aber widerstandslos. Er spürte, wie sich eine Hand auf seine Schulter legte und zuckte leicht zusammen. Der Arzt seufzte.
„Komm mit Kleiner, wir gehen nach nebenan, ok? Dann kann ich noch deine Verbände wechseln, falls es nötig sein sollte...“
Richard nickte wieder und schaute sehnsüchtig zu dem Psycho. Der bemerkte den Blick.
„Macht ihr beiden mal, ich komme dann nach, ok?“
Wieder ein Nicken von beiden Seiten. Richard sah ängstlich zu dem älteren Bruder des Psychos. Der stupste ihn sachte an, was wieder ein Zurückzucken zur Folge hatte, und deutete dann auf die Tür, die zu dem kleinen Nebenraum führte. Richard verstand und trottete hängenden Kopfes vorneweg. Der Arzt lief ihm bedächtig hinterher, bemerkte aus den Augenwinkeln allerdings noch das hinterhältige Grinsen seines Bruders. Kopfschüttelnd setzte er Richard schließlich auf dem Sofa ab.
„Guuut, meinst du, du kannst dich alleine ausziehen?“ Zuerst traf ihn ein verständnisloser Blick, dann tat der Schwarzhaarige aber langsam, was von ihm verlangt wurde. Der Arzt zog scharf die Luft ein, als er den ausgemergelten Körper sah. Zwar hatte Richard wieder zugenommen und befand sich nicht mehr in unmittelbarer Lebensgefahr, obwohl man das bei dem Psycho nie so genau wissen konnte, trotzdem war immer noch viel zu dünn, immerhin konnte man bei ihm noch jeden Knochen einzeln erkennen.
Der Arzt machte sich vorsichtig an die Untersuchung, wobei er seinem „Patienten“ jeden Schritt genau erklärte, damit der nicht noch mehr Angst hatte, als es ohnehin schon der Fall war.
„Pass auf, ich werde dir jetzt die Verbände abnehmen, ok?“
Ein zunächst verständnisloser Blick und ein darauffolgendes Nicken waren die Antwort und er machte sich ans Werk. Richard blieb verhältnismäßig ruhig bei dieser Aktion, zumindest bis der Psycho auf einmal auftauchte und sie unterbrach: „Und? Wie sieht’s aus?“
Er redete nicht gerade leise und Richard schrak so heftig zusammen, dass er wieder zu zittern anfing. Der Arzt wandte sich genervt mit den Augen rollend an seinen „Bruder“: „Sag mal, musst du hier so rumschreien? Du benimmst dich wie ein kleines Kind, ehrlich mal...“
„Wieso denn? Was hab ich denn jetzt schon wieder falsch gemacht? Na gut, wenn ich dir so auf den Geist gehe, verzieh ich mich halt wieder...“
„Besser ist das...“, murmelte der Arzt noch, als der Psycho schon wieder verschwunden war.
Richard hatte die „Unterhaltung“ mit großen ängstlichen Augen mitverfolgt. Sicher, er hatte sich sehr erschrocken, als er auf einmal diese laute Stimme gehört hatte, schließlich konnte er ja nicht wissen, ob er jetzt wieder Ärger bekommen würde. Aber dann war er doch froh gewesen, dass sich seine Bezugsperson mit ihm in einem Raum befand. Und jetzt war sie schon wieder gegangen. Hatte ihn schon wieder allein gelassen. Er konzentrierte sich auf die Stimme des Arztes vor ihm, um sich selbst von den Tränen abzulenken, die erneut kommen wollten.
„Na das sieht ja ganz gut aus.“
Jetzt doch neugierig besah sich Richard die Brandverletzung in Form eines großen R. Mittlerweile vernarbte der Brand schon, vom Eiter keine Spur mehr, die Entzündung war abgeklungen.
„Gut, hier muss nichts mehr drauf, schauen wir uns doch mal deinen Rücken an.“
Der Schwarzhaarige drehte sich gehorsam zur Seite und auch hier bot sich dem Arzt ein ähnliches Bild. Keine der tiefen Striemen auf Richards Haut nässte noch, insgesamt verheilte alles gut, was bei der schlechten Ernährung an sich schon ein kleines Wunder war. Richard würde wohl bald mehr Probleme mit dem Juckreiz der verheilenden Wunden als mit den Schmerzen haben.
Der Arzt besah sich die zahlreichen Schnitte näher. Sie waren überall, zogen sich vom Hals über den gesamten Oberkörper bis zu den Händen und Fingern hinunter. Richards Bauch und Beine, ja sogar die Füße waren ebenfalls betroffen. Je nach Tiefe und Dicke der Messer, mit dem ihm die Verletzungen beigebracht worden waren, verheilten selbige unterschiedlich schnell. Einige hatten schon Narben gebildet, von anderen war fast gar nichts mehr zu sehen. Noch andere wiederum würden wohl auf ewig bleibende Male hinterlassen, ähnlich dem Brand und den Peitschenhieben. Der Arzt vermutete, dass sich auf Richards Rücken fast nur noch Narbengewebe ausbilden würde, für ein normales Abheilen waren die Verletzungen zu tief.
Er seufzte, als er daran dachte, wie der Schwarzhaarige einmal ausgesehen hatte. Eigentlich ganz hübsch, der Arzt wunderte sich, dass er anscheinend keine Freundin gehabt hatte. Die Voraussetzungen hatte er auf jeden Fall dafür. Aber was hatte der Psycho nur aus ihm gemacht? Mittlerweile war Richard nur noch ein Schatten seiner selbst, sogar dieser Schatten schien sich nun auch verzogen zu haben. Wieder ein Kopfschütteln. Andererseits sah er immer noch ziemlich attraktiv aus. Irgendwie konnte der Arzt auch verstehen, dass sein Bruder den Schwarzhaarigen immer wieder missbrauchte. Gerade in diesem Zustand wirkte Richard unwiderstehlich.
Der Arzt schüttelte noch einmal den Kopf, um diese Gedanken loszuwerden. Er war schließlich nicht so krank wie sein Bruder, oder?
Er konzentrierte sich wieder auf das, wozu er eigentlich hergekommen war.
„Gut, bleib jetzt ruhig, ok? Ich will nur kurz die Knochenbrüche untersuchen...“
Richard verspannte sich unmerklich. Immer noch hatte er Angst vor Schmerzen. Doch entgegen seinen Erwartungen, war der Jüngere ungewöhnlich sanft. Behutsam tastete der die Rippen und die Schulter ab. Viel Neues fand er nicht heraus. Er bezweifelte, dass die Rippen noch einmal richtig verheilen würden. Bei der Schulter sah es dagegen schon besser aus.
„Sag mal, hast du eigentlich noch Hustenkrämpfe?“
Richard sah ihn erst mit dem mittlerweile schon vertrauten verständnislosen Blick an, dann nickte er langsam.
„Immer mal wieder...“, fügte er noch leise hinzu.
„Und ist dieser Husten trocken oder spuckst du noch Schleim?“
Wieder dieser zunächst verständnislose Blick, der dem Arzt jedes Mal einen kalten Schauer über den Rücken jagte.
„Naja...manchmal...ist noch Schleim mit dabei...“
Der Arzt seufzte leise. Er hatte so etwas schon vermutet.
„Ok, ich bin fertig. Kannst dich wieder anziehen...“, meinte er dann.
Richard atmete innerlich auf und tat dann das Verlangte. Seine Bewegungen waren langsam, sehr langsam sogar, als würde ihm alles unendliche Kraft kosten und so ähnlich war es auch. Ihn schien eine Art Dauermüdigkeit befallen zu haben, was aber bei seinem Gesundheitszustand nicht weiter verwunderlich war. Er hatte ja kaum Kraft, um sich auf den Beinen zu halten und wenn er sich zu schnell bewegte, wurde es jedes Mal schwarz und Sterne tanzten vor seinen Augen. Und da er darauf gerne verzichten konnte und wollte, bewegte er sich eben nur noch sehr langsam.
Der Arzt packte seine Sachen zusammen.
„Pass auf, ich bin in der Halle. Leg dich dann am besten wieder hin, ok? Du brauchst unbedingt Ruhe.“
Wieder erst dieser verständnislose Blick, dann ein gehorsames Nicken.
‚Was hat dieser Verrückte nur aus dir gemacht?’
Mit diesem Gedanken ging der Arzt wieder in die Halle zurück.
„Na endlich, das hat ja gedauert. Und? Irgendetwas Besonderes?“
Psychos Bruder rollte genervt mit den Augen.
„Also, fangen wir bei dem Positiven an: Die ganzen Verletzungen verheilen gut, du wirst allerdings aufpassen müssen, dass er sich nicht wieder alles aufkratzt. Das wird nämlich die nächste Zeit ganz schön jucken. Jetzt zu den schlechteren Nachrichten: Dein Kleiner hat immer noch Hustenattacken mit Auswurf...“
„Jaa, ich weiß, der spuckt manchmal noch ganz schön rum. Ist das denn schlimm?“
Erneut ein genervtes Augenrollen.
„Nun ja, wenn man mal davon absieht, dass das bedeutet, dass er die Lungenentzündung immer noch nicht auskuriert hat, ist das tatsächlich nicht weiter schlimm...“
Die Stimme des Arztes hätte ironischer nicht sein können.
„Maaannn, jetzt doch nicht gleich wieder so bissig! Das kann ich doch nicht wissen!“
„Dann weißt du’s eben jetzt. Aber ehrlich gesagt, musst du dich darüber nicht wundern. Bei den Temperaturen hier und der schlechten Ernährung ist es kein Wunder, dass er sich nicht so wirklich erholt. Ähnliches gilt bei seinen gebrochenen Rippen. Die werden vermutlich auch nicht wieder richtig verheilen, es sei denn, du gibst dem Kleinen ein paar Wochen absolute Ruhe, oder schaffst ihn gleich ins Krankenhaus und beendest die ganze Sache hier...“
„Niemals! Bist du denn des Wahnsinns? Wo ich ihn doch jetzt gerade erst so habe, wie ich ihn haben wollte? Das war ein hartes Stück Arbeit, das kann ich dir sagen! Und jetzt geht der Spaß doch erst richtig los! Ich lass mir den Kleinen nicht wegnehmen, NIEMALS!“
Der Psycho war ziemlich laut geworden. Mit seiner Erscheinung, seinen gefährlichen Augen und seiner kalten Stimme konnte er so ziemlich alle Leute beeindrucken, die ihm auf den Geist gingen, nur einen nicht: Seinen Bruder.
Der stand ruhig da und sprach dann mit ungerührter Stimme weiter: „Nun gut, dann tu halt, was du nicht lassen kannst, an mir soll’s nicht liegen. Ich mein ja nur...“
„Ja genau! Du meinst nur!“, rief der Psycho, der sich immer noch nicht beruhigt hatte, aufgebracht.
„Und da du nur meinst, kannst du jetzt auch wieder verschwinden und es ist mir scheißegal, ob es extra kostet, ich bezahl sowieso nix heute!“
Jetzt hatte Richards Entführer mehr etwas von einem schmollenden Kleinkind als von einem kranken Irren, den er sonst immer spielte. Sein Bruder lächelte leicht und neigte dann kurz den Kopf.
„Wie der Herr wünschen.“, sagte er noch, dann war er genauso schnell wieder verschwunden wie er gekommen war.
Der Psycho starrte ihm nach. Er hätte sich im Moment selber ohrfeigen können. Er wusste doch, wie dieser Typ auf seine Ausbrüche reagierte, nämlich gar nicht. Sowas Ärgerliches. Aber das war jetzt nicht mehr zu ändern.
Als er das Tappen von vorsichtigen Schritten hörte, brachte er sich schnell wieder runter. Dann wandte er sich lächelnd Richard zu, der gerade die Halle betreten hatte. Der Schwarzhaarige zitterte wieder. Er wusste, er hätte eigentlich liegen bleiben sollen, doch als seine Bezugsperson laut geworden war, hatte er sich Sorgen gemacht und war doch wieder in die Halle gegangen.
Jetzt kam der Psycho ihm lächelnd entgegen. „Komm mit“, meinte er nur, zog Richard an einer Hand hinter sich her und steuerte geradewegs auf das Bett zu. Es war schon ziemlich spät abends und heute war ein langer Tag gewesen. Richards Peiniger wollte ihn auch entsprechend ausklingen lassen.
Er führte sein Opfer zum Bett und bedeute ihm, sich hineinzulegen. Richard tat es und unbewusst wartete er schon auf ein Wort. Ein einziges Wort, dass er auch nur Sekunden später in der vertrauten Kälte hörte: „Umdrehen.“
Und diesmal weinte er nicht, diesmal ließ er es still über sich ergehen, denn er wusste, wenn das der Preis dafür sein sollte, dass ihn seine Bezugsperson nicht verstieß, dann würde er ihn zahlen, ganz gleich, wie sehr es weh tat und wie benutzt er sich dabei vorkam.
Richard erwachte am nächsten Morgen mit knurrendem Magen. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er den ganzen letzten Tag weder etwas gegessen noch etwas getrunken hatte. Er setzte sich schwerfällig im Bett auf. Sein Entführer war mal wieder nirgends zu sehen, doch Richard hörte leise Geräusche hinter sich. Langsam drehte er den Kopf in diejenige Richtung und in diesem Moment kam der Psycho auch schon aus seiner provisorischen Küche. Er hielt eine Flasche Wasser, ein Glas Babybrei und einen Löffel in den Händen. Als er sah, dass sein Opfer wach war, musste er lächeln.
„Guten Morgen.“. begrüßte er den Schwarzhaarigen gut gelaunt und viel lauter als nötig, was ein Zusammenzucken Richards zur Folge hatte.
„Ich hoffe ja mal, dass du gut geschlafen hast?“
Richard sagte gar nichts dazu, das brauchte er aber auch nicht. Der Psycho setzte sich zu ihm aufs Bett.
„Ich hoffe ja mal, du magst Spagetti?“
Ein verständnisloser Blick war die Antwort, dann folgte ein Schulterzucken. Spagetti? Was war das? Richard konnte sich nicht wirklich erinnern, er versuchte es auch gar nicht erst, da ihm sein Instinkt sagte, dass diese Erinnerung nicht weiter wichtig war.
„Tut mir leid, ich hab gestern völlig vergessen, dir was zu essen zu geben, aber das holen wir jetzt nach, ok?“
Wieder erst ein verständnisloser Blick, dann ein Nicken.
„Ich hoffe ja mal, dass das dir jetzt nicht so viel ausgemacht hat...“, murmelte der Psycho noch, dann hielt er Richard die Flasche Wasser hin.
Der Schwarzhaarige begann auch sofort zu trinken. Dabei dachte er über die Worte seines Entführers nach. Ihm etwas ausmachen? Was sollte ihm etwas ausmachen? Dass er nichts zu essen bekommen hatte? Warum sollte ihm das etwas ausmachen? Er war froh darüber, dass er überhaupt jemanden hatte, der sich um ihn kümmerte und wenn dieser Jemand dies einmal vergaß, war das doch nicht so schlimm, oder?
Seine Gedanken wurden verdrängt, als ihm ein ziemlich voller Löffel unter die Nase gehalten wurde. Richard wusste bis zu dem Moment nicht, WIE hungrig er eigentlich war. Er stürzte sich geradezu auf den Brei und diesmal schaffte er auch ein ganzes Glas voll. Dazu hörte er ein Geräusch, oder nahm es eher unbewusst wahr: Klick-Klack.
„Nana, nicht so gierig. Sonst bringst du mir am Ende wieder alles raus...“, meinte der Psycho lächelnd, als schließlich das Glas leer war.
Richard wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte, darum sah er einfach nur zu Boden und wartete auf...ja worauf eigentlich? Eigentlich war es ihm mittlerweile egal, worauf er wartete, irgendetwas würde schon mit ihm angestellt werden, da war er sich sicher. Er spürte eine sanfte Berührung am Kopf und zuckte leicht zusammen.
„Hey hey, ganz ruhig mein Kleiner...“
Der Psycho kraulte ihn sachte. Richard gab sich ganz den Berührungen hin und lehnte sich schließlich gegen den Jüngeren, der ihn in eine sanfte Umarmung zog. Der Schwarzhaarige genoss sichtlich diese kleinen Streicheleinheiten. Wieder machte der Psycho lächelnd ein Geräusch.
Klick-Klack.
Und auch dieses Mal nahm Richard das Klickern nicht bewusst wahr, er überhörte es schlicht und einfach.
Nach einigen Minuten löste sich der Psycho von ihm. „Komm mit.“, meinte er nur und stand dann auf, um in Halle zu gehen.
Richard sah ihn erst verständnislos an, folgte dann aber gehorsam. Der Psycho führte ihn zu dem kleinen Käfig. Richard verstand den Wink. Er kroch sofort hinein, froh darüber, dass wohl zunächst nichts von ihm verlangt wurde und er seine Ruhe haben würde. Zu seiner Überraschung wurde er nicht eingesperrt, allerdings zeigte sich ein leicht trauriger Ausdruck auf seinem Gesicht, als der Psycho Anstalten machte, sich zu entfernen.
„Kein Sorge, ich bleib in der hier in der Halle, ok?“, meinte er lächelnd. „Ich lass dich schon nicht alleine, keine Angst...“
Damit ging er nun endgültig, allerdings tat er das, was er gesagt hatte: Er blieb immer in Richards Sichtfeld. Der beruhigte sich wieder. Seine Decken waren noch da und so rollte er sich unter ihnen zusammen, döste ein wenig vor sich hin und beobachtete den Psycho, wie er an einigen noch übriggebliebenen Autoteilen herumwerkelte.
Es wurde ein verhältnismäßig ereignisloser Tag. Zum ersten Mal, seit er hier war, hatte Richard seine verhältnismäßige Ruhe. Er wurde nicht geschlagen, nicht vergewaltigt, absolut nichts wurde ihm angetan. Er hatte kein Problem damit, auf dem harten kalten Boden zu liegen, ja in Wahrheit war er sogar ganz froh darüber. Er wusste nicht wieso, aber irgendwie hatte er das Gefühl, es sei nicht richtig, dass er im Bett seines Entführers schlief oder seine Sachen benutzte, sich quasi auf eine Stufe mit ihm stellte. Schließlich war er wertlos, so eine gute Behandlung stand ihm doch eigentlich gar nicht zu, oder?
Immer wieder döste er im Verlauf des Tages weg, schlief aber nie wirklich, doch schon diese kurzen Ruhepausen reichten ihm völlig aus. Unterbrochen wurde das Ganze eigentlich nur, wenn ihn seine Bezugsperson mal besuchen kam und er etwas zu essen und zu trinken erhielt, immer gepaart mit kleinen Streicheleinheiten. Und jedes Mal hörte er ein kleines kurzes Geräusch und jetzt hörte er es schon bewusster: Klick-Klack.
Allerdings fragte er sich nicht, was das zu bedeuten hatte, das würde noch einige Zeit dauern, bis er dahinter kommen sollte.
Der Psycho gönnte seinem Opfer aus zwei Gründen diesen Ruhetag. Zum einen hatte er ein ordentlich schlechtes Gewissen, dass er seinen Schützling am gestrigen Tag so sehr vernachlässigt hatte. Aber durch die Aufregung, ob sein Plan auch funktionieren würde, die Entspannung, dass es dann doch geklappt hatte und die wunderbare Reaktion von Richard – dadurch hatte er es schlicht und einfach vergessen.
Allerdings hatte er noch einen anderen Grund: Zufällig war er im Internet auf einen Artikel über das sogenannte Klickertraining, das bei Hunden so erfolgreich angewendet wird, gestoßen. Er war von der Sache an sich so begeistert gewesen, dass er für sich beschlossen hatte, das Ganze an Richard auszuprobieren, allerdings in leicht abgewandelter Form. Er wusste nicht, ob sein Experiment klappen würde, allerdings standen die Aussichten darauf extrem gut, wenn man Richards Abhängigkeit zu seinem Peiniger bedachte.
Doch zunächst musste sich der Psycho etwas einfallen lassen, wie er den Schwarzhaarigen auf das Geräusch konditionieren wollte und ob er mit dem Klickern etwas Positives oder etwas Negatives verbinden sollte. Schließlich hatte sich der Jüngere für ersteres entschieden. Heute Abend wollte er den ersten wirklichen Versuch starten. Vom Ausgang dieses Experiments hing sein weiteres Vorgehen für die nächsten Tage ab. Er war schon ziemlich gespannt.
Die gewünschte Tageszeit trat recht schnell ein. Schließlich befanden sie sich immer noch mitten im Winter und da wurde es rasch dunkel. Zum späten Abend dann beschloss der Psycho, für heute Schluss zu machen. Er hatte noch einige Sachen repariert und ein paar Käufer standen auch schon in Aussicht, seine Geschäfte könnten an sich nicht besser laufen. Er kam noch einmal bei Richard vorbei, um ihn wieder zu füttern und ihm noch ein paar Zärtlichkeiten zuteil werden zu lassen. Und wieder klickerte er.
Klick-Klack.
Bis jetzt zeigte Richard überhaupt keine Reaktion auf das Geräusch, allerdings wusste der Psycho auch, dass sein Opfer schon viel zu abgestumpft und verängstigt war und deshalb mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht von selbst fragen würde. Nachdem er fertig war, sammelte der Psycho seine Sachen ein, wünschte Richard noch eine gute Nacht und verschwand aus der Halle. Allerdings ließ er demonstrativ die Tür offen, bevor er das Licht löschte. Dann legte er sich in voller Montur aufs Bett und wartete.
Klick-Klack.
Richard hatte seinem eigentlich Peiniger traurig nachgeschaut. Er hatte diesen Tag sehr genossen, vor allem die ganzen zärtlichen Streicheleinheiten, einfach die Nähe zu seiner Bezugsperson.
Jetzt lag er in dem kleinen Käfig und starrte auf einen Punkt an der Wand, an dem er die Tür zu dem Nebenraum vermutete. Er wollte nicht alleine sein. Aber der Psycho hatte ihn nicht mitgenommen, deshalb vermutete er, dass er alleine sein musste, warum auch immer. Vielleicht hatte er schon wieder etwas falsch gemacht? Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass es eine sehr einsame und schlaflose Nacht für ihn werden würde.
Doch plötzlich hörte er etwas. Und erst jetzt hörte er es ganz bewusst: Klick-Klack.
Es war ganz leise, aber seine Sinne waren mittlerweile schon so geschärft, dass es für ihn kein Problem war, dieses Geräusch wahrzunehmen. Er konnte es nicht ahnen, doch der Psycho hatte ihn den ganzen Tag und schon den vorigen auf dieses Geräusch konditioniert. Unbewusst verband er das Klickern jetzt schon mit etwas Positiven, egal, ob es nun Nahrung, Wasser oder ganz einfach die Nähe zu einem anderen Menschen war. Und gerade das letztere brauchte er jetzt.
Er sah aus dem Käfig hinaus. Der Psycho hatte nicht verriegelt, er könnte also dorthin gehen, wo das Geräusch hergekommen war. Sollte er? Oder sollte er nicht?
Er horchte wieder, doch das Geräusch kam nicht noch mal. Schließlich war der Drang nach Nähe und die Angst vor dem Alleinsein stärker und er kroch aus dem Käfig. Mit wackeligen Schritten hielt er auf die Tür zu. Diese stand immer noch offen. Er hielt sich am Türrahmen fest und spähte unschlüssig in den Raum. Und dann war da wieder dieses Geräusch.
Klick-Klack.
Vorsichtig und sich seiner Sache immer noch nicht sicher tapste Richard in den Raum und hielt auf das Bett zu. Drin lag der Psycho mit geöffneten Augen und machte ein unschuldiges Gesicht.
„Nanu?“, fragte er scheinbar überrascht. „Was willst du denn hier?“
„Kann...kann ich bei dir sein?“, flüsterte Richard ängstlich, er zitterte schon wieder, vor Kälte und vor Angst.
„Na komm schon her...“, meinte der Gefragte nach einigen bangen Sekunden lächelnd und Richard kam dieser Aufforderung nur zu gerne nach. Er huschte schnell unter die Bettdecke und kuschelte sich eng an seinen eigentlichen Peiniger.
„Danke...“, flüsterte er noch, dann war er auch schon eingeschlafen.
Und jetzt dachte der Psycho gar nicht daran, Richard erneut zu missbrauchen, jetzt war er einfach nur glücklich mit der Tatsache, dass sein kleines Experiment so gut funktioniert hatte.
Veränderungen
„Sind Sie denn jetzt völlig durchgedreht? Sie haben ja komplett den Verstand verloren!“
„Und wenn schon! WIR tun wenigstens etwas, WIR haben nämlich den Glauben daran, dass Richard noch leben könnte, nicht verloren!“
Paul schrie ziemlich wütend den Mann vor ihm an und auch die anderen vier sahen so aus, als würden sie am liebsten auch mitmachen wollen, doch noch hielten sie sich im Hintergrund. Was war geschehen? Fünf Tage waren nun wieder vergangen, Tage in denen die Rammsteiner immer noch systematisch alle möglichen alten und leerstehenden Gebäude absuchten und in denen die rot markierten Punkte auf ihrer Karte immer weniger wurden. Doch jetzt hatten sie den Suchtrupp getroffen, der für das Finden von Richards Leiche verantwortlich war und der Chef der Operation war überhaupt nicht erbaut darüber, sich jetzt mit Zivilisten herumschlagen zu müssen. Doch zunächst war er noch ganz freundlich geblieben und hatte höflich gefragt, was die Rammsteiner überhaupt da auf dem Fabrikgelände wollten. Als sie wahrheitsgemäß berichteten, dass sie ebenfalls nach ihrem verschwundenen Bandkollegen suchten, war der Beamte völlig ausgeflippt. Er hatte allerdings nicht mit so einer Gegenreaktion gerechnet.
„Ja aber das ist doch verrückt. Ihnen wurde doch von allen Seiten bestätigt, dass Ihr Freund nicht mehr lebt, Sie haben es doch mit eigenen Augen gesehen! Und überhaupt: Das, was Sie hier machen ist Hausfriedensbruch, Sie haben doch überhaupt keine Berechtigung hier zu sein! Sie werden noch eine Anzeige bekommen! Alle fünf!“
„Jetzt reicht es aber!“, mischte sich nun Till ein. „Erstens dürfen wir sehr wohl hier sein, wir haben nämlich den Besitzer dieses Gebäudes vorher...gefragt.“
Dass „bestochen“ den Sachverhalt wohl eher traf, erwähnte der Sänger lieber nicht. „Und zweitens“, fuhr er aggressiv fort, „ist das, was wir hier machen nicht viel verrückter, als Ihr Job, oder? Sie haben ja noch nicht einmal wirkliche Beweise für Ihr Tun. Wir schon. Wir wissen, dass das Video bloß inszeniert war und das haben wir Ihrem Vorgesetzten auch gesagt! Aber er wollte uns ja nicht glauben!“
Der Beamte wollte schon etwas erwidern, hielt dann aber doch kurz inne. In der Tat kannte er die Argumente, die gegen den Tod des Vermissten sprachen und er war auch geneigt, diesen Glauben zu schenken, doch Befehl war nun einmal Befehl. Und wenn sein Vorgesetzter entschied, die großräumigen Suchaktionen abzubrechen, dann konnte er nicht viel dagegen unternehmen. Außerdem fand er nicht, dass das komplette Video „inszeniert“ gewesen war und ihm war auch nicht das leichte Zögern von Seiten Tills entgangen. Er konnte sich schon denken, dass diese Menschen vor ihm schon länger nach ihrem vermissten Freund suchten und so schaute er sie sich nun genauer an. Sie sahen ziemlich mitgenommen aus, tiefe Ringe zeichneten sich unter ihren Augen ab und insgesamt machten sie einen verdammt erschöpften Eindruck. Irgendwie bekam er Mitleid mit ihnen, gleichzeitig musste er sie doch ziemlich für ihr Durchhaltevermögen bewundern. Schließlich rang er sich zu einer Entscheidung durch und meinte seufzend: „Na gut, dann verschwinden Sie schon. Es ist mir eigentlich egal, was Sie in Ihrer Freizeit so unternehmen, aber sorgen Sie in Zukunft dafür, dass Ihre Hobbys und mein Job sich nicht mehr in die Quere kommen.“
Mit diesem Satz drehte er sich ohne ein weiteres Wort um und marschierte zu seiner Truppe zurück, die dann das Gebäude durchkämmte, wie es die Rammsteiner vor ihnen schon erfolglos getan hatten. Die Band starrte ihnen etwas verduzt und eigentlich immer noch wütend hinterher, dann schlugen auch sie den Weg zurück zum Auto ein.
„Idiot!“, kam es zähneknirschend von Till, was Paul mit einem „Wichser!“ quittierte.
„Arschloch!“, meinte Olli, doch bevor auch Flake seinen Senf dazu geben konnte, hörte man Schneiders mehr als nur müde Stimme: „Jungs, kommt wieder runter! Ihr könnt den Typen jetzt noch stundenlang beleidigen, weder wird er es hören, noch bringt uns das weiter. Hebt’s euch für den Psycho auf.“
Finstere Blicke wurden ihm daraufhin zugeworfen.
„Ach, leck mich doch!“, kam es dann immer noch stocksauer von Till, der daraufhin die riesige Karte entfaltete, einen roten Punkt durchstrich und sich schweigend hinters Steuer setzte. Genauso wortlos stiegen auch die anderen ein, Türen knallten und kurze Zeit später fuhr ein schwarzer Autobus mit mehr als nur überhöhter Geschwindigkeit über die Landstraße.
„Jah, ich hab dich auch lieb und übrigens war das gerade ein Blitzer.“, murmelte der Drummer jetzt vor sich hin, während Till einen Gang runter schaltete, und das nicht nur in seinem Fahrstil.
„Und hast du auch brav gelächelt?“ fragte er jetzt und ein ziemlich verdutzter Schneider meinte: „Ähm, wieso sollte ich?“
Die Antwort kam von Paul: „Na weil man für Zielfotos doch immer lächeln muss...“
Allgemeines Grinsen war die Folge und kurze Zeit später erfüllte ein so selten gewordenes schallendes Gelächter das Fahrzeug. Sie lachten Tränen, vielleicht auch, weil ihnen mehr zum Weinen als zum Lachen zumute war und Till fuhr schließlich an den Straßenrand, weil er sich nicht mehr auf den Verkehr konzentrieren konnte. Nach ein paar Minuten ebbte auch das Lachen ab und Stille breitete sich aus. Während Olli sich die letzten (Lach)Tränen aus den Augen wischte, fragte er: „Was war eigentlich gerade so lustig?“
Keiner von ihnen hatte eine Antwort darauf, deshalb beschlossen sie, weiter zu fahren und nahmen ihre Suche wieder auf. Doch die Anspannung der letzten Tage war nun einmal kurz gebrochen worden und das war ganz wichtig. Denn eines wussten sie: Sollten sie sich bei ihrer Aktion zerstreiten, dann würden ihre ohnehin schon geringen Chancen, Richard lebend zu finden vollständig auf null sinken.
Für den so hartnäckig gesuchten Gitarristen waren eben diese fünf Tage die seltsamste, schmerzvollste und gleichzeitig schönste Zeit, die er bis jetzt bei seinem Entführer zugebracht hatte. Der perfektionierte nämlich seine Trainingsmethoden mit dem Klicker und „erzog“ Richard buchstäblich wie einen Hund. Da er nach jenem denkwürdigen Abend nun den Beweis dafür hatte, dass der Schwarzhaarige ihm bedingungslos gehorchen würde, überlegte er sich zunächst, was den nun am wichtigsten wäre, das Richard lernen sollte. Er beschloss, seinem „Kleinen“ zunächst eine gewisse „Stubenreinheit“ beizubringen, da er es leid war Erbrochenes und andere Spuren Richards diesem immer hinterher räumen zu müssen. Dies gipfelte schließlich darin, dass der Schwarzhaarige grundsätzlich fürs Aufräumen und Saubermachen verantwortlich war und dafür logischerweise auch immer nach draußen in den Schnee musste. Trotzdem er nun vom Psycho Klamotten bekommen hatte, versuchte er immer, so schnell wie möglich aus der Kälte heraus zu kommen. Blieb er zu lange draußen, wurden seine Hustenkrämpfe stärker und einmal war er davon sogar ohnmächtig geworden und einfach im Schnee zusammengebrochen. Hätte ihn der Psycho nicht gefunden, wäre ziemlich schnell erfroren.
Das Prinzip, nach dem Richards Peiniger vorging, war eigentlich ganz simpel. Klickerte er, hatte der Schwarzhaarige sofort zur Stelle zu sein. Kam er nicht in einem bestimmten und meist sehr kurzen Zeitraum, drohten ihm Schläge oder der Elektroschocker. Dasselbe passierte, wenn er seine Aufgaben oder bestimmte Verhaltensweisen nicht erfüllte. Tat er jedoch das, was von ihm verlangt wurde, bekam er Streicheleinheiten oder Nahrung. Da der Psycho mitbekommen hatte, dass Richard am Abend immer besonders hungrig war, entzog er dem Schwarzhaarigen dann auch mal die Nahrung, wenn sich dieser am Tag besonders „schlecht“ benommen hatte.
Nur die Vergewaltigungen liefen außer der Reihe. Richards Peiniger legte diese immer so, wie er gerade Lust hatte, im wahrsten Sinne des Wortes, was sein Opfer zunächst ziemlich verwirrte. Richard wusste nämlich nicht, ob er dies als Strafe oder gar Belohnung deuten sollte, doch er begriff bald, dass das Wort „umdrehen“ nichts mit dem Klickern zu tun hatte. Auch lernte er schnell, seine Sinne auf eben jenes Geräusch auszurichten, damit er ja nicht wieder mit Tritten, Schlägen oder Elektroschocks traktiert wurde.
Doch davon abgesehen wurde er nicht weiter körperlich misshandelt, da sein Peiniger eigentlich darauf bedacht war, Richards Verletzungen endlich abheilen zu lassen. Die Chancen dafür standen eigentlich vor allem seit zwei Tagen recht gut, da Richard immer noch Angst vor Schmerzen hatte und deshalb auch immer versuchte alles gleich richtig zu machen, sodass Psycho ihm viele Dinge nur einmal sagen oder zeigen musste. Deshalb waren die letzen beiden Tage dann auch mehr von Streicheleinheiten als von brutaler Gewalt geprägt, was Richard auch sichtlich genoss, wann man mal von den andauernden Vergewaltigungen absah. Aber selbst dagegen war langsam fast völlig abgestumpft, es tat ihm nicht einmal mehr weh, nur konnte er dieses nagende Gefühl, dass das alles einfach nicht richtig war nicht wirklich abschütteln. Im Normalfall ignorierte er diesen Umstand aber gekonnt.
Doch noch ein anderer Verhaltenszug bildete sich an dem Schwarzhaarigen heraus, etwas, das der Psycho so überhaupt nicht geplant hatte, es sich dann aber doch freudig zunutze machte. Dadurch, dass er Richard immer wieder Schmerzen zufügte, wenn dieser nicht „gehorchte“, konditionierte er ihn unbewusst auch darauf. Der Schwarzhaarige hatte sich komplett auf das Klickern eingestellt, doch war dies ja immer nur der erste Teil einer Aktion.
Kam er angekrochen, ja mittlerweile lief er nur noch selten, es war schlicht und einfach zu anstrengend für ihn, sich nur auf zwei Beinen fortzubewegen, wartete er geduldig auf eine Anweisung, was jedes Mal mehr einem Befehl gleich kam. Setzte er sich zu langsam in Bewegung, um diesem nachzukommen, konnte er damit rechnen zu Boden geschubst und getreten zu werden oder ähnliches. Danach war er meist so schnell mit seiner Aufgabe fertig, dass dann immer Streicheleinheiten folgten. Doch die waren eher nebensächlich und so gewöhnte sich der Psycho mit der Zeit an, Richard zunächst zu schlagen, um seine volle Aufmerksamkeit zu haben und ihm dann eine Aufgabe zu erteilen. Und da Schmerzen für Richard nicht nur Strafe, sondern auch Druckmittel waren, konnte er selbst dieses Verhalten auch mit seiner momentanen Gefühlswelt in Einklang bringen. Denn er war ja wertlos und außerdem machte er eh immer irgendetwas falsch, er empfand es deshalb als gerecht, dass er auch vermeintlich grundlos geschlagen wurde.
Die sowieso schon bestehende Abhängigkeit zu seinem Entführer vertiefte sich in diesen Tagen enorm und so konnte er sich ein Leben ohne seine Bezugsperson und, noch heftiger, ein Leben mit einem anderen Menschen überhaupt nicht mehr vorstellen. Der Psycho hatte letztendlich seinen Plan in die Tat umgesetzt. Er hatte aus einem selbstständigen Menschen, der sein Leben in vollen Zügen genossen hatte, einen abhängigen und gebrochenen Sklaven gemacht, der keinen Schritt mehr ohne seine Bezugsperson tat und ohne dem Befehl dazu nicht einmal mehr aß oder trank.
Doch genau dieses Verhaltensmuster der Abhängigkeit sollte heute gebrochen werden. Richard erwachte früh in seinem Käfig und musste feststellen, dass seine Bezugsperson wohl noch schlief. Er setzte sich also auf und wartete geduldig darauf, dass er etwas zu essen erhielt. Letzte Nacht hatte ihn der Psycho nicht zu sich ins Bett geholt und er war ein wenig traurig darüber gewesen, doch konnte er nichts dagegen machen. Wie auch? Er hatte schließlich nicht das Recht dazu, irgendwelche Wünsche zu äußern, sein Wohlbefinden war von den Launen des Psychos abhängig, genauso wie er selber von diesem Menschen abhängig war.
Er schaute auf, als er Geräusche hörte, die das baldige Kommen seiner Bezugsperson ankündigten und ihn durchfuhr jene gegenteilige Mischung aus Freude und Angst, die ihm mehr oder weniger eingeprügelt worden war. Schließlich nahm er ein fröhliches Pfeifen von der anderen Seite der Halle her wahr. Aha, da war jemand heute ganz besonders gut drauf. Vorsichtig lugte er durch die Gitterstäbe, als er auch schon ein Paar Beine sah und kurz darauf ein wohlbekanntes Quietschen hörte, was ihm immer noch eine Gänsehaut verpasste.
„Hmm, das muss ich auch endlich mal ölen, das ist ja nicht zum Aushalten...vergess ich aber auch immer wieder... Morgen, Kleiner.“, meinte Psycho sichtlich gut gelaunt und reichte Richard sein „Frühstück“, immer noch Babybrei und Wasser, und sagte dann ziemlich barsch: „Essen!“ Er verzichtete auf Schläge oder ähnliches, denn diese Dinge tat sein Opfer immer noch von alleine, solange der Befehl dazu kam.
Richard stürzte sich auch sofort aus das, was ihm da gegeben wurde und der Psycho setzte sich geduldig daneben und wartete. Wenig später war der Schwarzhaarige auch schon fertig und es folgten die allmorgendlichen Streicheleinheiten, die beide Parteien auch gleichermaßen genießen konnten.
Doch heute war Richard nicht ganz so aufmerksam, wie es sonst immer der Fall war, denn schon am Abend des vorigen Tages hatte sich bei ihm ein Problem angebahnt, das er jetzt nicht mehr länger ignorieren konnte. Er versuchte sich zwar auf seine Bezugsperson zu konzentrieren, doch es wollte ihm einfach nicht gelingen. Immer wieder bewegten sich seine Finger über seine Arme, er tat dies so unauffällig wie es ihm nur möglich war, doch weder löste sich damit sein Problem, noch blieb diese Aktion unbemerkt. Seinem Peiniger gefiel diese mangelnde Hingabe des Schwarzhaarigen, wie man sich leicht denken konnte, überhaupt nicht.
„Sag mal, was ist denn mit dir los?“, fragte er etwas ungehalten und sein Tonfall duldete keine Zögerlichkeiten bei der Antwort.
Richard sah ihn mit hilflosen Augen an. „Es krabbelt.“, sagte er dann ganz leise und versuchte sich wieder an den Armen zu kratzen.
Tatsächlich war der Juckreiz an seinem Körper kaum auszuhalten. Sicher, seine Verletzungen heilten nur sehr langsam, doch sie taten es stetig und nun war er an einem Punkt, an dem er sich fast wünschte, alles würde wieder schmerzen, anstatt zu...krabbeln.
Erneut strich er mit den verschorften Stellen an seinen Fingern, die einmal die Nägel gewesen waren, über die zahlreichen Schnitte auf seinen Armen, doch so viel Druck er auch ausübte – es wurde nicht besser, sondern schlimmer. An seinen Rücken kam er gar nicht ran und das machte ihn fast wahnsinnig, denn dort war der Juckreiz am schlimmsten. Der Psycho sah Richard bei seinen offensichtlich erfolglosen Versuchen, sich Linderung zu verschaffen, zunächst irritiert zu, dann musste er sich doch ein Lachen verkneifen.
„Na sieh mal einer guck.“, meinte er schließlich doch glucksend. „Das ist aber mal hochinteressant.“ Ein Grinsen. „Hmm, da musst du jetzt wohl durch, würde ich mal sagen...“
Damit stand er auf und wollte gerade die Überreste vom Frühstück einsammeln, als er wieder Richards ängstliche Stimme hörte: „Aber kannst...“
Weiter kam der Schwarzhaarige nicht, der eigentlich nur fragen wollte, ob seine Bezugsperson da nicht etwas dagegen machen könnte, denn sofort hatte er einen Schlag auf die gebrochenen Rippen kassiert, der ihn erst einmal zu Boden warf.
„Hab ich dir nicht gesagt, dass du mir nicht widersprechen sollst?“
Der Psycho war außer sich vor Wut, zog sein Opfer aus dem Käfig und traktierte es mit zwei, drei Tritten in den Magen. Richard krümmte sich zusammen, um so weniger Angriffsfläche zu bieten, was ihm allerdings herzlich wenig brachte.
„Wie oft muss ich dir eigentlich noch sagen, dass du nur redest, wenn ich es dir erlaube?“
Richard bekam noch einen Tritt und der reichte bei ihm auch aus. Er schaffte es gerade noch so, sich auf Händen und Knien abzustützen, bevor er sich sein Frühstück noch einmal durch den Kopf gehen ließ und es schlussendlich auf den Boden verteilte. Dem Psycho brachte es eine gewisse Befriedigung, sein Opfer hustend und spuckend vor ihm zu sehen und jetzt dachte er tatsächlich über Richards Verhalten nach. Der Schwarzhaarige hatte ihm eigentlich in den letzten Tagen überhaupt nicht mehr widersprochen und wenn, dann hatte er immer einen triftigen Grund gehabt. Insofern musste es auch jetzt so sein, denn er war mittlerweile viel zu verängstigt, um sich gegen irgendjemanden aufzulehnen, erst recht nicht gegen seine Bezugsperson. Trotzdem war Psychos Wut noch nicht wirklich verraucht und so machte er jetzt ein Geräusch: Klick-Klack.
Richard sah auf und bemühte sich sofort, irgendwie auf die Beine zu kommen. Da ihm das allerdings nicht gelang und er auch nichts zum Festhalten hatte, kroch er zu seinem Peiniger wie ein geprügelter Hund es tun würde. Der verpasste ihm eine Ohrfeige und befahl dann: „Sauber machen!“
Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und ging und Richard beeilte sich, dem Befehl nachzukommen. Ihm behagte die Tatsache, dass er dafür raus in die Kälte musste, überhaupt nicht, doch würde er es nicht wagen, dieses irgendwie hinauszuzögern. Dass er gerade Prügel kassiert hatte, fand er dagegen nicht so schlimm, schließlich waren sie ja gerechtfertigt gewesen und außerdem verdrängten die neuen Schmerzen den Juckreiz zumindest ein wenig.
Als er schließlich den Hallenboden sauber hatte, setzte er sich an eine Wand, schloss die Augen und wartete. Eigentlich war er müde, aber er würde jetzt bestimmt nicht schlafen, schließlich konnte seine Bezugsperson jederzeit etwas von ihm wollen. Als er sich jedoch leicht bewegte, um sich eine bequemere Position zu suchen, fiel ihm etwas auf.
Die Wand an der er saß, war erstaunlich rau und das bekämpfte den quälenden Juckreiz, den er jetzt wieder spürte, ganz wunderbar. Er erkannte, dass er sich so extrem gut kratzen konnte und setzte dies auch sofort in die Tat um. Zunächst nur ganz vorsichtig, bald jedoch mit zunehmender Geschwindigkeit scheuerte er seinen Rücken gegen die Wand. Er war so in dem Gefühl der Linderung gefangen, dass er nur undeutlich mitbekam, wie seine Verletzungen aufgingen und schließlich das Blut zu fließen begann. Ein leicht rötlicher Fleck zeichnete sich schon auf dem rauen Putz der Wand ab und noch immer hatte Richard nicht genug. Die neuen Schmerzen genoss er geradezu, denn sie waren viel besser als der lästige Juckreiz. Allerdings hatte er nicht mit seinem geschwächten Körper gerechnet, dem der Blutverlust mittlerweile erheblich zu schaffen machte.
Der Schwarzhaarige merkte, dass er auf einmal müde wurde und sich alles um ihn herum drehte und das brachte ihn dazu, endlich aufzuhören. Erst jetzt bemerkte er die Folgen seines Tuns, die nun wieder heftigen Schmerzen, das viele Blut, die rote Spur an der Wand. Erschrocken tat er das einzige, das ihm in so einer Situation noch einfiel. Er zog sich mühsam in einen aufrechten Stand und wankte dann zu seiner Bezugsperson, doch die sollte er nicht mehr erreichen. Denn kaum war er an der Türschwelle angekommen und hatte den Psycho auf sich aufmerksam gemacht, brach er auch schon bewusstlos zusammen.
Richards Entführer stand nach seinem kleinen Wutanfall in dem Nebenraum und atmete erst einmal kräftig durch. Ihm war klar, dass das Verlassen der Halle eher einer Flucht gleichkam, doch das war ihm zunächst egal. Nachdem er sich wieder einigermaßen beruhigt hatte, sickerte auch so langsam die Erkenntnis in sein Hirn, dass Richards Verhalten nicht wirklich einem Widerstand entsprach, sondern eher einen Vertrauensbeweis in den Psycho darstellte. Ihm ging auf, dass der Schwarzhaarige ihn vermutlich hatte fragen wollen, ob der nicht etwas gegen das Problem unternehmen könnte. Und was hatte er getan? Er war vollkommen ausgeflippt.
‚Verdammt!’, schoss es ihm durch den Kopf, am liebsten hätte er sich selbst geohrfeigt. Er hatte es vermutlich mal wieder geschafft, seinen „Kleinen“ zu verschrecken und das nur, weil er sich einfach nicht im Griff hatte, was seine Aggressionen anging. Dabei hatte es die letzten Tage doch so schön geklappt mit ihnen beiden. Tatsächlich war dieses warme Gefühl immer öfter in ihm aufgestiegen, wenn er sich mit Richard beschäftigte, und damit waren nicht die Vergewaltigungen und die Prügel gemeint.
Er genoss es, wenn der Schwarzhaarige sich zutraulich an ihn kuschelte und den Eindruck völliger Zufriedenheit erweckte. Und ohne, dass er sich dagegen wehren konnte, tauchte dann auch immer die Frage auf, ob er nicht einfach aufhören sollte. Es wäre so einfach. Er könnte Richard vor der Haustür einer der Rammsteiner absetzten – vor einer Polizeiwache war es ihm dann doch zu gefährlich – und sich dann nie wieder blicken lassen. Er wusste, dieser Vorsatz ließe sich leicht erfüllen, lange hatte er eh nicht mehr. Doch er wusste auch, dass dies nicht so einfach wäre. Er hatte Richards Willen gebrochen, er hatte ihm sämtlich Erinnerungen genommen und ihn auch noch auf sich fixiert. Er konnte den Schwarzhaarigen gar nicht so ohne weiteres in die „normale“ Welt entlassen, die würden ihn, so wie er war, ins Irrenhaus verfrachten. Sie würden ihm vermutlich nicht einmal die Chance geben, zu sich selbst zurück zu finden.
Seinen ursprünglichen Plan in die Tat umzusetzen, erschien dem Psycho immer unpassender und die andere Idee, die zeitweilig in ihm aufkeimte, nämlich Richard einfach auch den Gnadenstoß zu versetzen, umso mehr. Nein, das konnte er auch nicht tun. Doch was sollte er tun? Richard wieder zu dem Menschen machen, der er vorher war? Er musste beinah auflachen bei dem Gedanken. Er schüttelte den Kopf. Nein, das ging auch nicht. Psycho wusste, dass er für Richards Zustand zwar nur ein paar Wochen gebraucht hatte, seine Taten aber nicht einmal in einem ganzen Leben wieder gut zu machen waren. Vor allem die seelischen Schäden waren zum Großteil irreparabel. Und so langsam stieg ein Gefühl in ihm auf, das er bis dahin schon glaubte, vergessen zu haben. Ein Gefühl, dass ihm so fremd vorkam, dass er es beinahe nicht wiedererkannt hätte. Dieses Gefühl hatte nur vier Buchstaben: Reue.
Tatsächlich hatte er zum ersten Mal seit sehr vielen Jahren so etwas wie ein schlechtes Gewissen und damit kam er überhaupt nicht klar. Es war ein sehr unschönes Gefühl, eines, das er am liebsten sofort wieder verdrängt hätte, und wie es der Zufall so wollte, wurde er durch ein leises Wimmern aus den Gedanken gerissen. Kurz schüttelte er den Kopf, als wollte er dieses lästige Gefühl ebenfalls abschütteln, dann sah er auf direkt in Richards riesige ängstliche Augen. Doch bevor er auch nur begreifen konnte, was da gerade passierte, unterbrach der Schwarzhaarige den Blickkontakt und sackte bewusstlos zusammen.
Psycho brauchte einen Moment, dann war er bei seinem „Kleinen“ und wollte ihn schon auf den Rücken drehen, als er einzelne rote Tropfen auf dem Boden bemerkte und einen noch viel größeren dunklen Fleck, der nass glänzte und sich auf dem Stoff des Pullovers abzeichnete, den der Schwarzhaarige trug. Einer unguten Ahnung folgend, hob der Psycho den Pulli leicht an, nur um sich einmal mehr fast rohem Fleisch gegenüber zu sehen. Er zog scharf die Luft ein und folgte zunächst der Blutspur in die Halle. Weit musste er nicht gehen, und als er die kleine Lache am Boden und den roten Fleck an der Wand sah, wusste er, was passiert war. Sofort hastete in den Nebenraum zurück, zog sein Handy und rief den Arzt an.
Flucht
„Sag mal, was macht ihr eigentlich den ganzen Tag für einen Scheiß? Man kann euch ja keine Minute aus den Augen lassen!“ Da war aber jemand sauer. Psycho senkte betreten den Blick. Sein Bruder hatte recht, dass er ihm schon wieder eine Standpauke hielt.
„Wie habt ihr denn das wieder angestellt, hm?“
„Ich hab keine Ahnung, das sagte ich doch schon!“, meinte der Jüngere jetzt angefressen. „Ich war nicht dabei. Er muss sich wohl an der Wand aufgescheuert haben. Zumindest wenn man nach dem ganzen Blut geht...“
„Ach und warum hat er das wohl?“, knurrte der Arzt, während er sich über Richard beugte, um ihm den Rücken zu behandeln.
„Naja, er meinte, dass es jucken würde...“, hörte er nun seinem Bruder.
„Das war eine rhetorische Frage. Verdammt, ich hab dir doch gesagt, dass dein Kleiner damit bald Probleme kriegen würde! Wann hörst du mir eigentlich mal zu? Und dabei war das schon so gut abgeheilt. Jetzt fangen wir wieder von vorne an! Scheiße!“
Richard regte sich. Die laute Stimme an seinem Ohr hatte ihn geweckt. Er ahnte, dass er schon wieder etwas falsch gemacht hatte, kam aber nicht darauf, was es gewesen sein könnte. Fieberhaft überlegte er und als er endlich seinen schmerzenden Rücken wahrnahm, fiel es ihm schlagartig wieder ein. Natürlich. Er hatte schon wieder Mist gebaut. Und wenn er schon mit so einem Geschrei geweckt wurde, folgten bestimmt gleich wieder Schläge und Tritte. Instinktiv und mittlerweile reflexartig machte er sich ganz klein und versuchte seinen empfindlichen Magen zu schützen. Da hörte er wieder die Stimme, doch diesmal war sie weitaus ruhiger und sanfter und sie gehörte auch nicht seiner Bezugsperson.
„Hey Kleiner, nicht so zusammenrollen. Schhh, ist ja gut, ich tu dir nichts...“
‚Diese Litanei könnte ich eigentlich aufnehmen und abspielen, wenn ich hier bin...’, ging es dem Arzt durch den Kopf. Und damit hatte nicht mal ganz Unrecht. Es war eigentlich immer wieder das Gleiche, was er Richard erzählte, wenn er bei ihm war. Und trotzdem hatte der Schwarzhaarige mehr Zutrauen zu seinem Peiniger.
‚Das verstehe, wer will...’, dachte der Arzt noch, dann machte er sich seufzend daran, Richards Verletzungen zu behandeln und für ihn fühlte es sich an wie ein grausames Déjá-vu.
Psycho hatte schweigend zugesehen, er hatte auch die Gefühlsregungen seines Bruders mitbekommen und jetzt überfiel ihn schon wieder dieses Gefühl des schlechten Gewissens, das Gefühl der Reue. Und irgendwie kam auf einmal auch ein Teil Trauer und Schuld hinzu. Nachdenklich kniete er sich zu Richard und kraulte ihn sachte. Der zuckte zunächst zurück, ein Reflex, den keiner der drei mehr bewusst wahrnahm, dann entspannte er sich merklich und gab sich den Berührungen hin. Psychos Bruder arbeitete schweigend, auch er hing seinen Gedanken nach, obwohl er am Rande bemerkte, dass sich sein Patient unter dem Gekraule mehr entspannte, als unter den Worten.
Die Augen geschlossen, lag der auf der Seite und ließ alles still über sich ergehen. Die Schmerzen bemerkte er dabei zwar, allerdings wusste er, dass ihm gerade geholfen wurde und deswegen gab er auch keinen Laut von sich.
Schließlich war der Arzt fertig. „Gut, das war’s. Kannst du aufstehen?“, wandte er sich jetzt an den Schwarzhaarigen, doch der blickte nur mit riesigen ängstlichen Augen zu seiner Bezugsperson. Psycho seufzte.
„So funktioniert das nicht mehr...schon lange nicht mehr...“, informierte er mit schwerer Stimme seinen Bruder. Dann wandte er sich an Richard und es kostete ihn alle Überwindung und Schauspielkunst, seine Stimme scharf und befehlsgewohnt klingen zu lassen: „Aufstehen! Sofort!“
Der Schwarzhaarige zuckte zusammen, dann machte er, dass er auf die Beine kam. Scharfe Töne war er gewohnt, das war etwas, das er verstand. Obwohl er sich schon wunderte, dass er nicht geschlagen und dass nicht geklickert wurde. Aber egal. Ihm stand es sowieso nicht zu, dass er fragte. Dies hatte ihm die kleine Lektion vom Vormittag wieder einmal eindrucksvoll bewiesen.
Mühsam stand er auf und hielt sich nur schwer auf den zitternden Beinen. Der Blutverlust machte ihm immer noch zu schaffen. Er starrte auf seine Bezugsperson und wartete auf den nächsten Befehl. Der kam auch in Form eines Handwinks in Richtung Bett. Richard verstand und setzte sich in Bewegung. Innerlich hoffte, betete er fast, dass dann nicht dieses eine Wort folgte. Er wusste nicht, ob er das durchhalten würde. Schließlich tat ihm mal wieder alles weh und er war so müde und überhaupt...
Erneut wuchs in ihm der Wunsch, endlich für immer einzuschlafen und nie wieder aufzuwachen, doch gleichzeitig zuckte er zusammen, da er Strafe für seinen Wunsch erwartete. Er war wertlos und wertlose Dinge durften sich nichts wünschen. Das war ihm eingeprügelt worden und daran hatte er sich zu halten. Die folgende Auseinandersetzung bekam er durch seine verwirrten und doch klaren Gedanken kaum mit:
„Sag mal, willst du ihm nicht helfen?“
„Wollen schon, aber ich kann nicht...“
„Wieso, bist du dir zu fein dazu? Wenn du’s nicht tust, mach ich’s.“
„Nein!“
„Ach, und warum nicht?“
„Sieh ihn dir doch an...“, meinte Psycho jetzt nur mit unendlicher Trauer in der Stimme. Sie beobachteten stumm, wie Richard mühevoll zum Bett hinkte, sich darauf zog und sich schließlich einrollte wie eine Katze, zitternd vor Kälte, Schmerzen und Angst der Dinge harrend, die da kommen sollten.
„Du weißt, wie er sich verhält...genauso wie ich es ihm eingeprügelt habe...was glaubst du, wie er reagiert hätte, wenn ich ihm geholfen hätte? Er ist es nicht gewohnt, dass ich ihn grundlos liebevoll behandle und Mitleid ist für ihn kein Grund. Ich glaub, er weiß nicht einmal mehr, wie man Mitleid buchstabiert... Wenn ich jetzt etwas tue, das so krass dem widerspricht, was er von mir kennt, würde es ihn endgültig aus der Bahn werfen. Scheiße, die momentane Situation ist sein letzter verbliebener Halt, den kann ich ihm doch nicht auch noch nehmen...“
Psycho sah seinen Bruder bittend an und eine einzelne Träne lief ihm über das Gesicht. Der Ältere musste mehrmals heftig schlucken.
„Und jetzt?“, fragte er dann leise. „Willst du aufhören?“
Er wollte gar nicht wissen, woher der plötzliche Stimmungsumschwung kam, eigentlich hatte er schon länger damit gerechnet. Er kannte schließlich seinen kleinen Bruder.
„Eigentlich schon.“, hörte er jetzt als Antwort. „Aber wie soll ich das anstellen? Ich kann und will ihm nicht den Gnadenstoß geben, aber ich kann den Kleinen auch nicht einfach vor Tills Haustür absetzen. Nur um mal ein Beispiel zu nennen. Richard kann sich doch an überhaupt nichts mehr erinnern...“
„Ja, Trauma nennt man das...“
„Unterbrich mich nicht! Ich meine, wie soll ich ihm denn die Erinnerung wiedergeben und ihm wieder normales Verhalten beibringen? Ich kann das nicht...“
Er stand da wie ein begossener Pudel.
„Tja, ein wenig spät, um sich darüber Gedanken zu machen, findest du nicht auch?“
Psychos Bruder sah nicht ein, warum er jetzt Mitleid oder Verständnis an den Tag legen sollte.
„Das hättest du dir vorher überlegen sollen. Bevor du Richard behandelt hast wie den letzten Dreck und noch schlimmer. Als er das Ganze noch für einen schlechten Scherz hielt, da hättest du aufhören können, aber das hast du nicht. Du hast weiter gemacht. Du hast ihn gebrochen, seinen Körper und seine Seele zerstört, also sieh zu, dass du ihn wieder aufbaust!“
„Ja, aber...wie?“
„Das fragst du mich? Du hast den Bockmist doch verzapft, glaub ja nicht, dass ich jetzt die Suppe auslöffle, die du dir eingebrockt hast!“
„Nein...will ich ja auch gar nicht...“
Psycho sah ihn noch einmal traurig an, dann ging er zu seinem Sorgenkind.
„Toll, und jetzt?“
„Ich mach das, was du gesagt hast. Das wolltest du doch immer, oder? Du kannst jetzt gehen, falls es extra kostet, schreib mir ne Rechnung oder so, is mir egal...“
Damit war das Gespräch für ihn beendet. Er wandte sich dem Schwarzhaarigen zu. Der Arzt schüttelte nur den Kopf und hörte beim Hinausgehen noch ein: „Hey, mein Kleiner, mach mal Platz.“
Richard sah seine Bezugsperson mit großen Augen an. So sanfte Töne? Oh nein, dann würde jetzt bestimmt gleich dieses eine Wort kommen. Der Jüngere sah die Angst in den Augen seines Opfers und auch die Verwirrung. Richard ließ sich unbeabsichtigt Zeit mit der Ausführung des Befehls, was vermutlich auch daran lag, dass er die Aufforderung gar nicht als Befehl verstanden hatte. Wahrscheinlich hatte er nicht mal die Worte für voll genommen, sondern nur auf die Stimme reagiert.
Psycho seufzte. Er wiederholte seine Aufforderung – mit ein wenig mehr Nachdruck diesmal, aber nicht unfreundlich: „Hey, hast du mich nicht verstanden? Mach mal Platz...“
Er wollte schon ein „bitte“ hinzufügen, aber dann wurde ihm klar, dass dies nur unnötig für Verwirrung gesorgt hätte, also ließ er es bleiben. Diesmal reagierte Richard mit einem Zusammenzucken und sofortigem Ausführen der Anweisung. Er wunderte sich zwar, dass es nicht im Befehlston gekommen war, allerdings schob sich jetzt die Angst vor einer erneuten Vergewaltigung in den Vordergrund. Und das nicht, weil es ihm weh tat oder weil er sich benutzt fühlte, sondern, weil es immer mit einer für ihn ungeheuren Anstrengung verbunden war. Und die konnte er sich momentan nicht leisten. Sein Peiniger legte sich zu ihm.
„Na komm her.“, meinte er jetzt leise. Zögerliches Befolgen war die Antwort. Psycho unterdrückte ein Seufzen und fing an, den Älteren sachte im Nacken zu kraulen. Dabei versuchte er nachzudenken. Er hatte keine Ahnung, wie er vorgehen sollte. Er hatte es zwar bis ins Detail geplant und perfektioniert, Richard zu brechen und das hatte ja auch grandios funktioniert, aber er hatte nie auch nur im Traum einen Gedanken daran verschwendet, wie er den verursachten Schaden am besten beheben konnte. Und nun stand er vor einem für ihn schier unüberwindlichen Hindernis.
Lächelnd bemerkte er, wie Richard sich an ihn kuschelte und erleichtert über die ausbleibende Vergewaltigung in tiefen Schlaf versank. Doch gleich darauf verflog das Lächeln. Als ob er Richard jetzt noch vergewaltigen konnte! Selbst wenn der Schwarzhaarige freiwillig mitmachen würde – bei dem Gedanken daran musste er sich ein sehr bitteres Lachen verkneifen – er würde so etwas nie wieder von „seinem“ Kleinen verlangen. Doch was sollte er sonst tun? Er konnte tatsächlich nur das versuchen, was ihm sein Bruder schon geraten hatte. Denn in diesem Zustand konnte und wollte er Richard nicht gehen lassen. Er wusste nicht, dass es tatsächlich nur beim Versuch bleiben sollte, der ziemlich bald in eine Flucht verwandelte.
In den nächsten Tagen versuchte Richards Peiniger alles, um den Gitarristen irgendwie wieder auf die Beine zu bringen, wobei er die psychische Seite zunächst für wichtiger hielt. Er war zu dem Schluss gekommen, dass er dafür zwei Möglichkeiten hatte: Entweder er machte es nach der Hauruck-Methode und revidierte sein komplettes Verhalten und alles, was er Richard eingeredet hatte oder er ging vorsichtig und Schritt für Schritt zu Werke.
Er entschied sich schließlich für Letzteres, zum einen, weil es eher seiner Natur entsprach und zum anderen, weil Ersteres sowieso nicht funktioniert hätte. Dies machte Richard ihm ungewollt schon beim dem ersten Versuch klar.
Psycho hatte den Schwarzhaarigen den restlichen Tag über in Ruhe schlafen lassen und ihn am nächsten Tag sanft geweckt. Nach einem ruhigen Frühstück hatte er gemeint: „Kleiner, wir müssen reden.“ Richard hatte ihn nur verwirrt und natürlich ängstlich angesehen und stumm abgewartet.
„Was ich dir jetzt sage“, fuhr Psycho fort, „ist sehr wichtig. Merk dir das Folgende sehr gut: Du bist nicht wertlos, ja?“
Was dann folgte, hätte er sich nicht einmal im Traum vorgestellt. Richards Augen waren zunächst riesengroß geworden, dann hatte er zu zittern und zu weinen angefangen und schlussendlich nur noch „Schick mich nicht fort. Schick mich bitte nicht fort. Bitte.“ gewimmert.
Der Jüngere musste ihn erst mal in den Arm nehmen, ihn stundenlang trösten und versichern, dass er ihn nicht fortschicken würde.
Psycho war heftig erschrocken über diese Reaktion gewesen. Er wusste nicht, welche Wirkung dieser einfache Satz auf sein Sorgenkind gehabt hatte. Richard dachte nämlich so: Er war wertlos – das wusste er ja und das war ihm auch eingeprügelt worden. Und er glaubte auch fest daran, weil ihm irgendeine inzwischen verdrängte Erinnerung sagte, dass es so war. Sein einziger Halt im Leben war nur noch seine Bezugsperson, die sich ja nur um ihn kümmerte, weil er ja wertlos war. Auch das war ihm eingeprügelt worden. Wenn er jetzt also auf einmal nicht mehr wertlos wäre, dann würde sich seine Bezugsperson nicht mehr um ihn kümmern, so viel stand für ihn fest. Und wo sollte er dann hin? Er hatte doch schließlich niemanden, denn alle hatten ihn ja im Stich gelassen, weil er doch wertlos war. Wenn das auf einmal wirklich nicht mehr stimmen sollte, wie sollten das dann diese Leute erfahren? Hier kam schließlich außer dem anderen Menschen, der ihm immer mal wieder die Schmerzen nahm, niemand vorbei. Und überhaupt – er wollte hier bleiben. Das Schlimmste, was er sich vorstellen konnte, war, hier weg zu müssen.
Psycho konnte zwar keine Gedanken lesen, aber nachdem er sich von dem ersten Schock erholt hatte, reimte er sich so einiges zusammen. Und da wusste er auch, dass er es tatsächlich anders angehen musste. Wenn er bei seiner Linie blieb, würde er Richard nur noch mehr verstören und letztendlich alles in ihm kaputt machen. Also hatte er ihm mehr oder weniger befohlen im Bett zu bleiben und sich auszuruhen. Außerdem sollte Richard ihm sofort sagen, wenn der Juckreiz wieder einsetzte, was der Ältere auch tat.
Die Tage darauf versuchte Psycho es dann mit einer schrittweisen Zurückführung. Er schlug Richard nicht mehr, er versuchte den befehlenden Ton immer mehr aus seiner Stimme zu nehmen, er blieb immer ruhig, sanft und liebevoll und er erteile auch keine Aufgaben mehr. Sein „Kleiner“ bekam ordentlich und regelmäßig zu essen und obwohl er immer noch keine feste Nahrung vertrug, traten die Rippen nach einiger Zeit nicht mehr so stark hervor. Und trotzdem wurde es mit Richards Verhalten nicht besser.
Gut, der Psycho hatte keine 180 Grad Wendung innerhalb von einer Woche erwartet, doch er verlor zunehmend den Mut, da er überhaupt nichts erreichte. Das Verhältnis zwischen ihnen beiden hatte sich kein Stück verändert. Richard unterwarf sich ihm widerstandslos, tat nichts ohne Aufforderung, war ängstlich und verschreckt und wagte nicht ein Zeichen der Auflehnung zu zeigen. Und dies tat er mit gutem Grund. Er vertraute zwar seiner Bezugsperson, er vertraute ihr voll und ganz, trotzdem wurde er die Angst, er könnte fortgegeben werden, nicht mehr los. Er wollte nicht weg und er wollte auch nicht alleine gelassen werden und so versuchte er mehr denn je den eingeprügelten Verhaltensmustern zu folgen – alles in der Hoffnung, dass er seinen Halt im Leben nicht verlor. Und dieses urplötzlich andere Verhalten seiner Bezugsperson ihm gegenüber und nicht zuletzt auch die ausbleibenden Vergewaltigungen schürte diese Angst noch.
Es war ja nicht so, dass er Schläge, Tritte und die Missbräuche herbeisehnte, aber das Fehlen dieser Aktionen machte ihm klar, dass irgendetwas überhaupt nicht stimmte. Und deshalb änderte sich auch nichts, obwohl Psycho alles daran setzte. Und das machte eben jenen mutlos. Er wusste nicht mehr weiter. Sein Bruder wollte ihm auch nicht helfen, wenn er da war kümmerte er sich nur um seinen Patienten und beachtete seinen Verwandten wenig bis gar nicht.
Der Arzt war mittlerweile schon kurz davor gewesen, den Rammsteinern einen Tipp zu geben, aber angesichts von Richards geistigem Zustand hatte er bis jetzt immer davon abgesehen. Davon wusste Psycho natürlich nichts, aber auch er spielte immer häufiger mit dem Gedanken, Richard einfach gehen zu lassen. Und dass nicht nur aus Reue, sondern vor allem, da er nicht mehr weiter wusste. Wenn er nichts ausrichten konnte – dann vielleicht Menschen, die seinem Sorgenkind nahe standen. Wobei dann allerdings noch das „winzige“ Problem zu überwinden wäre, dass der Schwarzhaarige sich an niemanden mehr erinnern konnte – oder wollte.
Der Tropfen, der das Fass schließlich zum Überlaufen brachte, war schließlich eine einfache Frage. Psycho versuchte jetzt schon seit einer Woche, seinen Schützling wieder zu einem selbstständigen Menschen zu machen, bekanntlich erfolglos. Es war um die Mittagszeit und er räumte gerade die Überreste des Essens weg. Da stand auf einmal Richard in der Küche. Er hatte ein wenig zugenommen in der Woche und das ständige Zittern war ein wenig abgeflaut, wohl, weil er es jetzt immer warm hatte und ihm zu wenig Schmerzen zugefügt worden waren, um die Angst vor diesen dauerpräsent zu halten. Und Richard neigte dazu, zu verdrängen.
Jetzt beobachtete er still seinen eigentlichen Peiniger, der sich die ganze Zeit so seltsam verhielt und wartete geduldig und auch ein wenig ängstlich darauf, dass der auf ihn aufmerksam wurde.
„Hey, was ist denn los?“, fragte Psycho jetzt verwundert als er den Älteren schließlich bemerkte. Der antwortete nicht sofort, mehrmals öffnete und schloss sich sein Mund und schließlich brachte er nur ein Wort heraus: „Warum?“
Der Andere zuckte zurück als hätte er zur Abwechslung mal einen Schlag bekommen.
„Warum was?“, fragte er dann unsicher. Er konnte sich schon denken, was Richard von ihm wollte.
„Warum...bist du so seltsam? Hab ich was falsch gemacht? Sag es mir...bitte...ich will...ich will auch brav sein...ich mach alles, was du willst, aber sei wieder normal...bitte...lass mich nicht alleine...ich hab doch nur dich...“
Er hatte angefangen zu weinen und konnte sich überhaupt nicht mehr beruhigen. Er hoffte, dass seine Rede nicht auf taube Ohren stieß und alles wieder würde, wie vorher, doch da konnte er lange warten.
Psycho wich Schritt für Schritt vor ihm zurück. Das hatte er schon einmal getan, doch da war sein Gegenüber wütend gewesen und hatte ihm quasi befohlen, ihn gehen zu lassen. Doch jetzt flehte der Andere, bettelte im Prinzip darum, wieder misshandelt und missbraucht zu werden – für ihn die „normale“ Art und Weise mit ihm umzugehen – und wollte nichts anderes als bei seiner Bezugsperson zu bleiben.
Doch Psycho wollte und konnte nicht mehr. Die ganze Zeit über war er immer deprimierter geworden, hatte einsehen müssen, dass er letztendlich doch verloren hatte, denn die Zeit arbeitete gegen ihn. Ein Jahr blieb ihm noch, wenn es gut kam vielleicht noch ein oder zwei Monate mehr und er wusste, in dieser Zeit würde er niemals wirklich etwas erreichen können. Nicht hier, nicht so und vor allem nicht er. Das stand ihm nicht zu.
Und auf einmal musste er erkennen, dass es ihm die ganze Zeit über nicht zugestanden hatte, dass er etwas Schreckliches getan hatte, etwas, dass er nie wieder gut machen konnte. Er hatte das die ganze Zeit über gewusst, doch ihm kam es vor, als hätte er vorher nur die Demoversion dieses Wissens gehabt und auf einen Schlag die Vollversion bekommen. Er wurde sich der letzten Wochen zum ersten Mal voll und ganz bewusst. Bilder und Erinnerungen überfielen ihn. Die Zeit als er alles geplant hatte, die anderen Opfer, die er zum „Üben“ benutzt hatte, die Freude als er endlich am Ziel war und dann Richard.
Richard, der ihn anspuckte, Richard, der ihn zwar schon ängstlich, aber immer noch kämpferisch anblickte, Richard der mal wieder zusammenbrach, Richard der sich vertrauensvoll an ihn kuschelte, Richard...
Er schüttelte heftig den Kopf, doch die Erinnerungen ließen sich nicht vertreiben. Er fühlte sich in die Ecke gedrängt, eingesperrt wie ein wildes Tier. Doch aus seinem Kopf konnte er nicht fliehen. Und als ihn sein „Kleiner“ auch noch sanft am Arm berührte, wurde es ihm zu viel.
Er stieß einen Schrei aus.
„NEEEIIIN!“
Dann stürmte er an Richard vorbei in die Halle und schließlich zur Tür hinaus.
Er lief. Er flog förmlich über die Felder, die immer noch verschneit waren, doch er bekam weder Kälte noch Nässe wirklich mit. Er konnte nicht aufhören zu laufen, obwohl seine Lunge mittlerweile von der eisigen Luft brannte und sein Herz gefährlich schnell schlug. Er wusste irgendwie, dass er weglief, dass er flüchtete und dass er dies eigentlich nicht tun sollte, doch er konnte nicht anders.
Irgendwann wurde er langsamer und sein Körper begann ihm den Dienst zu versagen. Er trottete schließlich langsam die Straße entlang und konnte in einiger Entfernung die kleine Ortschaft ausmachen, in der er mal gewohnt hatte.
Nach hause.
Wann hatte er sich das letzte Mal danach gesehnt? Er wusste es nicht mehr und eigentlich war das auch unwichtig. Wichtig war nur, dass er da ankam. Sterne tanzten mittlerweile vor seinen Augen und das Gehen fiel ihm schwer. Er wurde immer langsamer und irgendwann blieb er stehen. So verharrte er eine ganze Weile, dann brach er zusammen.
So fand ihn schließlich sein Bruder.
Drei Tage später erreichte die Rammsteiner das letzte Video.
Endlich!
Dunkel. Es war dunkel um ihn herum. Was war passiert? Er erinnerte sich. Da war Schuld. Und Reue. Und irgendwo auch Angst. Er war gelaufen. Sehr lange und sehr weit. Und dann? Er wusste es nicht mehr. Aber warum war es so dunkel? War er etwa tot? Nein, das konnte nicht sein, denn er hörte etwas. Ein Nachrichtensprecher brachte gerade das aktuelle Tagesgeschehen unter die Leute. Also lebte er noch, denn im Jenseits brauchte man doch keine Nachrichten oder?
Endgültige Sicherheit hatte er, als er erkannte, dass er die Augen noch geschlossen hatte. Langsam schlug er sie auf und sah sich um. Er lag in einem Bett und nach einigen verwirrten Momenten musste er feststellen, dass er im Haus seines Bruders war. Wie war er hierher gekommen?
Er schüttelte den pochenden Kopf und stand langsam auf. Er fühlte sich ein wenig wackelig auf den Beinen, aber es ging. Er folgte den Stimmen des Fernsehers, wo gerade das Wetter verkündet wurde und öffnete schließlich die Tür.
Der Arzt saß in einem bequemen Sessel und schaute fern. Allerdings sah er jetzt aufmerksam zur Tür, als er von da ein Geräusch vernahm.
„Na sieh mal einer guck, Dornröschen ist aufgewacht.“, meinte er dann mir einer ordentlichen Portion Erleichterung in der Stimme. „Du hast mir ja einen gehörigen Schrecken eingejagt. Wie hast du das denn schon wieder angestellt?“
Psycho sah ihn zunächst verwirrt an, dann begab er sich langsam zum Sofa und setzte sich darauf. „Ich hatte gehofft, dass du mir das sagen könntest...“, sagte er mit müder Stimme. Eine aufmerksame Musterung war die Antwort.
„Wie fühlst du dich?“, wurde er dann gefragt.
„Passt schon...ich würde allerdings wirklich sehr gerne wissen, was passiert ist...“
„Tja, also da kann ich dir auch nur sagen, was ich weiß. Ich hab dich vor drei Tagen auf der Straße nicht weit von hier gefunden. Was hast du eigentlich angestellt? Du warst kurz vor einem Herzinfarkt, verdammt noch mal! Hast du eigentlich eine Ahnung, wie das hätte ausgehen können?“
Der Ältere hatte sich immer mehr in Rage geredet und die Sorge um seinen kleinen Bruder stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Der hob abwehrend die Hände.
„Nun mach mal nicht so einen Aufstand! Mir geht’s doch gut.“
„Ja, nachdem ich dich wieder aufgepäppelt habe...“
„Jaja, ist mir auch klar – MOMENT!“
Psycho war plötzlich aufgesprungen. „Wie lange sagtest du hab ich geschlafen?“
„Drei Tage, wieso?“
„So lange? Scheiße...Richard...“, flüsterte er leise.
„Wie bitte?“, fragte der Arzt jetzt aufgebracht. „Sag bloß, der lebt noch?“
„Was? Wieso fragst du? Glaubst du etwa, ich hätte ihn umgebracht?“
„Naja...“ Der Ältere druckste herum. „Ich konnte mir sonst nicht anders erklären, dass ich dich da gefunden hab...wo ich dich gefunden hab...“
„Oh kacke, verdammte!“, fluchte der Jüngere jetzt und schlug die Hände vors Gesicht. „Ich hab ihn nicht umgebracht – wie denn auch? Aber wenn ich es vor drei Tagen nicht getan hab, dann spätestens jetzt...oh scheiße...“
Er ließ sich kraftlos auf das Sofa sinken. Ihm kamen die Tränen.
„Aber was ist denn dann passiert?“, fragte ihn sein Bruder jetzt betroffen.
„Er...hat mich nach dem Warum gefragt...“
„Aber das ist doch nichts neues mehr...“
„Nein, verflucht, dieses Warum meine ich auch nicht. Er hat mich gefragt, warum ich so ‚seltsam’ wäre, warum ich ihn so nett behandle, verstehst du? Himmel, er hat quasi darum gebettelt, dass ich ihn wieder schlage und...und...“
„Du ihn vergewaltigst.“, beendete der Arzt den Satz trocken. Der Jüngere nickte nur.
„Und da bist du einfach abgehauen? Du hast ihn einfach alleine gelassen?“
„Ja verdammt, ich hab die Nerven verloren!“
„Das ist keine Entschuldigung und das weißt du auch!“
„Ja, du hast ja recht...was mach ich denn jetzt?“
Psycho war ernsthaft deprimiert. Nie hätte er gedacht, was seine Flucht für Folgen haben könnte. Sie Bruder lief derweil auf und ab und zermaterte sich den Kopf nach einer Lösung.
„Nun ja, du hast zwei Möglichkeiten. Erstens, wir fahren zurück, kümmern uns um Richard, sofern er noch lebt, und setzen ihn bei einem der Rammsteiner vor der Haustür ab...“
„Das kann ich nicht! Ich kann da nicht noch einmal zurück und du weißt auch warum!“
Der Arzt nickte.
„Das konnte ich mir schon denken. Deshalb hab ich ja auch noch einen zweiten Vorschlag.“
„Na schön, und der lautet?“
„Das war’s. Feierabend.“, sagte ein mehr als nur resignierter Till und strich den letzten roten Punkt auf der Karte durch. Seit dem Zusammentreffen der Rammsteiner mit den Polizisten waren wieder einige Tage vergangen. Tage in denen sie unaufhörlich weitergesucht und doch nichts erreicht hatten. Die Punkte auf der Karte waren immer weniger geworden und sie hatten Richard immer noch nicht gefunden. Teilweise waren sie auch gar nicht auf die Grundstücke gekommen oder die entsprechenden Gebäude standen einfach nicht mehr. Und heute hatten sie die letzte Lagerhalle durchsucht. Es war ihre letzte Hoffnung gewesen. Sicher, Richard hätte auch noch woanders sein können, doch sie hatten keine Kraft mehr, um weiter zu machen.
„Und jetzt?“, fragte Paul, der sich die Tränen verkneifen musste. Es erschien ihm alles so sinnlos. Die ganzen letzten Wochen hatte er sich an die Hoffnung geklammert, seinen Bandkollegen irgendwo bei einem der roten Punkte zu finden und daraus auch seine Kraft geschöpft. Und da war er nicht der einzige. Es ging ihnen allen so. Doch jetzt, wo sie kein Ziel mehr hatten, kam es ihnen so vor, als würden sie jetzt zum ersten Mal den Schmerz des Verlustes und des Versagens zu spüren bekommen. Noch konnten sie es nicht so wirklich begreifen, dass soeben ihre letzte Hoffnung gestorben war, doch das Gefühl stellte sich langsam ein.
„Wir fahren zum Hotel zurück, packen unsere Sachen und dann...nach hause...“, beantwortete Schneider Pauls Frage.
„Ich wünschte, ich könnte jetzt ausrasten und dich fragen, ob das dein Ernst ist, aber...“
Flake ließ den Rest des Satzes in der Luft hängen. Er machte auf dem Absatz kehrt und lief zum Bus zurück. Die anderen folgten ihm resigniert schweigend. Sie stiegen ein und gerade als Till losfahren wollte, meinte Olli: „Oh, ich hab ne Mail.“
Sie drehten sich irritiert zu ihm um. Sicher, Olli hatte seinen Laptop dabei und irgendwie hatte er sogar einen Internetanschluss zustande gezaubert, aber das waren eigentlich alles nur versteckte Hoffnungen, dass sie noch einmal auf ein Video stoßen würden. Während der gesamten Zeit, in der sie ihre Suchaktion durchführten, hatte sie nicht ein Mensch angeschrieben, sie hatten lediglich per Handy mit der Außenwelt Kontakt gehalten und dann auch nur, wenn es wirklich nötig war.
„Als ob das jetzt noch wichtig wäre...“, knurrte Till leise vor sich hin. Er war enttäuscht, wütend, traurig...irgendwie alles zusammen und wollte auf einmal nur noch seine Ruhe haben.
„Du hast recht.“, pflichtete Olli ihm jetzt bei. „Soll ich sie löschen?“
„Von mir aus...mir doch egal.“, brummte der Sänger nur und wendete sich wieder nach vorne.
„Halt, wart mal kurz.“, unterbrach jetzt Paul die allgemeine düstere Stimmung. Aus irgendeinem Grund wirkte er jetzt hellwach und aufgeregt. „Klick mal drauf, ich will wissen, wer es gesendet hat.“, setzte er jetzt noch einer unguten Ahnung folgend hinzu.
Der Bassist tat etwas verwirrt, was von ihm verlangt wurde und als die fünf den Namen des Absenders sahen, entfuhr ihnen ein erschrecktes Keuchen.
Denn dort in der Adresszeile stand schlicht: „Der_Psycho“
Und in der Betreffzeile: „Das wirklich letzte Video – entscheu“
„Oh scheiße!“, entfuhr es Till. „Mach diese verdammte Mail auf!“, befahl er dann. Olli tat es, ohne weiter darüber nachzudenken. In der Nachricht selbst war kein Text enthalten. Lediglich einen Dateianhang konnten sie finden. Olli klickte auf „öffnen“.
Zunächst war da nur ein schwarzer Bildschirm, dann wurde weiß der Titel „Rache, der wirklich letzte Teil“ eingeblendet.
Sie schwankten gerade zwischen dem Gefühl des Hasses und dem der Erleichterung, so etwas mittlerweile Vertrautes zu sehen. Nie wären sie auf die Idee gekommen, dass es für den Psycho schon eine unglaublich schwierige Angelegenheit gewesen war, das Wort „Rache“ zu schreiben.
Sie starrten alle den Bildschirm an, erwarteten sie doch, ihren Freund endlich lebend wiederzusehen, egal in welchem Zustand der sich befand. Doch stattdessen sahen sie nur das Bild seines Peinigers, den sie natürlich sofort wiedererkannten und wenn es auch nur an diesen braunen, fast schwarzen Augen lag, die auf einmal gar nicht mehr so kalt und emotionslos blickten, sondern eher bedauernd und vor allem...traurig. Sie hätten zu gern gewusst, ob sie diesen Blick richtig deuteten, aber das Gesicht des Psychos war vermummt – wie eh und je in den Videos.
„So Leute...“, setzte er jetzt zu sprechen an, unterbrach sie jedoch sofort wieder, schien zu überlegen.
„Ich will’s kurz machen: Ich hab’s verbockt.“
„Ja, das hast du!“, meinten Paul und Till fast gleichzeitig und sehr, sehr wütend.
„Nicht so, wie ihr jetzt denkt, obwohl...doch, auch so, aber auch noch in einer anderen Hinsicht. Ist auch egal, ich wollte euch eigentlich nur sagen: Ich gebe auf.“
„WAS?“, konnte man es fünfstimmig hören.
„Nun ja...ich kann einfach nicht mehr...und ich will nicht mehr...ich weiß, dass ich riesengroßen Mist gebaut habe und ich wollte es auch wieder gut machen, aber...Richard hat mir gezeigt, dass mir das nicht zusteht...“
„Er hat was?“, fragte Till fassungslos niemanden im Besonderen.
„Nicht so, wie ihr jetzt denkt...ich glaub...das würdet ihr jetzt auch nicht so ohne Weiteres verstehen.“
„Dann erklär’s uns.“, knurrte jetzt Paul.
„Nun, wie schon gesagt, ich geb’s auf. Tut mir den Gefallen und holt den Kleinen da raus, ja?“
„WIE BITTE?“
„Ich kann da einfach nicht mehr hin, ich überlass euch das Feld.“
„Oh wie gnädig und wo sollen wir bitte schön suchen?“, brummte Schneider sauer.
„Ihr fragt euch jetzt sicherlich, wo ihr suchen sollt. Ihr wart schon einmal bei mir...ihr habt mit mir gemeinsam meine Halle durchsucht, wisst ihr noch? Ich sag nur ein Wort: Fledermäuse. Das war’s eigentlich, mehr kann und will ich nicht tun. Ich hoffe ihr könnt aus Richard wieder den Menschen machen, der er einmal war – ich selbst konnte es nicht. Ich werde jetzt aus eurem Leben verschwinden und ihr werdet mich nie wiedersehen, das verspreche ich nicht nur, das schwöre ich. Zum Abschluss kann ich eigentlich nur sagen: Es tut mir leid.“
Und dann war da wieder nur ein schwarzer Bildschirm.
Ohne „to be continued“.
Ohne „Replay“.
Der Film war einfach zu Ende.
Die fünf Rammsteiner saßen wie versteinert, nicht fähig ein Wort zu sagen oder eine Bewegung zu machen. Das sollte es also gewesen sein? Das konnten und wollten sie nicht glauben.
Paul war schließlich der Erste, den man nach langen Minuten leise vor sich hinmurmeln hören konnte: „Fledermäuse, Fledermäuse, verdammt, was meint er damit?“
„Wir waren schon einmal da...“, schloss sich ihm Till an. „Aber es waren so viele, die uns beim Durchsuchen geholfen haben...“
Auch die anderen waren plötzlich in fieberhaftes Nachdenken versunken. Sie versuchten sich an jedes Detail der letzten vergangen langen Wochen zu erinnern, in der Hoffnung, irgendeinen Hinweis auf Richards Gefängnis zu finden. Dass sie ihren Freund schon hätten viel früher befreien können, verdrängten sie erst einmal. Diese Tatsache war zu ungeheuerlich, als dass sie sie jetzt schon zulassen konnten.
Es war Flake, der schließlich auf die Lösung des Rätsels kam. Er hatte nämlich mehr oder weniger ziellos seinen Blick schweifen lassen und war dabei zufällig bei einem der kleinen Rucksäcke hängen geblieben, in denen sie immer die wichtigsten Sachen bei sich trugen. Und in einem der Rücksäcke war...
„Richards Handy.“, meinte der Keyboarder auf einmal zusammenhangslos.
„Bitte?“
Er wurde verwirrt angeschaut.
„Richards Handy – Erinnert ihr euch noch an den Anruf? Und an diesen komischen Typen?“
„Oh scheiße, du hast recht!“, rief Paul jetzt plötzlich aufgeregt. „Der hat doch was von Fledermäusen erzählt, oder? Till, ich weiß noch, wie du den unterbrochen hast – Till?“
Doch der Sänger hörte nicht mehr zu. Ehe sie sich versahen, hatte er sich hinters Lenkrad gesetzt und war losgefahren.
„Wenn ich den in die Finger kriege...wenn ich den in die Finger kriege...oohh, dieses Aas, das ist jetzt zwei Wochen her!“
Er fuhr so schnell wie möglich zu der Lagerhalle. Wie die anderen war auch Till immer noch geschockt davon, dass sie Richard schon vor zwei Wochen hätten aus dieser Hölle holen können. Und gleichzeitig waren sie auch wütend. Wütend auf diesen Psycho und auch auf sich selbst, dass sie dieses kranke Spiel nicht sofort durchschaut hatten. Das war doch einfach nicht richtig! Warum hatten sie ihren Freund nicht finden können? Sie wussten es nicht und es war ihnen auch erst einmal egal. Wichtig war nur, dass sie Richard da raus holten und zwar sofort. Sie hatten überlegt, die Polizei einzuschalten, doch dazu reichte bei ihnen das Vertrauen nicht mehr aus. Sollten sie Richard tatsächlich gefunden haben, konnten sie immer noch Bescheid sagen. Dann könnten die aufhören, nach seiner „Leiche“ zu suchen.
Sie waren angekommen. Der bekannte Feldweg. Sie stiegen aus, konnten es immer noch nicht glauben, schon einmal hier gewesen zu sein. Paul nahm vorsorglich noch zwei Decken mit, dann liefen sie, so schnell sie ihre Beine trugen, zu der alten Lagerhalle. Schließlich wurden sie langsamer. Es konnte immerhin sein, dass dieser Irre noch hier war. Sie mussten es vorsichtig angehen lassen.
Dann entdeckten sie etwas, das ihren Herzschlag beschleunigte. Die Tür stand offen. Nicht viel, ein winziger Spalt war es, aber – sie stand offen. Und wenn sie offen stand, hätte Richard doch auch fliehen können, oder? Oder?
Aber vielleicht war er auch schon nicht mehr da. Vielleicht war er schon... Nein, das durfte nicht sein, er war noch irgendwo da drin und er lebte, das wussten sie, es konnte einfach nicht anders sein.
Vorsichtig zogen Till und Schneider die große Tür auf.
Richard zuckte zusammen, als er hörte, dass jemand kam. Nein er hörte es nicht nur, er roch es auch. Spürte es eigentlich am ganzen Körper. Seine Instinkte verrieten es ihm ganz einfach. Er hoffte, dass es sein Entführer war. Schließlich war er der einzige Mensch, dem er noch trauen konnte und jemand anderen als ihn konnte er sich auch nicht vorstellen. In den vergangenen Tagen hatte er so sehr gehofft, dass seine Bezugsperson wieder auftauchte. Der Jüngere hatte ihn völlig vor den Kopf gestoßen, als er einfach so weggerannt und nicht mehr wieder gekommen war. Der Schwarzhaarige war von einem Augenblick auf den anderen alleine gewesen und er hatte sich noch nie zuvor so einsam gefühlt. Er hatte nicht gewusst, was er machen sollte und sich zunächst seine beiden Decken geholt und sich damit in der hintersten Ecke der Halle verkrochen. Den restlichen Tag über war er da geblieben, zitternd, weinend und lauschend, ob seine Bezugsperson wiederkam. Schließlich hatte ihn die Erschöpfung übermannt und er war eingeschlafen.
Die Tage darauf plagten ihn Hunger, Durst, Kälte, Angst und ständige Schuldgefühle. Er wusste, er hatte falsch gehandelt, er hätte keine Frage stellen dürfen. Nur weil er sich nicht an die Regeln gehalten hatte, war der einzige Mensch, dem er noch was bedeutete, weggegangen. Er wusste doch, dass er wertlos war, er durfte nichts fragen, er durfte sich nicht auflehnen und doch hatte er es getan.
Er biss sich selbst zur Strafe, immer und immer wieder, doch das konnte weder seine Angst, noch seine Schuldgefühle mindern. Der lästige Juckreiz setzte wieder ein und die Kleidung, die er trug, verschlimmerte dies noch. Also hatte er sie ausgezogen. Er hatte stark gefroren, doch das hielt ihn nicht davon ab, sich erneut den Rücken wund zu scheuern. Schließlich war er zitternd und schweißgebadet nicht weit entfernt von seinem Lager zusammengebrochen und so liegen geblieben – bis jetzt.
Richard zitterte stärker, nicht vor Kälte, an die hatte er sich nun schon längst gewöhnt, sondern vor Angst, weil er diese Geräusche hörte. Egal, wer das war – er würde bestimmt Ärger bekommen. Schließlich war er wertlos.
Er hörte Schritte. Das war eindeutig nicht nur einer, das waren mehrere. Richard überlegte eine Weile, dann fiel ihm das richtige Zahlwort ein: Fünf. Es waren fünf Menschen. Irgendwo regte sich vage eine Erinnerung in ihm, aber nicht für lange.
Er zitterte noch stärker.
Er hatte Angst.
Panische Angst.
Sie wollten ihm sicherlich etwas Böses, aber gut, das hatte er ja verdient. Er hatte schließlich nicht gehorcht, oder? Da war Strafe doch richtig.
Trotzdem wollte er nicht.
Er zog sich an der Wand hoch und schleppte sich schwerfällig zu seinen Decken weit hinten in der Ecke. Hier konnte er sich gut verstecken. Gleichzeitig befiel ihn die Angst, als er es tat. Durfte er das überhaupt? Eigentlich nicht.
Er wünschte sich nichts sehnlicher, als dass dieser eine Mensch wieder auftauchte. Gleichzeitig biss er sich in den Arm. Er durfte sich nichts wünschen. Er war wertlos. Er war es nicht wert zu leben und er war es auch wahrscheinlich nicht wert zu sterben.
Erschöpft fiel er auf die Decken, obwohl er nur ein paar Meter zurückgelegt hatte. Dann vergrub er sich unter ihnen und machte sich möglichst klein, ohne auf seine schmerzenden Rippen oder die gebrochene Schulter zu achten. Für diese Schmerzen war er schon viel zu abgestumpft.
Die fünf Rammsteiner traten in die Halle. Kein Zweifel, es war die Halle aus den Videos. Sie konnten nicht glauben, dass sie hier schon einmal gewesen waren.
Sie sahen sich um. Nichts regte sich, niemand war zu sehen. Paul bemerkte etwas, das ihnen eigentlich schon beim ersten Mal hätte auffallen müssen. Reste einer Blutlache auf dem Boden. Schockierte Gesichter, aber eigentlich war das ja zu erwarten gewesen. Wieder sahen sie sich um. Till begann zu rufen. „Richaaard! Wo bist du? Sag doch was! Richaaard!“
Der Schwarzhaarigen duckte sich noch mehr zusammen, als er die laute Stimme vernahm. Irgendwie kam ihm der Klang bekannt vor. Er zitterte. Er hatte schreckliche Angst. Aber vielleicht wollten sie auch nichts von ihm?
Nein, das konnte nicht sein.
„Wo ist er nur? Er muss doch hier irgendwo sein...“ Flake sah sich suchend um.
Sie beschlossen, gemeinsam die Halle Stück für Stück abzusuchen.
Wieder gemeinsam.
Wie in den letzten zwei Wochen.
Dabei kamen sie ihrem Freund unwissentlich immer näher. Und der zitterte immer stärker, als er die nahenden Schritte hörte.
Paul sah ihn schließlich als Erster. Beziehungsweise sah er einen zitternden Deckenhaufen als Erster.
„Richard?“, fragte er leise und zog eine Decke langsam zur Seite. Die anderen vier sahen neugierig und ein wenig ängstlich zu.
Zuerst erblickten sie nur einen Rücken, der eine einzige Fleischwunde darstellte und schon da schnappten sie entsetzt nach Luft. Paul zog die Decke noch ein wenig weiter weg, seine Hände zitterten jetzt schon ähnlich stark, wie sein Freund am ganzen Körper, und dann sahen sie ihn endlich. Nach fast sechs Wochen sahen sie ihn endlich wieder.
Aber sie hätten ihn beinahe nicht wiedererkannt. Ihr Freund war eigentlich nur noch ein zitterndes Bündel aus Haut und Knochen, an einigen Stellen war nicht einmal mehr Haut, sondern nur noch das rohe Fleisch zu sehen.
„Scheiße, ach du scheiße, oh mein Gott, Richard!“, war das einzige, was Schneider in dem Augenblick herausbrachte. Till hatte wieder zu weinen angefangen, die anderen drei waren einfach nur sprachlos.
Der Anblick war einfach zu...traurig. War das wirklich der Mann, den sie so gut kannten, der einer ihrer besten Freunde war?
Sie starrten ihn einfach nur an, konnten es nicht ertragen, ihn so zu sehen.
Richard fragte sich derweil, warum sie ihm nicht wehtaten und warum er immer noch hier lag. Was wollten die von ihm? Und wer waren sie überhaupt?
„Richard? Kannst du mich hören?“, fragte Paul ihn sanft, als er wieder ein wenig Fassung gewonnen hatte. Der Schwarzhaarige hob nicht einmal den Kopf, sondern zitterte nur noch stärker.
„Richard?“, versuchte Paul es deshalb noch einmal und berührte ihn vorsichtig an der Schulter.
Richard zuckte unter der Berührung zusammen wie unter einem Peitschenhieb und Paul zog erschrocken die Hand zurück. Er wollte seinem Freund nicht wehtun. Allerdings war es auch schwierig eine Stelle an seinem Körper zu finden, die nicht in irgendeiner Weise verletzt worden war.
„Es...es tut mir leid Richard, das wollte ich nicht...“, murmelte er deshalb vor sich hin. Doch anstatt irgendetwas zu sagen, nicht, dass sie das erwartet hätten, hob der Angesprochene den Kopf und sah Paul an.
Er hatte ihm wehgetan. Es hatte geschmerzt, als er ihn berührt hatte. Er kannte diesen Menschen nicht, aber der Schmerz war ihm vertraut.
Und darum schaute er ihn jetzt ängstlich an und wartete auf Strafe für sein Verhalten oder weitere Anweisungen. Er war bereit, jede von ihnen zu erfüllen.
Paul hätte am liebsten weggesehen, als er in diese Augen sah. Sie lagen tief in den Höhlen und waren angstgeweitet. Den anderen ging es ähnlich.
‚Er hat Angst vor uns, oh Gott, warum hat er nur solche Angst vor uns?’, ging es Till durch den Kopf. Er verstand die Welt nicht mehr und die anderen vier auch nicht. Klar, sie hatten es sich nicht so einfach vorgestellt, wenn sie ihn fanden, aber das...
Richard starrte sie immer noch an. Als keine Anweisung kam, hielt er es für besser, sich zurückzuziehen und stand vorsichtig auf. Seine Freunde sahen ihn erstaunt an.
„Was ist los? Wo willst du denn hin?“
Er hob nicht einmal den Kopf, als er Ollis Stimme vernahm. Seine Bezugsperson war der Mensch, der ihm wehgetan hatte und der schien das Interesse an ihm verloren zu haben. Vorsichtig tastete er sich an der Wand entlang, weg von diesen fremden Menschen.
„Richard bleib hier! Was ist denn auf einmal los?“
Flake war ebenfalls aufgestanden und wollte seinem Freund hinterher. Doch das verstärkte in dem nur noch die Angst und er versuchte, schneller zu laufen. Dadurch geriet er aber ins Stolpern und er fiel der Länge nach hin.
„Richard!“
Sofort waren sie alle fünf bei ihm. Jetzt bekam er erst recht Panik und er rappelte sich hoch. Aufstehen konnte er aber nicht mehr, dazu war sein entkräfteter Körper einfach nicht mehr in der Lage. Also versuchte er auf allen Vieren vorwärts zu kommen, was ihm aber auch nicht gelang. Er begriff, dass er nicht vor ihnen davonlaufen konnte und blieb haltlos zitternd und von trockenen Schluchzern geschüttelt liegen. Tränen hatte er keine mehr, das war ein Luxus, den sich sein ausgezehrter Körper nicht mehr leisten konnte. Aber er brauchte nicht weinen, das taten seine Bandkollegen für ihn. Sie konnten nicht fassen, in was für einem Zustand ihr Freund sich befand.
„Richard, du brauchst nicht weglaufen, wir tun dir doch nichts...“
Paul wusste nicht, ob diese Worte seinen Freund wirklich erreichten, jedenfalls sah er zu ihm auf.
Das war der Mensch, der ihm wehgetan hatte. Er hatte also doch nicht das Interesse an ihm verloren. Er schauderte, gleichzeitig empfand er so etwas, wie Freude oder Glück. Keine richtige Freude und kein richtiges Glück natürlich, das kannte er schon nicht mehr, er wusste einfach nicht mehr, wie sich so etwas anfühlte. Aber ein vages Abbild davon machte sich in seinem Körper breit. Vielleicht gab es doch noch jemanden, der seinen Nutzen aus ihm ziehen konnte. Obwohl diese Vorstellung für ihn geradezu absurd war.
Er setzte sich vorsichtig auf, starrte den Menschen an und wartete.
„Richard? Verstehst du, was ich sage?“
Der Schwarzhaarige wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Er verstand die Worte, aber er verstand nicht ihre Bedeutung. Aber durfte er das sagen? Durfte er überhaupt sprechen? Konnte er überhaupt noch sprechen? Er wusste es nicht. Trotzdem, es war ihm eine direkte Frage gestellt worden und er musste antworten, ob er nun wollte oder nicht. Das war ihm so eingeprügelt worden.
Deshalb schüttelte er langsam, ganz langsam, als würde ihn jede Bewegung unsägliche Kraft kosten, den Kopf. Dann duckte er sich zusammen und erwartete die Schmerzen. Doch es kamen keine. Stattdessen wurde er nur fassungslos angestarrt.
Seine Freunde waren wie vor den Kopf geschlagen. Er verstand sie nicht? Aber er hörte sie doch, oder? Sie alle mussten in dem Moment an das doppeldeutige „Ich versteh euch nicht!“ aus „Ich will“ denken.
Paul setzte wieder an. Sie hatten mitbekommen, dass Richard auf ihn am besten reagierte, ja überhaupt reagierte, auch wenn sie nicht wussten, wieso.
„Richard? Was verstehst du nicht?“
Er schüttelte den Kopf zur Antwort und duckte sich wieder zusammen. Sie wussten nicht, was sie machen sollten. Es tat weh, ihn so zu sehen, sehr weh sogar und sie wussten, dass sie ihn unbedingt hier rausbringen mussten. Es war eiskalt hier drin und Richard war splitternackt und nur noch Haut und Knochen, es war an sich ein Wunder, dass er noch nicht erfroren war. Überall hatte er Verletzungen, einige eiterten, andere waren schon vernarbt und an zwei Stellen hatte sich seine Haut blau-lila verfärbt, dort, wo er sich etwas gebrochen hatte.
Aber wie sollten sie ihm helfen, wenn er so eine Angst vor ihnen hatte, wenn er bei jeder Berührung zusammenzuckte und nicht einmal wirklich verstand, was sie zu ihm sagten?
„Richard?“, versuchte es Paul noch einmal, „Was verstehst du nicht?“
Er hatte alle Mühe seine Stimme ruhig klingen zu lassen, am liebsten hätte er seine Wut auf den Menschen, der seinem Freund das angetan hatte, irgendwo abreagiert, aber er wollte Richard nicht verschrecken. Er wusste nicht, warum der Schwarzhaarige nur auf ihn reagierte und es war ihm auch egal. Er wusste nur, dass er ihn so schnell wie möglich hier rausbringen musste.
Richard hingegen wusste nicht, was er tun sollte. Er verstand irgendwie alles an ihnen nicht, ihre komplette Verhaltensweise verstand er an ihnen nicht. Aber vor allem verstand er nicht, dass sie ständig dieses eine Wort sagten und damit offensichtlich ihn meinten. War das vielleicht ihr Name für ihn? Aber nein, das konnte nicht sein, er war wertlos und Dinge die wertlos waren, brauchten keinen Namen.
Er riss sich zusammen. Dieser eine Mensch vor ihm hatte jetzt schon zweimal die gleiche Frage gestellt und wenn er nicht bald antwortete, würde er wieder getreten und geschlagen werden und das wäre noch das Harmloseste von den Dingen, die sie ihm antun konnten.
Also stellte er nun seinerseits eine Frage: „Waaruum...waruum neennst duu mich soo?“
Dann zuckte er zurück. Das hätte er nicht tun dürfen. Er hatte kein Recht, eine Frage zu stellen oder überhaupt einen Mucks von sich zu geben, wenn er das nicht durfte. Er hatte schon einmal eine Frage gestellt und das hatte in einer riesigen Katastrophe geendet. Und diese Fremden würden wahrscheinlich nicht abhauen, sie waren ja gerade erst gekommen. Sie würden jetzt bestimmt sauer werden und ihn verprügeln. Und sie waren auch noch zu fünft.
Er duckte sich noch mehr zusammen und wartete, doch nichts passierte.
Er sah auf. Sie starrten ihn einfach nur weiterhin an.
Warum kamen keine Schmerzen?
Dass sie ihm nichts taten, überforderte ihn maßlos und er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte.
Seinen Freunden ging es aber nicht anders. Sie waren sehr erschrocken, als sie seine Stimme gehört hatten. Sie klang rau, war eigentlich nur noch ein Flüstern und ihnen fiel auf, dass er die Vokale ziemlich betonte und in die Länge zog.
Paul fasste sich als Erster wieder. „Wie nennen wir dich denn? Richard?“
Der Schwarzhaarige sah ihn einfach nur an, die Angst in seinen Augen war um keinen Deut weniger geworden.
„Riiich?“, versuchte er das, ihm völlig unbekannte Wort, nachzuahmen.
„Ja, Richard, das ist dein Name, verdammt!“
Paul kamen die Tränen.
In Richards Augen spiegelte sich neben der Angst jetzt auch Verwirrung.
„Riichaarrrd“, brachte er mühsam mit kräftig rollendem R, das dem von Till in nichts nachstand, hervor.
„Ja, ja, verdammt, so heißt du!“
Am liebsten hätte Paul das Ganze für einen schlechten Scherz gehalten, aber in Anbetracht der Situation...
„Richaarrd“, murmelte der Schwarzhaarige vor sich hin. „Ist daas mein...Namee?“
Ihnen fiel auf, dass seine Sprache jetzt flüssiger war.
„Ja!“
Das kam von Till, doch Richard beachtete ihn nicht, sondern starrte nur Paul an. Er schien auf eine Bestätigung zu warten. Paul konnte nur nicken.
„Ja...“, flüsterte er dann, „Ja, das ist dein Name.“
Alle fünf fragten sich in dem Moment, was dieser Irre wohl mit ihrem Freund angestellt hatte, dass er nicht einmal mehr seinen Namen wusste. Aber eigentlich wollten sie es gar nicht wissen. Zumindest noch nicht.
Richard schüttelte wieder langsam den Kopf. „Nein...“, sagte er dann leise.
„Was nein?“, fragte Paul, er ahnte Schlimmes.
„Ich habee keinen Nameen. Iich...bin wertloos und wertlose Dinge brauchen keinen...Nameen...“
Das war bis jetzt das längste, was er gesprochen hatte, seit sie ihn gefunden hatten. Und jedes Wort traf seine Freunde wie ein Peitschenhieb. Das war doch nicht zu fassen. Wie sehr musste er gequält worden sein, damit er so etwas glaubte?
„Aber Richard, du bist nicht wertlos, verstehst du mich? Du hast einen Namen und bist nicht wertlos, niemand ist wertlos, klar?“
Doch Richard schüttelte nur langsam und schwermütig den Kopf. Paul hielt es nicht mehr aus, packte ihn bei den Schultern und schüttelte ihn ein wenig.
„Richard! Hör mir zu! Du. Bist. Nicht. Wertlos. Und du hast einen Namen, hörst du?“
In Richards Augen stand die nackte Angst, er zitterte wieder stärker. Dieser Mensch tat ihm weh, sehr weh sogar. Erschrocken über sich selbst ließ Paul von ihm ab.
„Richard, es...“
Ein Wimmern des Schwarzhaarigen unterbrach ihn. „Tu mir nicht weh...“
Er lag zu Pauls Füßen und zitterte immer stärker.
„Tu mir bitte nicht weh, ich bin auch brav, aber bitte tu mir nicht weh, bitte...“
Sie starrten ihn wieder an, unfähig, sich zu rühren. Paul strich ihm mit der Hand sanft über ein winziges Stück heile Haut.
„Nein, wir tun dir nicht weh, niemand wird dir je wieder wehtun, ist doch gut...“
Die Stimme klang beruhigend, doch Richard beruhigte sich überhaupt nicht. Immer wenn er sanfte Stimme gehört hatte, war kurz darauf dieses eine Wort gefolgt. Sanfte Berührungen assoziierte er mit Vergewaltigung, alles andere mit Schmerzen. Er kannte das Gefühl von geliebt werden und sich sicher fühlen nicht mehr, er kannte nur noch Schmerzen und Angst. Und das wollte er nicht mehr.
„Bring mich um...“, flüsterte er deshalb, „Töte mich bittee...“
Einen winzigen schrecklichen Moment lang dachten sie wirklich daran, ihm diesen Wunsch zu erfüllen, denn dann hätte er nicht mehr zu leiden. Aber er währte nicht lange und im nächsten Augenblick hatten sie den Gedanken auch schon wieder vergessen, oder wohl eher verdrängt.
Paul wollte gerade etwas sagen, doch sein Freund kam ihm zuvor.
„Paul?“, flüsterte er. Sofort duckte er sich wieder zusammen.
Den Gedanken ans Sterben hatte er wieder verworfen, da sie ihm den Wunsch nicht erfüllt hatten. War ja auch logisch, er durfte sich nichts wünschen. Aber der Mensch hatte ihm wehgetan, weil er wollte, dass er seinen Namen akzeptierte und so hatte er es getan. Und in dem Moment kamen von irgendwoher aus seinem unter Schmerzen, Einsamkeit und Angst verschütteten Gedächtnis Erinnerungen hervor.
Vage Erinnerungen.
Erinnerungen, die er eigentlich nicht mehr für real hielt.
Erinnerungen, die ihm ausgetrieben worden waren.
Der Angesprochene sah ihn überrascht an. „Du weißt, wie ich heiße?“
Doch Richard reagierte nicht. „Paul...“, flüsterte er wieder vor sich hin, dann sah er zum ersten Mal die anderen vier wirklich an.
„Till...“ Er zeigte auf ihn, der nickte.
„Chrrristoph…”
Auch der nickte ungläubig.
„Flake...“ Wieder ein Nicken, obwohl er sich gar nicht sicher war, dass Richard das auch sah.
„Olli...“ Und noch ein Nicken.
In dem Moment stürzten Bilder auf Richard ein. Bilder von vor sehr langer Zeit, wie es ihm vorkam, dabei waren sie gerade mal ungefähr sechs Wochen her.
Er erinnerte sich an ihre Namen und – er erinnerte sich an seinen Traum.
An seinen ständig wiederkehrenden Traum.
Und auf einmal ergab alles für ihn einen Sinn. Warum sie sich so merkwürdig verhielten, warum sie ihm kaum wehtaten.
Es war nicht real.
Er träumte nur wieder.
Und dabei wollte er doch nie wieder träumen!
Er drehte sich um und fing an, von trockenen Schluchzern geschüttelt, den Kopf gegen die Wand zu schlagen.
Die fünf schnappten entsetzt nach Luft.
„Richard!“, kam es völlig schockiert und lauter als gewollt von Paul. Er fasste ihn an der linken Schulter, also an der gebrochenen, und hielt ihn zurück.
„Was machst du denn da? Hör auf damit!“
Schmerz jagte durch Richards Körper und er sah Paul fiebrig an. Er hatte ihm wehgetan, eine direkte Frage gestellt und eine Anweisung gegeben. Dem konnte er sich nicht widersetzen.
„Ich will aufwachen...“, flüsterte er deswegen nur.
„Aufwachen? Wieso denn aufwachen?“
Paul verstand nicht, was sein Freund damit meinte.
„Ich hab geträumt, dass ihr kommt...“, flüsterte der, „Aber ihr wart nie da...“, jetzt schluchzte er wieder, ohne, dass Tränen kamen, „Ihr wart einfach nie da......und...und dann...“ Seine Augen wurden riesengroß. „Und dann seit ihr gegangen. Ihr seid einfach gegangen. Und nie mehr wiedergekommen...“ Er versuchte wieder, sich von ihnen zu entfernen. „Ich hab keine Freunde mehr. Ich bin wertlos. Niemand braucht mich. Ich bin zu nichts nutze. Ich hab keine Freunde mehr...“ Immer wieder murmelte er diese Litanei vor sich hin.
Seine Bandkollegen wussten nicht, was sie tun sollten. Sie fühlten sich ja auch in gewisser Weise schuldig. Schließlich hatte er ja Recht. Sie waren tatsächlich hier gewesen und dann einfach wieder gegangen. Einfach wieder? Nein, das kam nicht ganz hin, aber sie hatten sich täuschen lassen von diesem kranken Irren, der mit ihnen die ganze Zeit über gespielt hatte.
Paul verdrängte die aufkommende Wut und berührte Richard sacht am Arm.
„Richard? Auch wenn du es nicht glaubst, wir sind real. Und du hast immer noch Freunde. Du hast immer noch Menschen, die dich lieben. Und wir werden nicht wieder weggehen. Wir werden dich mitnehmen, hörst du? Und keiner von uns wird dir mehr wehtun, das verspreche ich dir.“
Richard sah auf. Er hörte nicht die ganzen sanften Worte, er hatte nur die Berührung gespürt.
„Wir werden jetzt von hier verschwinden, ok? Wir werden jetzt hinausgehen durch diese Tür.“ Paul zeigte auf die, noch immer offene, Tür.
Richard sah ihn einfach nur an. Sie wollten hier weg? Nun ja, das hätte er sich ja eigentlich schon denken können, schließlich hatte ihn ja seine Bezugsperson alleine gelassen, aber jetzt fand er den Gedanken beängstigend. Er wollte nicht hier weg. Aber was konnte er schon tun? Sich wehren? Lächerlich! Er hatte doch kaum noch Kraft, um sich auf den Beinen zu halten, wie sollte er sich da gegen die fünf wehren können?
„Kannst du aufstehen?“ Er drehte den Kopf langsam in Tills Richtung. Dann sah er wieder zu Paul. Der sah gleichfalls zurück und wunderte sich, was Richard von ihm wollte. Irgendwie schien er auf etwas zu warten. Paul seufzte. Wenn er doch bloß wüsste, was der andere von ihm wollte. Dann erinnerte er sich blitzartig an das zweite Video, wo Richard verboten wurde zu schreien und er hatte eine Idee, was sein Freund wohl von ihm hören wollte.
„Du darfst mit ihm reden, du darfst mit allen von uns reden, zu jeder Zeit, da macht dir niemand Vorschriften, ok?“
Ein Nicken.
Dann wandte sich der Schwarzhaarige wieder an Till und sagte mit unsicherer Stimme: „Jaa, wenn ich mich an der Wand festhalte...“
Er duckte sich wieder zusammen, er hatte jetzt bestimmt einen Fehler gemacht, doch nichts geschah, außer, dass er eine warme Hand auf seiner kalten Schulter spürte. Er zuckte zusammen, das war einfach ein Reflex.
Till ließ ihn schweren Herzens wieder los und sagte leise: „Du musst dich nicht an der Wand festhalten, du kannst dich auch an uns festhalten...“
Richard sah ihn mit großen verständnislosen Augen an und hatte in dem Moment etwas von einem kleinen Kind, das gerade die Welt erkundet. Dann spürte er wieder eine Berührung und zuckte wieder zusammen. Paul, der seinem Freund die mitgebrachte Decke um die Schultern gelegt hatte, verkniff sich ein Seufzen. Wie lange würde das wohl noch so gehen? Er nahm noch eine zweite Decke und sie wickelten Richard darin ein. Die Rammsteiner hatten beschlossen, endlich die Initiative zu ergreifen. Das Zittern des Schwarzhaarigen verschwand dadurch nicht im geringsten, im Gegenteil – es wurde eher stärker. Trotzdem konnte er sich eines warmen Gefühls nicht erwehren. Es fühlte sich eigentlich ganz gut an, es tat auch kaum weh. Für jemanden wie ihn, der nur noch Schmerzen kannte und keine Erinnerungen mehr an sanfte Berührungen ohne Hintergedanken hatte, war das in der Tat eine ganz neue Erfahrung.
Wieder dieses Zusammenzucken, als er spürte, wie sich ein Arm um seine Schultern legte und ein anderer sich unter seine Beine schob und er vom Boden hochgehoben wurde. Überraschung und Verwirrung zeichnete sich in seinen Augen ab, sogar seine Angst schien ein wenig gewichen zu sein.
Dagegen kam bei Till die Wut erst richtig hoch. Er hatte sich viel vorgestellt, als er Richards geschundenen und ausgezehrten Körper hochhob, dass er sich wehrte zum Beispiel, aber nicht das.
Richard war ganz leicht. Für einen kurzen Moment dachte Till, nichts auf den Armen zu haben, doch das Zittern belehrte ihn eines Besseren. Er sah hinunter und erblickte ein Paar ängstliche riesengroße Augen, die ihrerseits ein wenig interessiert zurückstarrten. Er seufzte.
„Es ist alles gut. Wir bringen dich jetzt ins Krankenhaus. Du brauchst dringend Hilfe...“
‚Und wir auch...’, fügte er in Gedanken hinzu.
Richard wehrte sich nicht, dazu war er eindeutig zu schwach. Überhaupt zeigte er gar keine Reaktion, obwohl es zweifellos schmerzen musste, so getragen zu werden, er schaute einfach nur aus großen ängstlichen Augen zu Till hinauf.
Der versuchte, die Blicke krampfhaft zu ignorieren. Sie machten sich zu ihrem Bus auf. Als sie durch die Tür traten, blendete sie das Licht.
Richard sah neugierig und zum ersten Mal nicht ängstlich auf die Landschaft um ihn herum. Alles war weiß. Er fragte sich, wie alles so weiß sein konnte, aber das tat er nicht lange, er fand es einfach nur schön, sich dieses Weiß anzusehen. Nur undeutlich bekam er mit, dass ständig besorgte und beunruhigte Blicke auf ihm ruhten und selbst wenn er es wirklich mitbekommen hätte, es hätte ihn wahrscheinlich nicht interessiert.
Ihn faszinierte dieses Weiß. So hatte er sich vor langer Zeit eine Welt ohne Schmerzen vorgestellt. Obwohl die schmerzlose Bewusstlosigkeit für ihn immer schwarz war, hatte er sie sich weiß vorgestellt. Die Schwärze und die Dunkelheit waren bedrohlich für ihn, er verband sie mit Einsamkeit und auch mit Schmerzen. Er verband alles mit Schmerzen. Nur dieses Weiß nicht. Schmerzen und Weiß – das passte für ihn einfach nicht zusammen. Diese Überzeugung war eigentlich die einzige, die seine zerstörte Seele noch zusammenhielt. Er wusste, dass es irgendwo eine weiße Welt geben musste. Aber war er es überhaupt wert, dass er in so eine Welt durfte?
Er wusste es nicht. Es war ihm auch egal. Er starrte einfach nur dieses Weiß an. Die Kälte interessierte ihn überhaupt nicht.
Dann jedoch sah er etwas Schwarzes vor sich auftauchen. Es sah wie eine große Kiste aus. Richard wurde unruhig. Das erinnerte ihn zu sehr an die einsamen Tage in völliger Dunkelheit und Orientierungslosigkeit. Er wollte nicht noch einmal dahin zurück.
Seine Freunde bemerkten die wachsende Anspannung des Schwarzhaarigen und Paul strich ihm beruhigend durch die Haare.
„Ist ja gut, keine Angst, das hier nennt man ein Auto...“ Er konnte nicht glauben, dass er Richard das tatsächlich gerade erklärte. „Wir setzen uns da jetzt rein und dann fahren wir ins Krankenhaus. Dort helfen sie dir...“
‚Und uns hoffentlich auch...’, ging es ihm, wie vorher schon Till durch den Kopf.
Richards Blick trübte sich. Täuschten sie sich, oder war er tatsächlich traurig? Angst konnte man ja die ganze Zeit bei ihm ablesen, aber Trauer?
„Richard?“, sprach ihn Till leise an, „Was ist denn los?“
Richard überlegte. Paul hatte ja gesagt, dass er jederzeit und mit allen reden durfte, auch, wenn ihm diese Anweisung ein bisschen seltsam vorkam. Außerdem hatte Till ihm eine direkte Frage gestellt und da musste er doch antworten.
„Ich will nicht in die Dunkelheit...“, flüsterte er deshalb, „Ich will nicht wieder dahin...ich will nicht...“ Wieder wurde er von trockenen Schluchzern geschüttelt.
Seine Freunde ahnten nur am Rande, was er damit meinte. Die schreckliche Wahrheit wollten sie gar nicht erst zulassen. Trotzdem drängte sich bei ihnen die Frage auf: Wie lange hatte er wohl im Dunkeln sitzen müssen? Stunden? Tage?
„Du musst nicht in die Dunkelheit...“, sagte Paul deshalb sanft. „Ein Auto hat auch Fenster, da kommt genug Licht hinein...“
„Feeensteerr?“, wiederholte Richard das ihm unbekannte Wort.
„Ja Fenster.“, sagte Paul und hatte Mühe, dass ihm nicht wieder die Tränen kamen. „Da kann man rausgucken. Du muss nicht wieder ins Dunkle, wenn du nicht willst, hörst du?“
Richard nickte schwach und Olli schloss das Auto auf. Er öffnete die hintere Tür und gemeinsam mit Till verfrachteten sie Richard auf die Rückbank direkt am Fenster.
Erschöpft lehnte sich der Schwarzhaarige gegen die Scheibe und betrachtete wieder neugierig die weiße Welt um ihn herum. Paul hatte Recht: Es war tatsächlich nicht dunkel hier drin. Er hatte ihn nicht angelogen.
Moment! Er hatte ihn nicht angelogen? Vielleicht war er ja wirklich der neue Mensch, dem er vertrauen konnte. Ein warmes Gefühl durchströmte ihn, als sich besagter Gitarrist neben ihn setzte. Wieder war dieses Gefühl nur eine schwache Kopie von echtem Glück oder echter Freude, aber für Richard war es überwältigend...schön. Genauso schön, wie diese weiße Landschaft da draußen. Er zuckte zusammen, als das Auto plötzlich vibrierte und sich dann auch noch bewegte. Urplötzlich war wieder die alte Angst wieder da. Schließlich wusste er ja nicht, was als nächstes geschah und ob er nicht doch noch Strafe zu erwarten hatte. Er war der Panik nahe. Da spürte er auf einmal wieder die sanfte Berührung am Kopf.
Paul hatte mitbekommen, dass es ihm dort anscheinend am wenigsten ausmachte. „Keine Angst, alles ist gut, bleib ruhig. Niemand tut dir was.“
Richard hatte eigentlich keinen Grund, ihm zu glauben. Das war ihm schon so oft gesagt worden und dann...er wollte gar nicht daran denken.
Trotzdem beruhigte er sich etwas, was aber auch an seinem allgemeinen Gesundheitszustand lag. Hustenkrämpfe hatte er schon lange keine mehr, das war, ähnlich wie die Tränen, etwas, wozu er nicht mehr in der Lage war. Er war müde, sehr müde sogar und immer wieder fielen ihm die Augen zu.
„Schlaf ruhig.“, hörte er die leise Stimme Pauls neben sich. „Dir kann nichts mehr geschehen...“
Richard kämpfte mit sich. Eigentlich wollte er diesem Menschen nicht trauen, auf der anderen Seite tat er es wider Willen schon. Außerdem war ihm eine Anweisung gegeben worden, keine direkte zwar, aber wen interessierte das jetzt schon? Er kam ihr zu gerne nach.
Den Kopf an die Scheibe gelehnt, döste er langsam ein.
Die Fahrt verlief beängstigend ruhig. Keiner von ihnen sagte ein Wort, sie waren viel zu sehr damit beschäftigt, das soeben Erlebte zu verarbeiten. Nur Paul tastete hin- und wieder vorsichtig nach Richards Puls und war jedes Mal froh, wenn er ihn auch fand. Er wusste, dass es nicht gut um seinen Freund stand. Es war an sich ein Wunder, dass er überhaupt noch bei Bewusstsein war, als sie ihn fanden. Noch mehr Sorgen machten sie sich aber um seinen Geisteszustand. Er schien sich an nichts mehr zu erinnern, nicht einmal seiner oder ihre Namen schienen ihm irgendetwas zu sagen.
Sie vermuteten, dass er seinen Namen auch nur akzeptierte, weil sie ihm gesagt hatten, dass er das tun sollte. Er hatte so eine Angst vor ihnen. Warum hatte er nur so eine Angst? Wie gerne würden sie das wissen und ihm seine Angst nehmen, doch das konnten sie nicht. Ob er sich wohl je wieder an sich selbst und auch an sie erinnern würde? Und wenn ja, wie lange würde es dauern? Würden sie das überhaupt schaffen? Und was war, wenn er sich nie wieder erinnern konnte? Wenn das Trauma oder was auch immer einfach zu stark war? Was taten sie dann?
Auch das wussten sie nicht. Und diese Unwissenheit machte sie verrückt. Ebenso, wie die Hilflosigkeit angesichts der Situation. Sie hatten einfach nur dagestanden und gestarrt, als sie endlich in der Lage waren, aktiv zu helfen.
Wieder mussten sie mühsam den Gedanken daran verdrängen, dass sie schon vor zwei Wochen Richard hätten da rausholen können. Und dann fielen ihnen wieder seine Worte ein. Sie schwirrten in einer Endlosschleife durch ihre Köpfe:
„Ich hab geträumt, dass ihr kommt. Aber ihr wart nie da, ihr wart einfach nie da...“
Phobos und Deimos
„Sie haben ihn.“
„Wirklich?“
Ein Nicken.
„Und wie...du weißt schon...wie geht es ihm?“
„So wie er aussah, kannst du froh sein, dass er überhaupt noch lebt.“
„Jaja, schon gut.“
„Los, wir fahren nach hause.“
Der Weg zum Krankenhaus wurde zu den längsten Minuten ihres Lebens. Bis auf Till, der das Steuer übernommen hatte, rührte keiner von ihnen auch nur einen Muskel. Nur Richard zuckte hin und wieder zusammen, wenn das Auto über ein Schlagloch fuhr. Selbst im Schlaf beherrschte ihn die Angst vor Schlägen.
Olli hatte es während der Fahrt dann doch irgendwie geschafft, sowohl die Polizei als auch das Krankenhaus zu informieren. Wie er das angestellt und was er genau gesagt hatte – daran konnte er sich selbst nach Monaten nicht mehr erinnern. Zu groß war in diesem Moment der Schock gewesen.
Als sie endlich ankamen, wurden sie bereits von den Ärzten der Notaufnahme erwartet. Und bevor sie sich versahen, hatten dieselbigen ihren Freund schon übernommen und waren mit ihm verschwunden. Zumindest kam es den Rammsteinern so vor, die dies alles wie in einem Traum erlebten. Sie versuchten gerade die Information zu verarbeiten, dass Richard ihnen nun, da sie ihn endlich gefunden hatten, schon wieder weggenommen wurde. Wie erstarrt standen sie mitten auf dem Flur des Krankenhauses, als eine Schwester auf sie zukam und freundlich nach ihren Namen und den persönlichen Daten des neu eingelieferten Patienten fragte. Keiner der fünf reagierte. Sie versuchte es noch einmal und endlich löste sich Till aus der Starre und teilte ihr mit, was sie wissen wollte. Doch so ganz war er nicht bei der Sache. Halbwegs bekam er noch mit, wie die Schwester die fünf freundlich anwies, sich auf die Stühle im Flur zu setzen und zu warten, was sie dann auch taten. Aber bewusst konnte sich keiner von ihnen mehr an die Minuten erinnern, die zwischen Richards Fund und der Wartezeit vor der Notaufnahme lagen. Es war wie ein Filmriss nach einer durchzechten Nacht.
Derweil hatten die Ärzte ganz andere Probleme. Richard war nämlich zwischendurch wieder zu sich gekommen – etwas, das in seinem Zustand eigentlich gar nicht mehr hätte möglich sein dürfen – und um es einfach auszudrücken, war er regelrecht durchgedreht. Der Schwarzhaarige hatte keine Ahnung, wo er sich befand. Er konnte sich daran erinnern, dass ihn fünf Leute aus der Halle geholt und ihn in ein Auto verfrachtet hatten, danach wusste er nichts mehr.
Jetzt war er in einer fremden Umgebung mit noch mehr fremden Menschen aufgewacht, die alle hektisch um ihn herumwuselten und für seine Verhältnisse ohrenbetäubend laut herumbrüllten. Die Tatsache, dass seine Schmerzen sich verstärkt hatten, drang gar nicht zu ihm durch, ihn beschäftigte momentan nur eines: Dass seine neue Bezugsperson ihn offensichtlich auch alleine gelassen hatte und dass er offensichtlich schon wieder etwas falsch gemacht hatte. Er wusste zwar nicht, was das genau war, aber ihm fielen tausend Gründe ein, warum er nun schon wieder einsam war.
Eine Krankenschwester – die gleiche, die auch seine Daten bei den Rammsteinern aufgenommen hatte – bekam mit, dass ihr Patient offensichtlich das Bewusstsein wiedererlangt hatte und sprach ihn freundlich an: „Hallo? Herr Kruspe, können Sie mich hören?“
Er nahm ihre Stimme allerdings nicht wahr, sondern bekam mal wieder Panik. Die Geräte, an die er mittlerweile angeschlossen war, gaben warnende Töne von sich und das machte ihn nur noch panischer. In seiner Verzweiflung, schon wieder allein gelassen zu werden, begann er den Namen der einzigen Person zu flüstern, der er momentan zumindest ein wenig Vertrauen entgegen brachte: „Paul...Paul...komm zurück...bitte...komm zurück...Paul...“
Immer und immer wieder.
Sein leises Flüstern ging in der hektischen und lauten Geräuschkulisse beinahe unter, doch die Schwester hörte ihn. Eilig verließ sie den Raum und trat hinaus auf den Flur, wo sie die fünf Männer in genau der gleichen Körperhaltung wiederfand, in der sie sie verlassen hatte. Leicht irritiert und nicht wirklich eine Antwort erwartend fragte sie nun: „Entschuldigung, aber wer von Ihnen war noch einmal Paul?“
Angesprochener ruckte mit dem Kopf nach oben. „Ich...“, meinte er leise und seine raue Stimme erinnerte die Frau an ihren Patienten auf der anderen Seite der Tür. Sie bekam eine Gänsehaut.
„Warum?“, hörte sie die Stimme gleich darauf erneut.
„Nun, Herr Kruspe fragt nach Ihnen und...naja...“
Sie suchte krampfhaft nach den richtigen Worten, um den Zustand ihres Patienten zu beschreiben. Doch das brauchte sie gar nicht, denn Paul stand auf einmal vor ihr und sah sie fordernd an. Und gleichzeitig bemerkte sie, dass auch die anderen vier sie anscheinend mit ihren Blicken geradezu durchbohren wollten.
„Kommen Sie mit.“, meinte sie deshalb nur und Paul folgte ihr wortlos.
Im Nachhinein wunderte er sich, dass ihm das Bild, das er in der Notaufnahme zu sehen bekam, nicht noch einen Schock versetzt hatte, doch in diesem Moment nahm er es wohl nicht für voll. Sein einziger Blick galt Richard, der mit panisch geweiteten Augen orientierungslos den Raum absuchte. Es waren die gleichen ängstlichen Augen vor denen die Rammsteiner vor nicht allzu langer Zeit zurückgewichen waren. Doch dieses Mal schob sich der Gitarrist wortlos an all den Leuten vorbei, ging neben dem Kopf seines Freundes in die Hocke und sprach ihn leise an: „Richard? Hörst du mich? Ich bin hier. Es ist alles gut, keine Angst.“
Sofort wurde er von einem panischen Blick fixiert und dann bekam er eine Antwort, mit der er nicht mal in seinem schlimmsten Albtraum gerechnet hätte.
„Strafe?“, fragte Richard nämlich leise. Ganz leise, es war kaum zu hören, doch Paul verstand es und es lief ihm eiskalt den Rücken hinunter.
„Was...hast du gesagt?“, fragte er dann fassungslos. Er begriff nicht, was sein Freund damit meinte und doch – irgendwo hatte er unterbewusst schon längst begriffen, was sein bewusster Verstand sich gerade mühsam zusammenreimte.
„Wie meinst du das?“ Vorsichtig hob Paul die Hand und strich Richard sanft über die ungebrochene Schulter, doch in dem Moment legte einer der Ärzte dem Schwarzhaarigen eine Infusion. Dieser zuckte zusammen und sah Paul mit ängstlichen Augen an. Und wenn man den Geräten Glauben schenken wollte, so beschleunigte sich der Herzschlag des Gitarristen drastisch.
Er hatte nämlich den neuerlichen Schmerz mit der Berührung seiner Bezugsperson verbunden, was ihm zunächst Angst machte, aber dann sehr schnell beruhigte. Die leise Andeutung eines Lächelns machte sich auf seinen aufgesprungenen Lippen breit.
„Strafe...“, murmelte er dann und es klang tatsächlich erleichtert. Und so schnell wie die Panik gekommen war, verflog sie wieder. Richard blinzelte noch einmal, ehe sich seine Augen endgültig schlossen und er in einen tiefen Schlaf fiel. Dies hatte verblüfftes Innehalten sämtlicher anwesenden Personen im Raum zur Folge. Keiner konnte so recht glauben, dass ihr Patient, der eben noch kurz vor dem Kreislaufkollaps gestanden hatte, nun friedlich zu schlafen schien.
Auch Paul war wie gelähmt. Blitzartig hatte die schreckliche Erkenntnis, was dieser Psycho mit Richard angestellt haben musste, sein Gehirn geflutet und nun stand er mal wieder am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Die freundliche, aber bestimmte Aufforderung, die Notaufnahme nun wieder zu verlassen, bekam er überhaupt nicht mehr mit. Er ließ sich mehr auf den Flur zurück schieben, als dass er selber lief und wurde dort von den restlichen Rammsteinern in Empfang genommen.
„Paul? Was ist passiert? Geht es Richard gut? Rede mit uns!“
Till sprach energisch auf den Kleineren ein, doch der reagierte nicht. Mit leeren Augen starrte er einen imaginären Punkt auf der Wand an und Olli bekam ein unschönes Déjá-vu. Das Verhalten des Gitarristen erinnerte ihn an den Tag vor einigen Wochen als er ihn auf der Straße fand und sie sich kurz darauf ein weiteres Mal ansehen mussten, wie ihr Freund brutal gefoltert wurde und schließlich sogar in dem Glauben gelassen wurden, dass er die Folter nicht überlebt hatte.
Olli schüttelte traurig den Kopf, dann fing auch er an, auf seinen Bandkollegen einzureden: „Paul, bitte sag etwas. Irgendwas. Aber rede mit uns. Bitte.“
Auch diese Litanei kam dem Bassisten bekannt vor. Es waren die selben Worte, mit denen er auch schon an dem besagten Tag versucht hatte, zu Paul durchzudringen, damals erfolglos.
Dieses Mal schien es jedoch zu funktionieren, denn der leere Blick wurde ein wenig klarer und dann hörten sie ein fassungsloses Flüstern: „Er hat ihn auf Schmerzen getrimmt. Ich glaubs nicht. Dieser verdammte Schweinehund hat Richard auf Schmerzen getrimmt!“
„Wie bitte?!“
So ziemlich gleichzeitig kam dieser Ausruf von den anderen vieren.
„Bist du dir da sicher?“, hakte Till noch einmal nach.
„Hundertprozentig. Gerade als ich...da drinnen war, da hat...Richard hatte wohl Panik. Ich bin zu ihm gegangen und hab ihn angesprochen und er hat mich auch wiedererkannt. Und...und dann hat er mich gefragt, ob er jetzt bestraft wird. Ich...ich wusste nicht, was er meinte und hab ihn gefragt und dabei hab ich ihn berührt. In dem Moment hat er aber eine Infusion bekommen und sich total erschrocken. Erst hatte er noch mehr Angst und irgendeiner von den Ärzten hat was von Kreislaufkollaps erzählt und auf einmal...da ist er ganz ruhig geworden und hat ganz...ganz erleichtert wieder was von ‚Strafe’ gemurmelt. Und dann...dann ist er einfach eingeschlafen und wisst ihr was? Er hat gelächelt. Er hat verdammt noch mal gelächelt, als würde er sich freuen, endlich wieder etwas Vertrautes zu erleben. Scheiße, verdammte, er hat sich gefreut, dass ihm wehgetan wurde und dieser Umstand aus seiner Sicht von mir ausging!“
Paul atmete tief durch. Er wunderte sich, dass ihm nicht die Tränen kamen, aber er konnte in diesem Moment einfach nicht weinen. Zum wiederholten Male fragte er sich, was wohl außerhalb der Videos gelaufen war und er konnte und wollte sich nicht mal im Entferntesten ausmalen, was Richard alles durchgemacht haben musste, dass er sich jetzt in diesem Zustand befand.
Den anderen Rammsteinern ging es ähnlich. Wieder einmal waren ihre schlimmsten Albträume, auf den Zustand ihres Freundes bezogen, übertroffen worden. Sie wussten ja schon, dass er psychisch mehr als am Ende zu sein schien, denn warum sollte er sonst ihre Namen und sein vorheriges Leben vergessen? Aber das...
Während Till, Olli, Flake und Schneider noch an dieser Information zu knabbern hatten, dachte Paul bereits einen Schritt weiter und begann die Zusammenhänge zu begreifen. Seine nachdenkliche und immer noch fassungslose Stimme schreckte die anderen schließlich aus den Gedanken: „Deshalb hat Richard auch nur auf mich reagiert. Erinnert ihr euch? Als wir ihn gefunden haben, da hab ich ihn angefasst und damit wohl wehgetan. Und weil ich ihm Schmerzen zugefügt hab, hat er mich wohl als jemand neuen...als einen neuen Psycho betrachtet...weil...weil der andere ja weg war und...ach du Scheiße...“
Paul fehlten plötzlich die Worte, als er sich der Tragweite seiner Erkenntnis bewusst wurde. Die anderen starrten ihn fassungslos an.
„Nein. Nein, das ist nicht wahr...“, meinte Till leise. „Du bist bestimmt nicht so ein...ein Monster, ich mein – das war doch keine Absicht. Und selbst, wenn Richard das jetzt so empfindet – wir wissen doch, dass du ihm niemals so etwas antun würdest. Und du weißt das auch, oder? Paul? Du weißt das doch?“
Der Kleinere sagte nichts, sondern sah ihn einfach nur an. Und endlich kamen die Tränen. Bevor einer von ihnen reagieren konnte, war der Gitarrist auf die Knie gefallen und begann bitterlich zu weinen. Es tat ihm in der Seele weh, dass Richard ausgerechnet von ihm neue Schmerzen, neues Leid erwartete. Und er wusste, dass er recht mit seinen Vermutungen hatte. Er spürte es einfach. Was er allerdings zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen konnte, war, dass Richard ihm einige Wochen später eben diese Vermutungen als Tatsachen bestätigen würde.
Er spürte, wie ihm jemand sanft auf die Beine half und auf einem Stuhl absetzte. Dann hatte er auf einmal einen kleinen Becher in der Hand. Irgendjemand erzählte etwas von Beruhigungsmittel und er schluckte dieses ohne zu fragen oder aufzusehen. Nach einiger Zeit bemerkte er auch, dass das Medikament anschlug und Geräusche und Gerüche wieder zu ihm durchdrangen. Er sah auf und durfte feststellen, dass die anderen vor ihm standen und ihn erwartungsvoll ansahen.
„Geht’s wieder?“, fragte ihn Olli behutsam und bekam ein leichtes Nicken zur Antwort.
„Gut, dann können wir ja jetzt gehen.“, meinte Till daraufhin.
„Gehen? Wohin denn?“, fragte Paul nun verwundert.
„Zur Intensivstation.“, erteilte ihm der Sänger die gewünschte Auskunft. „Sie haben Richard dahin gebracht und die Schwester meinte, wir sollten da warten.“
„Ach so...ok..“
Der Gitarrist klang nun wieder sehr bedrückt, doch dann gab er sich einen Ruck und stand auf.
„Gut. Gehen wir.“, meinte er dann noch und setzte sich in Bewegung. Seine Bandkollegen liefen ihm mit besorgten Blicken hinterher. Paul hatte soeben seinen zweiten Nervenzusammenbruch erlitten und auch wenn die Gründe dafür mehr als nachvollziehbar waren, so hofften sie doch allesamt, dass er sich bald wieder einigermaßen fangen würde, denn sonst hätten sie noch ein Sorgenkind, um das sie sich Gedanken machen mussten.
Einige Minuten später ließen sich die fünf auf diesen typischen Krankenhausstühlen nieder und taten dann das, worin sie in den letzten Wochen verdammt viel Übung gewonnen hatten:
Sie warteten.
Und das taten sie lange. Zumindest kamen ihnen die folgenden Stunden wie eine kleine Ewigkeit vor. Irgendwann hatte Till begonnen, nervös den Gang auf und ab zu tigern, während Schneider, in Ermangelung seiner Sticks, die Hände benutzte, um mehr oder weniger rhythmisch auf seine Oberschenkel einzuklopfen. Olli war nach einiger Zeit aufgestanden und hatte Kaffee für alle besorgt, jetzt lehnte er an der Wand die Augen geschlossen. Paul starrte die ganze Zeit den Boden an und mittlerweile hatte sich das Muster von selbigen tief in seinem Hirn eingebrannt. Flake hingegen schien fest entschlossen, die Wand mit seinen Blicken zu durchlöchern, zumindest hielt er seine Augen starr auf diese gerichtet und nur Tills Auf und Ab brachte eine gleichförmige Abwechslung in sein Sichtfeld. Doch keiner der fünf bekam diese Aktionen wirklich mit, sie waren viel zu sehr mit ihren Gedanken beschäftigt.
Da waren zunächst einmal die Bilder, die sich ihnen immer wieder aufdrängten. Angefangen bei den Videos bis hin zu Richards Anblick als sie ihn endlich fanden. Niemals würden sie seinen panischen Blick und seinen geschundenen Körper vergessen. Dann die Tatsache, dass ein Schock auf den anderen seit seinem Fund gefolgt war. Dass er anscheinend alles vergessen hatte. Dass er sich für wertlos hielt. Dass er nur noch auf Schmerzen reagierte und für jedes „falsche“ Verhalten Strafe erwartete. Und die Tatsache, dass er in Paul offensichtlich seinen neuen Peiniger sah. Und dann fiel ihnen noch etwas ganz anderes ein. Es war ein Satz, den der Psycho im vierten Video von sich gegeben hatte und der Richard erschauern ließ und ihm anscheinend mehr Angst einjagte als alles andere zusammen.
„Und lass dir gesagt sein, du fühlst dich wirklich gut an...und du bist auch so unglaublich niedlich...“
Schon damals hatten sie sich gefragt, ob dieser Psycho tatsächlich so weit gehen würde oder zu diesem Zeitpunkt bereits so weit gegangen war. Und nun taten sie es wieder. Doch eigentlich wussten sie schon die Antwort darauf. Dass Richard bei jeder Berührung zusammenzuckte, rührte sicherlich nicht nur von den Schlägen und der Folter, die er hatte einstecken müssen. Und trotzdem war da noch die leise Hoffnung, dass sie sich vielleicht irrten und das Ganze falsch interpretiert hatten. Doch dieser leise Funke sollte gleich ausgelöscht werden, denn just in dem Augenblick, als sie alle mehr oder weniger gleichzeitig bei diesem Gedanken angelangt waren, bog Richards behandelnder Arzt um die Ecke, den nächsten Schock mit sich bringend.
Sie sahen erwartungsvoll auf, als sie die Schritte vernahmen. Und da der etwas ältere Herr im weißen Kittel direkt auf sie zuhielt, sprangen sie allesamt(mal von Till und Olli abgesehen) dann auch wie von der Tarantel gestochen auf und liefen ungeduldig auf ihn zu.
„Einen schönen guten Abend.“, meinte der Mann zur Begrüßung, woraufhin Till nur knurrte: „Ich weiß wirklich nicht, was an diesem Abend ‚schön’ oder ‚gut’ sein soll.“
Sein Gegenüber ignorierte die bissige Bemerkung und stellte sich erst einmal vor: „Mein Name ist Dr. Manfred Emmerlich. Sind Sie die Familie von Herrn Kruspe?“
Till, dem es ja mal so gar nicht passte, dass sein Todesblick den Arzt nicht einschüchtern konnte, erwiderte gefährlich leise: „Seine Bandkollegen. Und besten Freunde. Von daher kann man das schon als ‚Familie’ bezeichnen. Wir haben ihn gefunden.“
Die Drohung „Und wenn Sie uns jetzt nicht sofort sagen, wie es Richard geht, dann werden Sie ihr blaues Wunder erleben!“ hing unausgesprochen in der Luft. Olli und Schneider hielten es für besser, etwas näher an den wütenden Sänger heran zu treten, für den Fall, dass der austicken würde. Sie könnten es ihm zwar nicht verübeln, trotzdem musste so etwas ja nicht sein. Paul und Flake fragten sich derweil, wie man in so einer Situation auch nur ansatzweise so etwas wie gute Laune verbreiten konnte.
„Ach so ist das. Nun ja, wie Sie sicherlich wissen, dürfte ich Ihnen eigentlich nichts über Herrn Kruspes Zustand sagen...“
(„Grrr...“)
Till ließ ein wütendes Knurren verlauten und auch die Blicke der anderen sprachen Bände.
„...aber da Sie ihn gefunden haben, kann ich mal eine Ausnahme machen...“, meinte der Arzt jetzt etwas kleinlauter.
„Wie geht es ihm?“, fragte Till, der sich wieder artikulieren konnte, jetzt ungeduldig.
„Nun ja...den Umständen entsprechend...“
„Was heißt?“
Tills Gegenüber wurde plötzlich ernst: „Er ist extrem dehydriert und unterernährt. Zahlreiche Schnittverletzungen, die mehr oder weniger gut abheilen. Eine ziemlich großflächige Brandverletzung. Ihr Freund muss auf jeden Fall irgendwie versorgt worden sein, da wir keine Entzündung feststellen konnten, was an sich ein kleines Wunder ist.“
Der Arzt hatte ein Klemmbrett hervorgezogen und las die Notizen darauf ab.
„Der Rücken war bis vor kurzem komplett offen, sieht so aus, als hätte er sich selbst blutig gescheuert.“
„Wieso hätte Richard das denn tun sollen?“, warf Till dazwischen.
„Wir können nur spekulieren. Wahrscheinlich der Wundjuckreiz. Wir haben auch zahlreiche Bisswunden festgestellt, die er sich offensichtlich selbst zugefügt hat, warum auch immer. Sämtliche Fingernägel sind ausgerissen, ob die noch einmal nachwachsen, bleibt abzuwarten. Mal sehen, was noch...“
Er blätterte um und begann die zweite Seite abzulesen.
„Vier gebrochene Rippen der rechten Seite, ein Wunder, dass keine Organe verletzt wurden. Außerdem ein Riss im linken Schulterblatt, der sich anscheinend über einen längeren Zeitraum verbreitert hat. Und eine nicht auskurierte Lungenentzündung.“
Die Rammsteiner fühlten sich mal wieder wie gelähmt. Die nüchternen Worte hatten erneut die Videos heraufbeschworen, von ernst zu nehmenden Mordgelüsten ganz zu schweigen.
„Von diesen offensichtlichen Verletzungen abgesehen, scheint Ihr Freund regelmäßig verprügelt worden zu sein, denn selbst im Zustand der Bewusstlosigkeit ist er bei jeder Berührung zusammengezuckt, was theoretisch gar nicht möglich sein dürfte und dann ist da noch was...“
„Was denn noch?“, murmelte Till tonlos.
„Nun ja...wie soll ich es sagen...wir haben entsprechende Verletzungen gefunden, bei denen man mit Sicherheit sagen kann, dass Ihr Freund vergewaltigt wurde. Mehrmals. Und ziemlich...brutal...“
„Also doch...“, meinte Schneider resigniert.
„Wie bitte?“, hakte der Arzt irritiert nach.
„Dieser Bastard, der für das alles verantwortlich ist, hat mal so eine Andeutung gemacht.“, präzisierte der Drummer und sah dem Weißkittel herausfordernd in die Augen, was so viel bedeutete wie: „Na los. Drück schon nen blöden Spruch ab, wenn du dich traust. Ich würde dir allerdings empfehlen, die Klappe zu halten.“
Sein Gegenüber schien zu verstehen und hob leicht abwehrend die Hände.
„Ah, gut...oder nein, nicht gut...jedenfalls...wo war ich?“
„Können wir zu ihm?“, fragte Till, dem das Gestotter gerade mehr auf die Nerven ging als die krampfhafte Nettigkeit oder trockene Nüchternheit der letzten Minuten.
„Was? Oh ja, aber nicht zu lange. Und falls Herr Kruspe wach sein sollte, regen Sie ihn bitte nicht zu sehr auf.“
„Er schläft nicht?“, hakte Till etwas irritiert nach.
„Das weiß ich momentan nicht. Wir können ihm keine allzu starken Schmerz – oder Schlafmittel geben, das würde sein Körper noch nicht verkraften. Ich sage es Ihnen so, wie es ist: Hätten Sie Ihren Freund nur ein paar Stunden später gefunden, dann hätten wir nichts mehr tun können.“
Die Rammsteiner waren sprachlos. Doch der erwartete Schock blieb aus. Sie wussten, dass es verdammt knapp gewesen war und eigentlich hatten sie die ganze Zeit auf diese Bestätigung gewartet. Damit ging es ihnen zwar nicht besser, aber auch nicht schlechter.
Sie setzten sich wortlos in Bewegung, als sich der Arzt mit einem „Kommen Sie, ich zeige Ihnen den Weg.“ wortlos zum Gehen wandte.
Es war warm als er erwachte. Und es war hell. Er versuchte die Augen zu öffnen, doch es wollte ihm nicht so wirklich gelingen. Irgendwie kam ihm die Situation vertraut vor, aber woher? Und warum hatte er das Gefühl als würde etwas ganz Wichtiges fehlen?
Er überlegte. Was war denn anders als sonst? Richard kam einfach nicht drauf. Er bewegte sich ein wenig und erst da fiel ihm auf, was so anders war: Er hatte keine Schmerzen! Das war tatsächlich außergewöhnlich. Wo er doch den Großteil der letzten sechs Wochen fast nichts anderes mehr empfunden hatte. Schmerzen und Angst. Sie waren seine Dauerbegleiter gewesen. Und jetzt...
Zudem er nun bemerkte, dass er in einem Bett lag, was ihm auch irgendwie bekannt vorkam und – Moment! Er lag in einem Bett? Und das, ohne, dass er die Erlaubnis dazu hatte? Aber das ging doch nicht!
Richard fuhr hoch, ignorierte den einsetzenden Schwindel, schlug die Augen auf und sah sich gehetzt um. Und jetzt setzte zumindest wieder die Angst ein. Denn er befand sich schon wieder in einer fremden Umgebung und er war, mal wieder, völlig allein. Seine Bezugsperson hatte ihn schon wieder verlassen, aber bevor er wegdriftete, hatte er sie doch noch gesehen, oder? Natürlich hatte er das, denn er war doch bestraft worden. Für irgendwas und gar nichts, denn ihm fielen eine ganze Menge Gründe für Strafe ein, so dass er sich für keinen speziellen entscheiden konnte. Dass er unerlaubt eine Frage gestellt hatte, zum Beispiel. Oder dass er zu schwach zum Aufstehen gewesen war, als seine neue Bezugsperson ihn in der Halle gefunden hatte. Er überlegte kurz, dann fiel ihm der Name ein. Paul. Nach und nach fanden auch die anderen Namen den Weg in sein Gehirn und dann erinnerte er sich schlagartig daran, dass er ja angeblich auch einen Namen hatte. Richard. Das verstand er immer noch nicht. Er war doch wertlos, wozu brauchte er dann einen Namen? Zumal ihm dieser Name überhaupt nichts sagte. Er fand keine Erinnerung, in der er diesen Namen mit sich selbst in Verbindung bringen konnte. Aber Paul wollte, dass er diesen Namen akzeptierte und er würde lieber sterben, als sich diesem Befehl zu widersetzen. Was ihn erneut darauf brachte, dass er ja alleine war, zumindest konnte er in dem Raum niemanden sonst ausmachen. Ängstlich sah er sich genauer um. Es standen verschiedene Geräte um sein Bett herum, von denen einige laute und nervige Geräusche machten, was für seine mittlerweile sehr feinen Ohren schon genug Folter bedeutete. Aber mal abgesehen davon konnte er nicht viel ausmachen, denn das, was er anfangs für Helligkeit gehalten hatte, stellte sich nun als schummriges Dämmerlicht heraus. Er begann zu zittern. Nicht vor Kälte, aber vor Angst, die ihn nun wieder vollständig beherrschte. Plötzlich zuckte er zusammen. Er hatte schwere Schritte gehört, die immer näher kamen und die ihn an die Situation vor ein paar Stunden in der Halle erinnerten. Fast schon panisch suchte er nach einer Versteckmöglichkeit, als er meinte, Pauls Stimme zu erkennen. Er beruhigte sich ein wenig und lauschte erwartungsvoll. Die Schritte erstarben und dann öffnete sich auf einmal die Zimmertür, die er bis jetzt noch gar nicht bemerkt hatte.
Bleib bei mir...
„Hier ist es also?“, fragte Paul leise und
sah den Arzt abwartend an. Der nickte nur und meinte noch: „Sie haben eine
Stunde. Ihr Freund benötigt dringend Ruhe. Und regen Sie ihn bitte nicht auf,
das wäre das Letzte, was er jetzt brauchen könnte.“ Damit wandte er sich zum
Gehen.
„Es wäre auch das Letzte, was wir ihm antun
würden.“, knurrte Till ihm wütend hinterher. Er mochte den Typen nicht
sonderlich und fragte sich, wie man so gefühlskalt sein konnte. Vermutlich sah
der Weißkittel Richard nur als einen weiteren Job an. Als einer von vielen. Ein
wütendes Schnaufen des Sängers kommentierte seine Gedanken.
„Till, komm wieder runter. Wenn wir jetzt da
rein wollen, solltest du deine Aggressionen nicht an Richard auslassen. Er hat
sowieso schon genug Angst vor uns.“, meinte Schneider leicht aufgebracht.
„Als ob ich das nicht selber wüsste!“, fuhr
der Sänger ihn an.
„Boah, beruhigt euch! Alle beide! Sonst
bleibt ihr draußen!“, ging Paul leise dazwischen. Die beiden Streithähne sahen
ihn irritiert an, dann folgte ein synchrones Nicken.
„Gut.“, meinte der Gitarrist daraufhin nur
und öffnete vorsichtig die Tür. Er verstand ja, dass sich die Anspannung der
letzten Wochen, die Erleichterung über Richards Fund und die gleichzeitige Wut
auf diesen Psycho irgendwo entladen mussten – ihm ging es ja selbst nicht
anders – aber es gab keinen unpassenderen Augenblick als jetzt dafür. Sie
konnten es sich absolut nicht leisten, Richard noch mehr zu verschrecken und
ihn noch ängstlicher zu machen, als er es ohnehin schon war.
Die Tür öffnete sich und als er erkannte, wer
davor stand, zeichnete sich auf seinem Gesicht so etwas wie ein freudiger
Ausdruck ab. Selbst das Zittern ließ etwas nach, schließlich war Richard jetzt
nicht mehr alleine. Er versuchte die Angst, vor erneuter Strafe in den
Hintergrund zu drängen, was ihm auch leidlich gelang.
Paul und die anderen betraten vorsichtig das
Zimmer, immer bedacht darauf, keine allzu hektischen Bewegungen zu machen. Es
wunderte sie schon ein wenig, Richard im Bett sitzend vorzufinden. Gleichzeitig
versetzte es ihnen einen Stich als sie sahen, dass er vor Angst zitterte. Wann
hatte er das eigentlich einmal nicht getan, seit sie ihn gefunden hatten? Oder
in den Videos. Er hatte immer gezittert, sei es nun vor Angst, Kälte oder
Schmerzen gewesen. Meist traf sogar alles zusammen zu. Im Moment wünschten sie
sich nichts mehr, als dass er einfach ganz ruhig dasitzen und sie ansehen
würde, ohne diesen ängstlichen und irgendwie auch traurig – verletzten Ausdruck
in den Augen.
Langsam kamen sie näher und zu ihrer
Überraschung verstärkte sich das Zittern nicht. Richards Blick war rasend
schnell von einen zum anderen gehuscht und dann starr auf seiner Bezugsperson
hängen geblieben. Paul seufzte innerlich, als er das bemerkte und sprach ihn
dann ruhig an: „Richard? Erinnerst du dich an uns?“
Langsam nickte der Schwarzhaarige, was
erleichtertes Aufatmen der anderen fünf zur Folge hatte. Leise nahmen sie sich
Stühle und setzten sich an sein Bett.
„Wie fühlst du dich? Hast du Schmerzen?“, fragte
Paul weiter und Richard schien tatsächlich zu überlegen. Dann schüttelte er
nachdenklich den Kopf. Er wollte eigentlich gern noch etwas hinzufügen, aber
durfte er einfach sprechen? Und wenn er dann wieder bestraft wurde? Wie sollte
das überhaupt gehen, momentan konnte er schließlich keine Schmerzen empfinden,
zumindest war das seine Vermutung. Ihm fiel plötzlich eine Erinnerung ein.
Seine neue Bezugsperson, nein Paul, korrigierte er sich gedanklich, hatte doch
gesagt, dass er immer reden durfte. Mit jedem von ihnen. Ob das auch stimmte?
Oder hatte er sich das nur eingebildet?
Er beschloss, es auf einen Versuch ankommen
zu lassen. Woher er diesen Mut nahm, wusste er nicht, vielleicht lag es ja
wirklich daran, dass er momentan keine Angst vor neuerlichen Schmerzen haben
musste. Zumindest vor keinen physischen. Vor psychischen musste er schließlich
immer Angst haben.
Seine neue Bezugsperson
(‚Paul...’)
konnte schließlich jederzeit wieder gehen.
Und er wusste, dass er das nicht aushalten würde. Zumindest vorerst nicht.
Allerdings war es auch dieser Fakt, der ihn dann doch wieder innehalten ließ,
als er bemerkte, dass er gerade im Begriff war, schon wieder eine Frage zu
stellen. Zu gut erinnerte er sich daran, was passiert war, als er seiner
letzten Bezugsperson eine Frage gestellt hatte. Auf der anderen Seite brannten
ihm so einige Fragen unter den nicht mehr vorhandenen Nägeln und so hatte er
wieder einmal überhaupt keine Ahnung, wie er denn mit der Situation umgehen
sollte. Er schloss die Augen und schüttelte immer wieder den Kopf, wie, als
würde er damit Ordnung in seine verwirrten Gedanken bringen wollen. Als ob es
auch nur eine geringe Chance gäbe, dass das tatsächlich funktionieren würde.
Die restlichen Rammsteiner waren leicht
irritiert von Richards Verhalten. Gut, einmal Kopfschütteln als Antwort auf
Pauls Frage verstanden sie ja noch, aber das? Richard schien ziemlich verwirrt
zu sein, kein Wunder in dieser Situation. Das waren sie selber aber auch. Sie
hatten – wie so oft in den letzten Wochen – überhaupt keine Ahnung, wie sie mit
der ganzen Sache umgehen sollten. Logisch, schließlich hatten sie bis dato noch
nie in so einem Schlamassel gesteckt oder auch nur daran gedacht, dass sie
jemals so knietief in der Scheiße stecken würden. Theoretisch hätten sie
allesamt erst mal ein paar Tage oder eher Wochen gebraucht, um wieder mit sich
selbst ins Reine zu kommen, doch sie wussten ganz genau, dass das nicht so ohne
Weiteres ging. Und der Grund saß gerade vor ihnen und brauchte viel dringender
Hilfe als sie.
Sie mussten also irgendwie versuchen mit der
Sache klarzukommen, sich vorsichtig rantasten und irgendwie stark bleiben.
Zumindest wenn Richard in der Nähe war, denn der machte gerade überhaupt nicht
den Eindruck, als könnte er auch nur ansatzweise stark sein.
Paul seufzte lautlos, dann entschied er sich,
etwas auszuprobieren. Leise räusperte er sich, was Richard dazu brachte,
schlagartig das Kopfschütteln einzustellen und Paul mit großen Augen anzusehen.
Der streckte langsam, fast in Zeitlupe, damit Richard sich nicht erschrak, die
Hand aus und begann den Schwarzhaarigen sachte am Arm zu streicheln. Der zuckte
zunächst zusammen, doch Paul ließ sich nicht beirren und machte weiter. Er
wollte wissen, wie weit er gehen konnte und Richard irgendwo auch an sanfte
Berührungen ohne jegliche Hintergedanken heranführen.
Nach einigen bangen Sekunden, entspannte
Richard sich auch zusehends und fing auch tatsächlich an, die Berührungen zu
genießen. Gleichzeitig hatte er allerdings wieder Angst. Angst, dass gleich
dieses eine Wort folgen würde. Er war sich sicher, dass er das erst wieder
durchhalten würde, wenn er ein paar Stunden geschlafen hätte. Allerdings wusste
er auch, dass er sich würde fügen müssen, sollte dieses eine Wort doch kommen.
Aber verdammt, er wollte nicht. Sein Zittern wurde wieder heftiger und der
ängstliche Ausdruck in seinen Augen verstärkte sich.
Das bemerkten nun auch die Rammsteiner.
„Paul, hör auf, du machst ihm Angst.“, meinte
Till deshalb leise und ziemlich besorgt zu dem kleineren Gitarristen. Doch der
schüttelte nur sachte den Kopf und hob kurz die Hand, als die anderen vier
Einsprüche erheben wollten. Dann wandte er seine volle Aufmerksamkeit wieder
seinem Sorgenkind zu: „Richard?“
Angesprochener zuckte wieder zusammen, in
seinen Ohren rauschte es mittlerweile, er hatte schreckliche Angst vor dem
Kommenden. Mittlerweile hatte er sich zwar daran gewöhnt, aber wie gesagt: Er
wusste, dass er es körperlich nicht durchhalten würde und das würde dann
bestimmt eine schwere Strafe geben. Schließlich hatte seine neue Bezugs... Paul
ja von Anfang an deutlich gemacht, dass er kein Problem hatte zu strafen.
Trotzdem nickte er jetzt, wusste er doch, dass er deutlich zu machen hatte,
dass er seinen vermeintlichen Peiniger hörte.
Paul ahnte, was in Richard vorging und es
kostete ihn alle Mühe, seine Stimme immer noch ruhig und sanft klingen zu
lassen und auch das kleinste Zittern aus ihr zu verbannen.
„Leg dich hin, bitte.“
Richard schloss kurz die Augen und verkniff
sich die Tränen. Zwar hatte seine Bezugs...
– ‚Paul, verdammt noch mal, merk dir das
endlich, du wertloses Stück Dreck!’ –
nicht dieses eine Wort gesagt, doch Richard
war sich sicher, dass es bald kommen würde. Oder Schläge. Oder Befehle. Oder
doch wieder Schmerzen. Irgendwas eben, was ihm sicher nicht gefallen würde. Das
„bitte“ hatte er komplett überhört, allerdings tat er jetzt, was ihm „befohlen“
worden war. Er legte sich angespannt hin und sein Zittern wurde kaum weniger,
eben weil Paul nicht aufhörte, ihn sanft zu streicheln.
„Gut gemacht.“, meinte der jetzt lächelnd und
Richard sah ihn mit einem dermaßen überraschten Gesichtsausdruck an, dass Paul
hätte lachen wollen, wenn die Situation nicht so traurig gewesen wäre.
„Wie...bitte?“, fragte der Schwarzhaarige
leise, zuckte jedoch sofort wieder zusammen. Die Worte waren einfach so aus
seinem Mund gekommen. Paul lächelte immer noch.
„Ich habe gesagt ‚Gut gemacht’ und das nennt
man ein Lob.“, meinte er leise mit unverändert sanfter Stimme, obwohl in seinem
Inneren gerade ein Sturm tobte.
Dieser verdammte Drecksbastard von einem
Psycho!
Doch er lenkte seine volle Aufmerksamkeit
schnell wieder auf Richard, er wusste, dass er sich jetzt keinen Fehler
erlauben konnte.
Richard sah Paul immer noch unverwandt an.
Ein Lob? Was war das? Und warum bekam er eines?
„Richard, ein Lob bekommt man, wenn man etwas
gut oder richtig gemacht hat.“, hörte er jetzt Pauls leise Stimme. Jetzt wurde
es ihm aber doch unheimlich. Konnte der etwa Gedanken lesen? Nun ja, nicht so
ganz, der Kleinere hatte einfach Richards überraschten Gesichtsausdruck
gesehen, sich daran erinnert, dass er ihm in dieser verdammten Halle erst
erklären musste, was ein Auto und Fenster waren und dann einfach eins und eins
zusammen gezählt.
Richard hingegen begann jetzt über den Inhalt
der Worte nachzudenken und fühlte sich prompt wieder überrumpelt. Er schüttelte
leicht den Kopf und murmelte dann ein fassungsloses „Aber ich mach doch nie was
richtig...“ vor sich hin. Er wollte gerade wieder den Kopf schütteln, als ihn
eine mittlerweile vertraute Stimme unterbrach.
„Stimmt nicht, Richard, wirklich nicht. Ich
meine, was kann man denn schon falsch machen, wenn man sich hinlegen soll?“
Paul hatte einen gespielt amüsierten Unterton in der Stimme, er wollte einfach
testen, wie sein Freund darauf reagierte. Tatsächlich stahl sich ein kleines
Lächeln auf die Lippen des Schwarzhaarigen, das aber sofort wieder verschwand,
als er mit ausdruckslosem Gesicht und traurigem Unterton in der Stimme sagte:
„Irgendetwas wird es schon gewesen sein...“
Paul beschloss das Thema erst mal auf sich
beruhen zu lassen. Nach dieser Aussage hatte er nämlich echte Mühe, ruhig zu
bleiben und ein Blick zu den anderen, die er bis jetzt mehr oder weniger
ausgeblendet hatte, sagte ihm, dass er damit nicht alleine war. Die anderen
vier hatten das „Gespräch“ ruhig mitverfolgt, denn es war offensichtlich, dass
Richard sich mit ihnen wohl überhaupt nicht „unterhalten“ hätte. Während Till
kurz davor war, den Raum, nein am besten noch das Krankenhaus, zu verlassen und
erst mal einen langen Dauerlauf hinzulegen, waren die anderen drei heftig damit
beschäftigt, nicht das Schreien anzufangen. Es war doch einfach unglaublich,
was sich gerade vor ihren Augen abspielte und sie fragten sich, wie Paul es
wohl schaffte, die ganze Zeit über seine ruhige Fassade aufrecht zu erhalten.
Allerdings forderte der Schwarzhaarige jetzt
wieder ihre Aufmerksamkeit, denn er fragte leise und vorsichtig: „Paul?“ Der
wandte sich wieder Richard zu und jetzt kam doch eine leichte Freude in ihm
hoch, schließlich war es das erste Mal, dass Richard ihn so ansprach. Der war
erst mal über seine eigene Courage erschrocken, doch als ihm Paul mit einem
leisen „Ja? Was ist?“ antwortete, fand er doch den Mut weiter zu sprechen.
„Also...ist das richtig? Dass...dass ich
keine Schmerzen hab?“
Paul wusste, er hätte schockiert sein müssen,
aber er war es nicht. Er wusste, er hätte eigentlich spätestens jetzt vor Wut
über diesen Schweinehund explodieren müssen, aber er tat es nicht. Stattdessen
konnte er einfach nicht den Blick von diesen riesengroßen Augen nehmen, in
denen nichts anderes, als die Bitte nach Zustimmung stand. Und Paul wäre lieber
gestorben als Richard eben diese Zustimmung zu verweigern.
„Natürlich.“, meinte er deshalb und jetzt
konnte er das Zittern nicht mehr länger aus seiner Stimme verbannen.
„Natürlich ist es richtig, dass du keine
Schmerzen hast. Es sollte nie anders sein, hörst du? Niemals solltest du
Schmerzen haben.“
Richard nickte unendlich erleichtert, doch es
irritierte ihn, dass Pauls Stimme so zitterte. Meinte er es etwa nicht ernst?
Das sanfte Streicheln, dass Richard die ganze Zeit über gespürt hatte, war nun
auch weg. Er sah sich Paul genauer an, wollte eigentlich seine wahren Absichten
näher ergründen, als ihm etwas ganz Seltsames auffiel. Paul weinte ja! Aber
wieso denn das? Richard war extrem verwirrt. Seine frühere Bezugsperson hatte
nie geweint. Nicht einmal. Tränen waren so ziemlich das Einzige, was ihm
vorbehalten war und das auch nur, wenn es der Psycho ihm erlaubte. Tränen
und...Schmerzen. Er erinnerte sich, dass der Psycho ihn sogar manchmal
getröstet hatte, wenn er weinte. Doch jetzt war es eigentlich umgekehrt. Er
hatte keine Schmerzen und jetzt weinte Paul auch noch – warum auch immer.
Richard wusste nicht so recht, wie er sich
verhalten sollte, doch in ihm kam der Drang auf, den Kleineren vor ihm zu
trösten, schließlich wusste er selber, wie gut so etwas tat. Also setzte er
sich vorsichtig auf
– ‚Du machst es damit nicht besser, Idiot, du
missachtest seinen Befehl!’ –
(‚Aber es war doch eine Bitte...’)
hob ganz langsam die Hand und strich Paul
sachte über die Wange. Der hatte sich einfach nicht mehr unter Kontrolle halten
können. So sehr auch versucht hatte stark zu bleiben – Richards Worte hatten
wieder die Bilder des vierten Foltervideos heraufbeschworen, er hatte ihn
wieder buchstäblich sterben sehen und das war dann doch alles zu viel gewesen.
Doch der Schwarzhaarige hatte ihn mit seiner Reaktion überrascht. Paul konnte
gerade nicht glauben, dass Richard ihn freiwillig berührte, doch er tat es.
Ganz sachte nur, es war kaum zu spüren, aber – er tat es. Und der
Schwarzhaarige ging sogar noch einen Schritt weiter. Er sprach ihn noch mal an:
„Paul, du weinst ja. Was ist denn los?“
Richards Verhalten schien für Außenstehende
widersprüchlich zu sein, für ihn selbst war es das nicht. Denn auch, wenn er
momentan nicht alles um sich herum verstand(er begriff ja noch nicht einmal, wo
er hier war), Traurigkeit war für ihn bestimmt kein Fremdwort. Er wusste ja,
wie sich das anfühlte, er hatte es eigentlich in letzter Zeit ständig gefühlt
und so wusste er nun ziemlich genau, was er zu tun hatte. Also nahm er all
seinen Mut zusammen
– ‚Man sollte dir Manieren beibringen!’ –
und legte Paul unbeholfen die Arme um die
Schultern. Der sah Richard jetzt erst recht irritiert an. Versuchte der
Schwarzhaarige etwa, ihn zu trösten? Aber eigentlich... Paul wusste nun
wirklich nicht mehr, wie er mit der Situation umgehen sollte, denn irgendwie
kamen ihm die Rollen jetzt leicht vertauscht vor. Und dann hörte er Richards
leise Stimme: „Nicht weinen, bitte, bitte nicht weinen. Es ist doch alles in
Ordnung...oder?“
Der Kleinere lächelte, nahm nun seinerseits
Richard in die Arme und antwortete: „Natürlich ist alles in Ordnung, ich bin
nur so erleichtert, dass du w... dass du da bist und dass du keine Schmerzen
hast.“
Beinahe hätte er gesagt „Dass du wieder da
bist.“, doch er konnte es sich gerade noch so verkneifen. Irgendwie ahnte er,
dass dieses kleine Wörtchen mit „w“ nur für unnötig Verwirrung bei Richard
gesorgt hätte.
Besagter Schwarzhaariger lächelte jetzt und
traute sich sogar, noch eine letzte Frage zu stellen, allen Ängsten und
widerstreitenden Gedanken und Gefühlen in ihm zum Trotz: „Bleibst...du...bitte?
Ich...ich möchte nicht alleine sein...bitte...geh nicht weg...“
Paul löste vorsichtig die Umarmung und
brachte Richard durch sanften Druck dazu, sich wieder hinzulegen.
„Natürlich bleibe ich.“, meinte er dann
leise. „Ich bleibe bis du eingeschlafen bist und bin auch noch da, wenn du wieder
aufwachst. Es ist alles in Ordnung.“
Richard nickte leicht, er glaubte ihm jedes
Wort, er wusste, dass er ihm vertrauen konnte. Wieder spürte er das leichte
Streicheln und nun zuckte er schon nicht mehr so heftig zusammen wie beim
ersten Mal. Dann fielen ihm die Augen zu und nur Sekunden später war er in
tiefen Schlaf geglitten.
Und in dem Moment wusste Paul, dass alles
wieder gut werden würde. Irgendwie, irgendwann. Aber es würde wieder gut
werden.
Die restlichen Rammis hatten sich während
dieser doch sehr einseitigen Unterhaltung merklich zurück gehalten. Sie wussten
irgendwie, dass sie nichts erreichen würden, wenn sie sich jetzt einmischten.
Zumal sich keiner von ihnen sicher war, auch nur einen vernünftigen,
grammatisch korrekten Satz heraus zu bringen. Zu sehr ging ihnen Richards
Verhalten nahe. Er wirkte so...unnahbar, trotz allem, was passiert war und wie
er sich verhielt. Da war eine Distanz, die sie momentan nicht wirklich
überbrücken konnten, außer einer von ihnen und das war Paul. Doch der Grund
dafür, warum er so nahe an Richard herankam – über diesen Grund wollten sie
lieber nicht so genau nachdenken. Überhaupt schien ihnen Richards Verhalten
total gegensätzlich zu sein. Erst schreckte er vor jeder Berührung zurück und
dann? Es wollte ihnen nicht in den Kopf, warum er sich so verhielt und
gleichzeitig wussten sie irgendwo den Grund dafür. Doch dann wurden sie von
Pauls leiser Stimme aus den Gedanken gerissen: „Und jetzt?“
„Wie...und jetzt?“, fragte Till leicht
irritiert zurück.
„Was machen wir jetzt? Ihr wisst genauso gut,
wie ich, dass ich nicht die ganze Nacht hier bleiben kann, das würden die
dämlichen Weißkittel nie erlauben...“
„Ähm...wie bitte?“
Die restlichen vier waren leicht vor den Kopf
gestoßen, dass Paul in dieser Situation tatsächlich nichts besseres einfiel,
als an so etwas Banales wie irgendwelche Besuchszeiten zu denken. Was Till
jetzt auch ziemlich deutlich machte – oder eher deutlich machen wollte.
„Also...“
„Hey!“, unterbrach ihn Paul leise, mit Blick
auf Richard. „Gebrüllt wird draußen!“, meinte er noch nachdrücklich. Till
grummelte nur.
„Von mir aus...aber sag mal, du denkst doch
jetzt nicht ernsthaft über irgendwelche Besuchszeiten oder sowas nach?
Interessiert dich denn überhaupt nicht, was hier gerade passiert ist?“
„Nein, gaaar nicht.“, antwortete der Kleinere
ironisch. „Boah, Till, denk doch mal nach! Natürlich interessiert mich das!
Sonst würde ich nicht über so etwas nachdenken. Ich hab Richard schließlich
versprochen, dass ich hier bleibe.“
Das brachte nun wieder Till zum Schweigen.
„Nun, dieses Problem könnten wir leicht
lösen...“, erklang da eine Stimme aus Richtung Tür. Die fünf Rammis drehten
sich erstaunt um und sahen...Richards behandelnden Arzt.
„Was wollen SIE denn hier?“, murrte Schneider
leise. Er mochte den Typen nicht sonderlich, er war ihm viel zu unfreundlich
und unnahbar erschienen.
„Eigentlich wollte ich ‚nur’ nach meinem
Patienten sehen, falls SIE es vergessen haben, aber das ist mein Job. Und Sie
alle fünf nebenbei wieder abholen.“ Der Arzt schien nur milde beeindruckt von
Schneiders schlechter Laune zu sein.
„Allerdings“, setzte er jetzt an und fiel
damit Till und Paul ins Wort, „allerdings habe ich unfreiwillig den letzten
Teil Ihres...nun ja...Gesprächs mitbekommen. Ich bin daher bereit wenigstens
für heute eine Ausnahme zu machen, das heißt, Sie dürfen bleiben, aber nur
Sie.“, sagte er nachdrücklich und deutete auf Paul.
„Achja, und wieso das?“, knurrte Till
ziemlich angepisst.
„Till, verbock’s jetzt nicht!“, warf Paul
ein.
„Das würde ich auch meinen.“, kam die Antwort
aus Richtung Tür. „Meine Gründe dafür dürften Ihnen egal sein, aber ich rate
Ihnen, das Angebot anzunehmen, sonst könnte ich es mir noch einmal überlegen.“
„Wollen Sie uns etwa drohen?“ Schneiders
Laune, sowieso schon seit Wochen im Keller, schien mittlerweile den tiefsten
Kreis der Hölle erreicht zu haben. Der Arzt lächelte dünn.
„Nein, nur warnen.“, fügte er süffisant hinzu
und hielt dann die Tür auf. Paul seufzte nur.
„Na los, verschwindet schon, wir sehen uns
dann morgen.“
„Worauf du Gift nehmen kannst!“, versicherte
Till mehr als nur ein bisschen sauer.
„Nein, tut mir leid, heute nicht, ich hab
vor, die Nacht zu überleben.“, grinste Paul nur zurück.
Kopfschüttelnd erhoben sich daraufhin die
anderen vier und verließen dann den Raum. Die Tür fiel zu und schon war Paul
mit seinem Sorgenkind alleine.
„Na dann...“, meinte er noch, „...eine gute
Nacht uns allen...“
Von allen Tieren ist der Mensch das Einzige, das grausam ist...