Disclaimer: Die Rammsteiner gehören nicht mir, sondern sich selber. Die Story ist zu unglaubwürdig, als dass sie jemals so geschehen wäre – will heißen, dass sie frei erfunden ist. Ich verdiene kein Geld damit, aber hoffentlich ein paar nette Kommis^^
Wieder alles geklärt? Na denn, entscheu^^
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Soo, das ist meine zweite längere FF. Sie ist vor Revange entstanden und mittlerweile mein Ausgleich dazu, obwohl ich die Geschichte nach wie vor nicht wirklich leiden kann...
Der Disclaimer gilt wieder für alle Kapitel.
Wenn ihr wissen wollt, ob es ein Happy End gibt, einfach mit der Maus die Zeile hinter "Happy End" markieren 
Status: In Arbeit
Seiten bis jetzt: 72
Kapitel bis jetzt: 15
Rating: P16
Pairings: vorerst keine
Genre: Fantasy, Drama
Warnings: angst(teilweise)
Happy End: ja
Fortsetzung: geplant, nicht sicher
Ein Unfall?
„Sag mal Olli, hast du eigentlich überhaupt noch eine Ahnung, wo wir sind?“
Schneider sah seinen Bandkollegen zweifelnd an.
„Äh...naja...hmm...“
„Gib’s zu, du hast dich verfahren!“, kam es da lachend von Richard, der sich, wie Schneider, über eine ziemlich große Straßenkarte gebeugt hatte und versuchte, den richtigen Weg zu finden.
Es war eine nicht ganz alltägliche Situation im Tourbus der sechs Rammsteiner. Mal ganz abgesehen davon, dass sie überhaupt mit dem Bus zum nächsten Auftritt fuhren und sich Olli vermutlich verfahren hatte, waren sie diesmal tatsächlich nur zu sechst unterwegs. Außer ihnen war niemand weiter in dem Fahrzeug anwesend. Dieser Umstand hatte sich ganz zufällig so ergeben und obwohl das alle Beteiligten ein wenig seltsam und auch amüsant fanden, hatte sich keiner großartige Gedanken darum gemacht. Es erinnerte sie zu sehr an alte Zeiten und eigentlich fanden sie es so auch mal wieder ganz schön.
Jetzt allerdings mussten sie erst einmal zusehen, dass sie aus dieser Gegend herauskamen, die anscheinend auf keiner Karte eingezeichnet zu sein schien. Sie wussten auch nicht so wirklich, wie sie es angestellt hatten, doch irgendwann hatten sie sich in einer halbwüstenartigen Landschaft wiedergefunden. Die Straße schlängelte sich durch das flache Land, nur – diese Straße konnten sie nirgends auf der Karte entdecken.
„Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was du daran so lustig findest...“, kam es gereizt von Till, der überhaupt nicht verstehen konnte, wie der schwarzhaarige Gitarrist so happy sein konnte. „Wir müssen immerhin schon in ein paar Stunden da sein und bis jetzt haben wir keine Ahnung, wo wir uns befinden, oder?“
„Ach, jetzt hab dich nicht so. Wir finden uns schon dahin. Wenigstens ist noch eine Straße da...“, mischte sich nun auch Flake ein.
„Klar und wo führt die bitteschön hin?“, grummelte Till.
Flake wollte schon etwas erwidern, doch Richard berührte ihn sacht am Arm und schüttelte leicht den Kopf. Wenn der Sänger schlechte Laune hatte, ließ man ihn lieber in Ruhe, im Normalfall gab sich so etwas nach einiger Zeit von selbst. Das sah auch der Keyboarder ein und bestätigte Richard mit einem leichten Nicken.
Paul hatte sich aus dem gesamten Gespräch herausgehalten. Völlig in Gedanken versunken starrte er aus dem Fenster. Er meinte diese Gegend zu kennen, hoffte jedoch, dass seine Vermutung, wo sie sich hier befanden, nicht zutraf. Wenn es doch der Fall sein sollte – er wollte gar nicht dran denken. Er spürte auf einmal etwas und fuhr sich sinnend über den Nacken. Kein Zweifel, da waren sie wieder. Die Narben waren wieder aufgetaucht. Kein gutes Zeichen. Paul hatte eine ungute Vorahnung. Er meinte zu wissen, dass bald etwas passieren würde, das ihr gesamtes Leben verändern würde. Und er meinte auch zu wissen, dass er dann wahrscheinlich endlich mit der Wahrheit herausrücken musste. Aber das wollte er nicht. Er schüttelte unmerklich den Kopf und musste sich stark die Tränen verkneifen. Wenn er daran dachte, dass er es seinen Freunden vielleicht wirklich sagen musste.
Plötzlich hatte er Angst. Angst vor ihren Reaktionen. Angst, dass ihnen etwas passierte. Und vor allem Angst, dass er schon wieder enttäuscht wurde. Wenn er nur daran dachte...
„Paul? Ist irgendwas? Geht’s dir nicht gut?“
Der Gitarrist antwortete nicht sofort, er hatte Angst aus Versehen etwas Falsches zu sagen.
„Hey Paul! Ich hab dich was gefragt! Oder hast du mir gar nicht zugehört?“
Jetzt blickte er auf – direkt in die fragenden Augen Schneiders.
„Was...hast du gesagt? Tut mir leid, ich hab nicht zugehört...“, brachte er dann hervor und setzte murmelnd ein „War in Gedanken...“ hinzu.
Der Drummer schüttelte den Kopf. „Ich hatte dich eigentlich nur gefragt, ob es dir gut geht. Du hast so abwesend gewirkt...“
„Was? Oh ja, na klar geht’s mir gut. Warum sollte es mir nicht gut gehen?“
Paul rang sich zu einem Lächeln durch. Schneider erwiderte es zaghaft und wusste nicht so recht, was er von all dem halten sollte. Seit sie sich in dieser merkwürdigen Gegend befanden, hatte Paul kaum ein Wort mehr gesagt und einfach nur aus dem Fenster gestarrt. Es war offensichtlich, dass irgendetwas mit ihm nicht stimmte und nicht nur Schneider, sondern auch die anderen vier Rammsteiner hätten zu gerne gewusst, was das war. Allerdings hielten sie sich mit eventuellen Fragen zurück. Sie wollten ihren jahrelangen Freund nicht bedrängen. Wenn er etwas zu sagen hatte, dann würde er das auch tun, zumindest glaubten sie das.
„Hmm, sag mal Richard, bist du dir auch sicher, dass du die richtige Karte mitgenommen hast?“
Olli sah zweifelnd kurz auf die Karte und konzentrierte sich dann wieder auf die Straße.
„Natürlich bin ich mir sicher! Wie kommst du denn jetzt auf so eine Idee?“, fragte der Schwarzhaarige etwas verwirrt, doch immer noch amüsiert zurück.
Olli kam nicht mehr dazu ein grinsendes „Ich wollt ja nur mal fragen...“ zu erwidern, zum Zeichen, dass er es nicht ernst meinte, denn Till fiel ihm ins Wort: „Warum denn nicht?“, fragte er ziemlich angesäuert, „Wäre ja nicht das erste Mal, dass du Scheiße baust...“
Das hatte gesessen! Olli hätte beinahe vergessen, um die Kurve zu lenken, so verdattert war er. Flake und Schneider starrten den Sänger fassungslos an, sie wussten nicht, was sie sagen sollten. Sogar Paul hatte es aus seinen Gedanken gerissen.
„Das hätte jetzt nicht sein müssen...“, meinte er ruhig, doch keiner beachtete ihn. Eigentlich warteten sie alle auf Richards Reaktion.
Der Gitarrist hatte sich erst einmal setzen müssen. So etwas hätte er jetzt nicht erwartet. Trotzdem wollte er sich seine eigentlich gute Laune nicht verderben lassen. Er wusste ja, dass Till es eigentlich nicht so meinte und außerdem freute er sich auf den Auftritt. Deshalb lächelte er jetzt auch und meinte nur: „Nun ja...wenn du das sagst...dann wird das wohl auch stimmen...“ Sein Lächeln verbreiterte sich zu einem Grinsen und er wandte sich wieder der Karte zu, um sie genaustens zu studieren und eventuell doch noch einen Weg hier raus zu finden.
Die Anspannung der anderen vier wollte sich gerade wieder lösen, als Till zu einem erneuten Schlag ausholte: „Natürlich stimmt das! Und ich sag dir, wenn du im Kartenlesen auch nur halb so lausig, wie im Gitarre spielen bist, haben wir es wohl zweifelsohne dir zu verdanken, dass wir uns hier verfahren haben!“
Jetzt wurde es Richard doch zu viel. Wütend sprang er auf.
„Sag das noch mal!“, zischte er zornig. „Sag das noch mal und ich werde...“
Doch er konnte seinen Satz nicht mehr beenden. In dem Moment nämlich, als er aufgesprungen war, hatte er Olli, der sich sowieso nur noch mit Mühe aufs Fahren konzentrieren konnte, versehentlich angerempelt und so war der Bus ins Schlingern geraten. Der Bassist schaffte es gerade noch so, das Fahrzeug in der Spur zu halten. Schon wollte er innerlich erleichtert aufatmen, als plötzlich etwas Graues, Verschwommenes über die Straße huschte und Olli, in dem Versuch, auszuweichen, von der selbigen abkam.
Alles ging so schnell, dass kaum einer von ihnen Zeit hatte, zu reagieren. Der Bus raste unkontrolliert in die Halbwüste hinein, überschlug dich, begleitet von einem sechsstimmigen Schrei, dann blieb er liegen und auch, als sich der Staub sich endlich wieder gelegt hatte, blieb alles ruhig. Noch.
Paul war der Erste, der sich nach ca. zwei Stunden Bewusstlosigkeit wieder regte. Was war geschehen? Sein Schädel dröhnte, im ersten Moment konnte er sich an nichts mehr erinnern. Dann kam ihm langsam wieder ein, was passiert war. Till hatte unbedingt seine schlechte Laune an Richard auslassen müssen, doch der hatte erst nicht reagiert. Erst als der Sänger weitergebohrt hatte, war dem Schwarzhaarigen der Geduldsfaden gerissen. Und dann war Olli irgendwie von der Straße abgekommen. Warum eigentlich? Paul meinte noch, etwas vorüberhuschen gesehen zu haben und seine Instinkte hatten Gefahr erkennt.
Er kletterte mühsam aus dem Bus, der auf der Seite lag und sah sich um. Wo waren sie hier? Und warum kam ihm die Gegend so vertraut vor? Und warum versetzte ihn allein dieser Eindruck von Vertrautheit so in Alarmbereitschaft?
Er fuhr sich über den Nacken. Nichts, nur glatte Haut. Hatte er sich etwa alles eingebildet? Vorsichtig untersuchte Paul, ob ihm irgendetwas Ernsthaftes passiert war, sortierte und bewegte seine Gliedmaßen, doch bis auf ein paar Kratzer und der Tatsache, dass er völlig durchgeschüttelt worden war, war ihm nichts passiert. Glück gehabt.
Dann fielen ihm seine fünf Bandkollegen ein und er kletterte hastig wieder in den Bus, um zu sehen, ob sie ernsthaft verletzt worden waren. Allerdings konnte er nur Olli und Flake vorfinden. Letzterer erlangte gerade wieder das Bewusstsein und auch ihm schien nichts weiter passiert zu sein. Er ging zu Olli und schüttelte ihn sacht.
„Hey Olli. Wach auf!“
Der Bassist regte sich kurz, dann flatterten seine Lider.
„Kannst du mich hören?“
Ein Nicken war die Antwort, dann setzte Olli sich vorsichtig auf.
„Wie fühlst du dich?“
„Mein Schädel dröhnt, aber sonst scheint nichts passiert zu sein...“
Murmelnd stand er auf. Paul sah ihn besorgt an, doch er konnte keine ernsthaften Verletzungen entdecken. Flake gesellte sich zu ihnen.
„Wo sind die anderen?“, fragte er, seine Besorgnis war ihm deutlich anzumerken.
„Ich weiß nicht...vielleicht sind sie rausgeschleudert worden...“, meinte Paul und deutete auf eines der großen Fenster, das es bei dem Unfall fast komplett aus dem Rahmen gelöst hatte.
Sie tauschten besorgte Blicke, dann beeilten sie sich, aus dem Bus zu kommen. Nicht weit entfernt sahen sie Schneider liegen, der sich gerade mühsam wieder aufrappelte. Sie liefen so schnell sie konnten zu ihm und er lächelte, als er sie kommen sah. Auch ihm war nichts Ernsthaftes passiert und Paul fragte sich allmählich, ob das hier alles auch mit rechten Dingen zuging.
„Wie ich sehe, ist euch auch nicht viel passiert. Da haben wir ja noch mal Glück gehabt.“, hörte er die Stimme des Drummers. Die drei Rammsteiner konnten nur nicken, dann fiel ihnen ein, dass zwei von ihnen immer noch fehlten.
„Wo sind Richard und Till?“, kam es von Olli, der damit eine Frage stellte, die sie alle im Moment heftig beschäftigte. Wie zur Antwort hörten sie auf einmal den lauten Schrei des schwarzhaarigen Gitarristen: „Till! Komm schon, wach auf!“
Sie liefen in die Richtung, in der sie die beiden vermuteten. Immerhin schien Richard auch nicht allzu schwer verletzt zu sein, wenn er noch die Kraft hatte, laut in der Gegend herumzuschreien. Sie mussten um den Bus herumlaufen, erst dann sahen sie ihre beiden Freunde. Richard hatte sich über Till gebeugt, der wohl immer noch bewusstlos war, und schüttelte ihn immer wieder. Im Gegensatz zu den anderen fünf, denn auch Richard sah nicht so aus, als wäre er gerade aus einem sich überschlagenden Bus geschleudert worden, lediglich seine Haare waren verstrubbelter als vorher, hatte der Sänger einige tiefe Schürfwunden abbekommen und seinen Kopf zierte eine Platzwunde.
„Oh scheiße!“, kam es von Schneider und sie beeilten sich, schneller zu laufen. Paul jedoch blieb plötzlich stehen. ‚Ich glaube momentan ist Till unser geringstes Problem.’, ging es ihm durch den Kopf. Suchend schaute er sich um. Er meinte, aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrgenommen zu haben, war sich aber nicht sicher. Kopfschüttelnd setzte er seinen Weg fort.
Mittlerweile waren die anderen drei bei Till und Richard angekommen und letzterer hatte es doch tatsächlich geschafft, den Sänger wachzubekommen. Der versuchte sich aufzusetzen und befühlte sich vorsichtig den Kopf. Er zuckte leicht erschrocken zurück, als er das Blut bemerkte.
„Wie fühlst du dich?“, hörte er Richards besorgte Stimme neben sich und erst jetzt bekam er mit, dass der Gitarrist ihn festhielt, denn ohne diese Stütze wäre er vermutlich wieder umgefallen. Er schüttelte leicht den Kopf.
„Keine Ahnung.“, meinte er dann, „Eigentlich ganz gut, nur ein wenig...“
„Schwach?“, schlug Paul vor, der sich nun zu ihnen gesellt hatte. Er bekam ein Nicken zur Antwort.
„Wir sollten zum Bus gehen, Hilfe holen...“, kam es von Richard, doch bevor er weiterreden konnte, wurde er von einem fluchenden Olli unterbrochen: „Scheiße! Kein Netz!“
Sie sahen den Bassisten überrascht an. Dann erst fiel ihnen ein, dass sie ja noch ihre Handys dabei hatten. Paul sah sofort auf sein eigenes. „Auch kein Netz...“, murmelte er leise vor sich hin. Schneiders Handy war bei dem Unfall kaputt gegangen, die der anderen drei waren momentan nicht auffindbar.
„Noch ein Grund, zum Bus zu gehen.“, kam es von Richard. „Komm schon Till. Kannst du aufstehen?“
Der Angesprochene sah ihn erst einmal verständnislos an und zuckte dann mit den Schultern. Richard seufzte, dann packte er den Sänger an einem Arm und zog ihn dann vorsichtig in die Höhe. Till schwankte zunächst und stützte sich schwer auf den Gitarristen, dann konnte er aber doch einigermaßen alleine stehen.
„Tut mir leid...“, sagte er, „Ich hätte...“
„Deine schlechte Laune nicht an mir auslassen dürfen?“
Richard lächelte wissend. Till konnte nur nicken. Das Lächeln des Gitarristen verbreiterte sich zu einem Grinsen.
„Mach dir nichts draus. Ich weiß doch, wie du es gemeint hast.“
Till konnte wieder nur nicken und so machten die sechs Rammsteiner sich gemeinsam zu dem umgekippten Bus auf. In dem Fahrzeug herrschte ein wüstes Durcheinander. Trotzdem fanden sie verhältnismäßig schnell den Erste-Hilfe-Kasten und Paul und Olli machten sich daran, Tills Verletzungen zu versorgen. Richard und Flake suchten derweil ihre Handys, ihre Suche blieb allerdings erfolglos.
„Toll, und jetzt?“ Flake hörte sich leicht gereizt an.
„Keine Ahnung...“, kam es von Richard.
„Wir sollten auf jeden Fall die Handys, die noch funktionieren, abschalten, sonst können wir keine Hilfe mehr holen, falls wir noch mal Empfang haben sollten...“, meinte Paul nachdenklich. Olli bestätigte ihn mit einem Nicken.
„Sie sind aus.“, sagte er kurz darauf. „Und jetzt?“, fragte er dann ziemlich ratlos.
„Vielleicht sollten wir zurück an die Straße gehen. Könnte ja sein, dass da noch irgendjemand unterwegs ist...“ Das kam von Flake, hörte sich aber wenig hoffungsvoll an. Tatsächlich waren sie stundenlang ganz allein auf dieser merkwürdigen Straße unterwegs gewesen und diese Tatsache machte ihnen schon ein wenig Angst, auch, wenn sie das noch nicht zugeben wollten.
„Jungs, wir haben da nur ein kleines Problem...“ Schneider hörte sich ganz ungläubig an.
„Ach, und das wäre?“, fragte ihn Paul mit einem unguten Gefühl in der Magengegend.
„Die Straße ist weg...“
„Wie bitte?“, riefen Paul und Richard fast gleichzeitig. Letzterer hatte gerade Till dazu bewegen können, sich hinzulegen und ein wenig auszuruhen. Der Sänger war auch fast sofort eingeschlafen.
„Ich mach keine Witze! Seht es euch doch selber an!“, kam es nun von Schneider.
Flake, Olli, Richard und Paul sahen sich ungläubig um und mussten feststellen, dass der Drummer recht hatte: Nirgends konnten sie die Straße entdecken. Und, vielleicht noch schlimmer, sie konnten auch keine Anzeichen dafür entdecken, aus welcher Richtung sie vielleicht hätten gekommen sein können. Nirgends Fahrspuren, nichts. So wie es aussah, saßen sie mitten im Nirgendwo fest, von der Außenwelt abgeschnitten.
‚Na super!’, ging es Paul durch den Kopf. ‚Es ist bestimmt kein Zufall, dass wir hier sind...scheiße!’
Wieder beschlich ihn dieses ungute Gefühl. Irgendetwas ging hier nicht mit rechten Dingen zu. Erneut hatte er Angst. Aber nicht nur diese leise Angst, die allmählich seine Freunde befiel, traf ihn, sondern eine heftige Furcht vor dem, was mit allergrößter Wahrscheinlichkeit noch auf ihn zukam. Diese Furcht traf ihn so sehr, dass er anfing zu zittern. Er versuchte den Gedanken an das eventuell Kommende zu verscheuchen, doch es wollte ihm nicht gelingen.
„Paul? Alles klar bei dir?“ Nur aus weiter Ferne hörte er Ollis Stimme und die aufkommende Panik legte sich allmählich. Langsam nickte er, obwohl er viel lieber den Kopf geschüttelt hätte und versuchte das Zittern zu unterdrücken, was ihm auch leidlich gelang.
„Ich schlage vor, dass wir uns auf die Suche nach der Straße begeben. Vielleicht sind wir ja auch zu weit weg und können die deswegen nicht sehen...“ Richards ruhige Stimme zwang Paul, sich sachlich auf das Problem zu konzentrieren, anstatt Angst davor zu haben und er war seinem Freund dankbar dafür.
„Gut, aber einer oder zwei sollten bei Till bleiben.“, meinte Flake nachdenklich und warf einen Blick auf den schlafenden Sänger.
„Wer bleibt hier?“
„Niemand!“
Paul, der die ganze Zeit kein Wort mehr gesagt und total unsicher gewirkt hatte, war nun umso entschiedener.
„Niemand? Wie meinst du das denn?“ Flake war mehr als nur überrascht, er war überrumpelt.
„So, wie ich es sage. Niemand bleibt bei Till, er kommt nämlich mit! Nein, hört zu!“, rief Paul aufgebracht, als gleich alle vier Einwände gegen den Vorschlag erheben wollten. „Ich halte es für keine gute Idee, wenn wir uns jetzt trennen. Das ist zu gefährlich...“
„Inwiefern sollte das zu gefährlich sein?“ Richard sah ihn zweifelnd an. „Wir sind schließlich alleine hier...“
‚Da bin ich mir nicht so sicher...’, dachte Paul, sagte jedoch nichts. Erneut meinte er, eine Bewegung wahrgenommen zu haben, er verkniff es sich aber, dahin zu schauen. Das hätte nur Misstrauen erweckt. Er konzentrierte sich wieder auf den anderen Gitarristen.
„...verirren können wir uns auch nicht, wir hinterlassen ja schließlich Spuren im Sand und außerdem...“
„Na schön.“ Paul gab sich seufzend geschlagen und nickte. Vielleicht bildete er sich ja doch alles nur ein. Er hoffte, dass dem so war.
„Vermutlich hast du recht...“, murmelte er dann.
„Gut, ist das auch geklärt, aber wir haben immer noch nicht geklärt, wer nun hier bleibt. Freiwillige?“
Trotz der Situation schaffte es Richard tatsächlich noch, die Sache locker zu nehmen und insgeheim musste Paul ihn dafür bewundern. Er selbst machte sich zumindest in dieser Gegend viel zu viele Sorgen um seine Freunde und auch sich selbst und er konnte, nach wie vor, immer noch nicht dieses ungute Gefühl abschütteln.
„Pahaul? Hörst du überhaupt zu?“
Er brauchte eine ganze Weile, um Ollis Worte zu verstehen.
„Wa – oh ja, ähm, was hast du gesagt?“ Er sah ziemlich ratlos aus.
‚Ich sollte mich mehr auf die anderen konzentrieren. Wenn doch nicht ständig...’
Nur mit Mühe riss er sich von seinen Gedanken los, als er erneut die Stimme des Bassisten vernahm: „Ich hatte dich gefragt, ob du mit Richard hier bleibst, oder mit uns mitkommst und die Straße suchst...“
Jetzt befand er sich in einer echten Zwickmühle. Er wollte ja eigentlich nicht, dass sie sich trennten, denn dann war es umso schwieriger für ihn, auf sie alle aufzupassen. Aufpassen? Eigentlich ein unpassender Ausdruck, aber ihm fiel kein besserer ein. Was sollte er jetzt machen? Bleiben oder mitgehen? Beides konnte gefährlich werden. Schließlich entschied er sich für letzteres.
„Ich komme mit.“, meinte er leise, worauf ein „Ok, dann bleib ich mit hier.“, von Schneider folgte. Der Gitarrist konnte nur nicken, dann setzte er sich mit Flake, Olli und einem unglaublich schlechten Gefühl in der Magengegend in Bewegung.
Sie liefen ziemlich schnell, da sie alle drei unbedingt möglichst bald hier weg wollten. Paul warf zwischendurch immer wieder einen Blick zurück, man hatte fast den Eindruck, dass er dachte, dass sie verfolgt wurden. Die anderen beiden Rammsteiner bekamen das nicht so wirklich mit, sie waren viel mehr darauf konzentriert, die Straße zu suchen und letztendlich auch zu finden. Sie hatten sich schon ein ziemliches Stück vom Unfallort entfernt, als Paul auf einmal einen Schrei hörte. Ein Schrei, den er eindeutig zuordnen konnte.
‚Richard!’
Eine seltsame Begegnung
Er blieb stehen und sah sich suchend um.
„Paul? Ist irgendetwas?“
Olli sah seinen Freund fragend an. Der schenkte ihm einen besorgten Blick.
„Habt ihr das nicht auch gehört?“, fragte er so ruhig, wie es ihm in der momentanen Situation möglich war. Er horchte angestrengt in die Richtung, aus der sie gerade gekommen waren.
„Nein? Was sollen wir denn bitte gehört haben?“
Olli sah ziemlich verwirrt aus. Paul sah ihn mit einem unergründlichen Blick an. Er wusste, dass er vermutlich der Einzige war, der den Angstschrei seines Bandkollegen gehört hatte. War ja auch logisch, schließlich war er ja auch...
„Paul? Was sollen wir gehört haben?“ Jetzt mischte sich auch Flake ein.
Paul riss sich zusammen und sah ihnen in die Augen.
„Na den Schrei.“, meinte er dann nur.
„Welchen Schrei denn?“, fragten seine beiden Freunde fast gleichzeitig.
„Richards Schrei. Ich hab’s ganz deutlich gehört. Er hat geschrieen.“ Der Gitarrist warf einen weiteren Blick zurück. „Irgendetwas stimmt da nicht. Wir müssen zu ihnen!“
Flake und Olli warfen sich einen Blick zu. Sie für ihren Teil hatten überhaupt nichts mitbekommen, allerdings wussten sie auch, dass ihr Freund ein viel besseres Gehör als sie beide hatte, auch, wenn er ihnen nicht erklären konnte, warum das so war. Darum beschlossen sie jetzt auch, ihm zu vertrauen und zu glauben und entschieden sich zurückzugehen.
Paul konnte sich sehr wohl denken, was in seinen Freunden vorging und war froh, dass sie sich entschieden hatten, ihm zu vertrauen. Während sie im Eiltempo zurückliefen, fragte sich der Gitarrist, wie lange dieses Vertrauen wohl noch halten würde. Doch dann wurde seine Aufmerksamkeit von einem erneuten Schrei abgelenkt. Jetzt war es Schneider gewesen. Und noch etwas nahm Paul wahr. Die Anwesenheit eines anderen Lebewesens, eines Lebewesens, von dem er gehofft hatte, dass er einem solchen niemals begegnen würde.
Endlich kam der Bus in Sichtweite. Doch das, was sie sahen, ließ sie erschrocken zurückschrecken und Paul entfuhr ein lauter, wütender Schrei, der sich auch ein wenig verzweifelt anhörte.
Richard und Schneider hatten ihren drei Freunden schweigend hinterhergesehen und es sich schließlich neben Till bequem gemacht. Jeder von ihnen hing seinen eigenen Gedanken nach, die sich allerdings so ziemlich um das gleiche Thema drehten: Ihre momentane Situation.
Sie beide überlegten, was sie eigentlich getan hatten, dass sie sich jetzt in so einer misslichen Lage befanden. Einer von ihnen war verletzt, sie waren von der Außenwelt so ziemlich abgeschnitten und hatten keine Ahnung, wie sie hier wieder rauskommen sollten. Sie konnten nur hoffen, dass man bald darauf aufmerksam wurde, dass sie verschwunden waren und dass dann nach ihnen gesucht wurde.
Und noch etwas beschäftigte sie: Pauls seltsames Verhalten. Vor allem Schneider beschäftigte es ziemlich stark. Er war sich ganz sicher, dass der Kleinere ihnen etwas verschwieg, etwas, das vielleicht von größter Wichtigkeit für sie war. Er hoffte, dass sein Bandkollege bald mit dem herausrücken würde, was er zu sagen hatte, egal, worum es dabei ging. Er hoffte vor allem, dass Paul ihnen soweit vertraute, dass er überhaupt etwas sagte, schließlich schien es ihm ziemliche Angst zu machen, zumindest, wenn Schneider die Gefühlsregungen des Gitarristen richtig interpretiert hatte.
Er sah auf, als er neben sich eine Bewegung bemerkte. Richard hatte sich erhoben und spähte misstrauisch aus dem kaputten Fenster hinaus in die Halbwüste.
„Was ist denn los?“, fragte der Drummer und sah ebenfalls hinaus.
„Ssschhht!“, machte der Gitarrist und legte sich einen Finger auf den Mund. „Ich glaub, ich hab was gehört.“, flüsterte er dann.
„Und deswegen machst du dir Gedanken?“, flüsterte Schneider ebenso leise zurück. „War bestimmt nur ein Tier oder sowas...“
„Da bin ich mir nicht so sicher...“, kam es da von Richard. „Kurz bevor der Bus von der Straße abgekommen ist, meine ich etwas gesehen zu haben und es war ziemlich groß. Und ich habe ständig das Gefühl, dass uns jemand oder etwas beobachtet. Findest du es nicht auch ein wenig seltsam, dass wir alle eigentlich unverletzt sind, selbst Till dürfte es nach der Mütze Schlaf wieder ganz gut gehen, und das, obwohl einige von uns aus einem sich überschlagenden Bus geschleudert worden sind? Wenn ich ehrlich sein soll, glaube ich, dass es kein Zufall ist, dass wir hier sind...“
Schneider sah seinen Freund nach dieser geflüsterten Rede lange an. Er wusste nicht so recht, wie er es formulieren sollte, darum entschied er sich für direkte Variante: „Ich geb dir recht. Und weißt du, was ich glaube? Ich glaube Paul weiß das alles auch. Und ich glaube er weiß auch, warum das alles passiert ist...“
Richard nickte. „Ja“, flüsterte er dann, „das denke ich auch.“
Er sah wieder prüfend hinaus. Plötzlich sah er eine Bewegung, etwas Riesiges, Graues, Verschwommenes kam pfeilschnell auf sie zugerast und setzte zum Sprung an.
Richard entfuhr ein Schrei. Er und Schneider duckten sich zusammen, als sie einen Schatten über sich hinweg segeln sahen. Für einen kurzen Moment dachten sie schon, das wäre alles gewesen, doch dann hörten sie, wie das, was auch immer sie gerade angriff und vorher noch ein wenig mit ihnen spielte, sich schnell wegbewegte, wendete und wieder auf sie zukam. Und wieder sprang dieses Etwas über den umgekippten Bus und diesmal entfuhr Schneider ein Schrei. Dann war alles ruhig. Verschreckt sahen sie sich an. Ihnen war nichts passiert, aber was war das eben gewesen?
Vorsichtig spähten sie über den Rahmen des zerbrochenen Fensters hinaus. Nichts zu sehen, außer Sand, Geröll und hier und da ein paar verdorrte Büsche.
„Was war das?“, flüsterte Schneider kaum hörbar. Das Adrenalin schoss durch seinen Körper und sein Puls hämmerte hart gegen seine Schläfen.
„Ich weiß es nicht.“, gab Richard ebenso leise zurück. Dann kletterte er aus dem Bus.
„Warte!“, sagte der Drummer lauter. „Vielleicht ist es noch da...“
Der Gitarrist deutete ein Nicken an und bleib in der Nähe des Busses, um dort ein wenig mehr Deckung zu haben. Plötzlich nahm er erneut eine Bewegung wahr und dann ging auf einmal alles ganz schnell:
Das riesige, graue Etwas kam direkt auf ihn zugerast und Richard dachte schon, es würde ihn umrennen wollen, doch es schlug blitzartig einen Haken direkt vor dem Schwarzhaarigen und dann spürte er nur noch einen brennenden Schmerz am rechten Unterarm, hörte noch einen wütenden und auch etwas verzweifelt klingenden Schrei, bevor es schwarz um ihn herum wurde und er bewusstlos zusammenbrach.
Nur langsam kam Richard wieder zu sich, geweckt von einem beständigen, sanften Schütteln und noch sanfteren Stimmen, die trotz allem ziemlich energisch auf ihn einredeten. Verwirrt blinzelnd schlug er die Augen auf und sah in die besorgten Gesichter seiner Bandkollegen. Sogar Till war mit dabei. Aber was war passiert? Nur langsam kam die Erinnerung zurück. Irgendetwas Großes, Graues hatte ihn angegriffen und dann?
Blitzartig setzte er sich auf, was er wohl lieber unterlassen hätte, da ihm sofort wieder schwarz vor den Augen wurde. Er spürte, wie ihn jemand mit sanfter Bestimmtheit wieder in eine liegende Position zurückbrachte. Mit einem Mal glaubte er zu wissen, dass das Paul gewesen war. Aber woher wollte er das so genau wissen? Er schüttelte verwirrt den Kopf. Erst jetzt drangen die Worte seiner Freunde an sein Ohr: „Richard? Kannst du uns hören? Sag doch was. Richard?“
Langsam richtete er seinen Blick auf Till. Er hatte Mühe, seine Zunge zu koordinieren und so klang seine Antwort mehr wie ein Lallen als ein Sprechen: „Ja...ja, ich kann dich hören. Wo...wo ist dieses...was auch immer es war...Wo ist es hin?“
„Wissen wir nicht.“, hörte er Schneiders zitternde Stimme. „Es ist weggerannt nachdem zusammengebrochen warst. Oh scheiße, ich kann dir gar nicht sagen, wie froh wir sind, dass du wieder wach bist. Du warst fast vier Stunden bewusstlos...“
Seine Stimme brach und Richard konnte hören, dass er weinte. Anscheinend hatte er ihnen ein gehörigen Schrecken eingejagt. Vor allem Paul hatte einen unglaublich besorgten Ausdruck in den Augen und Richard erschrak leicht, als er auch eine gewisse Hoffnungslosigkeit und Resigniertheit darin entdeckte. Er beschloss, seine Freunde nicht noch mehr in Sorge zu versetzen und wollte deshalb langsam aufstehen. Doch just in diesem Moment fuhr ihm erneut dieser brennende Schmerz, der ihn fast wieder ohnmächtig werden ließ, durch den rechten Unterarm und erinnerte ihn daran, dass es ihm vielleicht doch nicht so gut ging, wie er eigentlich dachte.
Er besah sich die Verletzungen näher. Immer noch bluteten die tiefen Schnitte leicht. Er wusste nicht, dass es eine heftige Diskussion unter seinen Freunden deswegen gegeben hatte. Paul hatte etwas dagegen gehabt, die Verletzungen zu versorgen, er wusste, dass das alles nur noch schlimmer machen würde. Sein Problem war nur gewesen, dass er seinen Bandkollegen keinen triftigen Grund für seinen Einwand vorbringen konnte, zumal die Wunden stark bluteten und seine Freunde sich Sorgen um den großen Blutverlust machten. Nachdem das Ganze fast zu einem Streit ausgeartet war, hatten die anderen schließlich klein bei gegeben, allerdings unter der Bedingung, dass sie die Verletzungen versorgen würden, wenn Richard aufwachte.
Das hatte nun allerdings länger gedauert, als sie am Anfang vermutet hatten. Und mit jeder Minute, die sie mit fruchtlosen Weckversuchen verbrachten, wurde ihre Angst größer. Und es war ja nicht nur so, dass Richard ruhig und still daliegen würde, nein, er warf sich ständig hin und her und murmelte undeutliche Worte vor sich hin, während ihm der Schweiß am Körper hinunter rann und er gleichzeitig zitterte. Sie waren erleichtert gewesen als die Symptome endlich aufgehört hatten und kurz darauf war ihr Freund ja auch endlich aufgewacht. Und jetzt sah es doch tatsächlich so aus, als würde es ihm wieder ganz gut gehen, sogar die Schnitte hatten aufgehört zu bluten. Nur einer machte sich noch so seine Gedanken: Paul. Er war sich als Einziger von ihnen so wirklich im Klaren darüber, was da eigentlich passiert war. Und trotzdem wollte er die an sich so offensichtliche Wahrheit nicht zulassen.
‚Ich kann nicht glauben, dass das wirklich passiert ist.’, ging es ihm durch den Kopf. ‚Ich kann es einfach nicht glauben. Und ich will es auch nicht glauben! Das ist doch alles nicht wahr! Das kann nicht sein, verdammt noch mal, warum ausgerechnet wir? Oder besser gesagt: Warum ausgerechnet Richard oder einer der Anderen? Wenn ich nicht zurückgekommen wäre, hätte es Till und Schneider bestimmt auch erwischt. Warum machen die das nur? Die sind doch eigentlich nur an mir interessiert, warum dann auch meine Freunde? Verdammt, die sollen sie in Ruhe lassen, sie haben ihnen doch gar nichts getan! Das ist einfach nicht fair! Ich hätte wirklich auf diese Typen damals hören sollen, denn hätten wir das Problem jetzt alle nicht! Ich hätte mich wirklich...’
Er riss sich von dem Gedanken los und half Richard schweigend auf die Beine. Er spürte schon, wie sich etwas in dem Schwarzhaarigen zu verändern begann, ganz deutlich bekam er es mit. Gleichzeitig fragte er sich, was sein Freund wohl gerade empfand.
Richard war aus irgendeinem Grunde ganz froh darüber, dass der andere Gitarrist ihm aufhalf. Er konnte sich dieses Gefühl nicht erklären, schließlich machte er bei seinen Bandkollegen eigentlich keinen Unterschied, was Sympathie und Antipathie betraf. Das tat im Prinzip keiner von ihnen. Aber irgendetwas zog ihn zu Paul. Er fühlte sich auf einmal wohler in seiner Nähe als vorher und als sein Freund ihn berührte, durchfuhr ihn ein unglaublich warmes Gefühl der Zuneigung, das er vorher noch nie einem Menschen gegenüber verspürt hatte. Was war da bloß los?
„Richard? Wie fühlst du dich?“
‚Noch gut, nehme ich an...wird sich aber bald ändern...’, sagte Paul in Gedanken, als er Schneiders Frage hörte.
Die Antwort des Schwarzhaarigen fiel ähnlich aus: „Naja, geht schon. Eigentlich ganz gut, nur die Schnitte brennen, aber sonst...“ Er zuckte mit den Schultern.
„Na da ist ja gut.“, kam es von Flake. „Und was machen wir jetzt?“, fragte er gleich darauf.
„Noch mal die Straße suchen?“, versuchte Till halb im Scherz zu sagen, was ihm aber nicht so wirklich gelang.
„Ich würde vorschlagen lieber einen Weg hier weg. Und damit meine ich nicht unbedingt eine Straße. Aber was wir auch tun, wir sollten auf jeden Fall zusammenbleiben.“
Paul sah sie entschlossen an und tatsächlich nickten seine Freunde. Er hatte ja recht. Er hatte von Anfang an recht gehabt. Nur – warum hatte er recht gehabt?
„Sag mal Paul...woher wusstest du eigentlich, dass es gefährlich sein würde, uns zu trennen? Du warst ja ziemlich dagegen...“
Schneider sah den Gitarristen misstrauisch an. Auch die anderen vier sahen überrascht zu dem Angesprochenen, tatsächlich hatten sie sich diese Frage insgeheim auch schon gestellt. Nur Richard beschäftigte das nicht ganz so stark, er meinte zu wissen, dass Paul es einfach wusste und das reichte ihm...irgendwie. Es war schon seltsam, was er seit neustem so für Gefühlsregungen gegenüber des kleineren Gitarristen hatte.
„Hmm, naja, also...“, stotterte eben jener Gitarrist gerade herum. „Ähm...ich hatte schon die ganze Zeit über das Gefühl, dass uns was beobachtet...eigentlich...und...naja...da dachte ich eben...“
Er fühlte sich ziemlich überrumpelt. Solche Fragen waren ihm schon öfter gestellt worden, doch noch nie von den Menschen, die er so gut und so lange kannte. Normalerweise hatte er immer irgendeine Ausrede parat, aber es ging ihm gegen den Strich, sie einfach anzulügen. Andererseits traute er sich nicht, ihnen die Wahrheit zu sagen, zu groß war seine Angst vor ihren Reaktionen.
„Ach vergiss es...“
Er sah überrascht zu Schneider, der gerade abwinkte. Es war ihm offensichtlich, dass der Gitarrist nicht viel zu sagen hatte und vielleicht war es ja auch einfach nur eine Ahnung von ihm gewesen, so, wie er sie öfter mal hatte und die er ihnen genauso wenig erklären konnte, wie sein überdurchschnittliches Gehör.
„Gut. Suchen wir uns also einen ‚Weg’ hier raus.“, beendete Olli den Sachverhalt und Paul war ihm ziemlich dankbar dafür.
„Irgendwelche Vorschläge?“, fragte der Bassist noch und sah die anderen an.
Paul war sich mittlerweile sicher, wo sie sich hier befanden, spätestens seit der Attacke von diesem Wesen wusste er es, folglich kannte er sich hier auch aus und wusste demnach den schnellsten Weg hier weg. Das Problem war nur, dass dieser Weg in der entgegengesetzten Richtung zu der „Straße“ lag, die sie erst befahren hatten. Er wusste, dass es diese Straße in Wirklichkeit nie gegeben hatte. Sie war nur ein kleines Täuschungsmanöver gewesen, um sie hierher zu locken. Doch das konnte er seinen Freunden nicht sagen. Das hätten sie ihm nie geglaubt. Und selbst, wenn sie ihm geglaubt hätten: Das hätte dann nur wieder zu unangenehmen Fragen geführt und auf die konnte er verzichten.
Er schüttelte den Kopf, da ihn diese Gedanken nicht weiterbrachten. Wichtig war jetzt erst einmal, dass er seine Freunde unauffällig in Richtung dieses Weges hier raus führte. Er wusste, er würde Richard auf seiner Seite haben, auch wenn der das noch nicht wusste, und das konnte ein unschätzbarer Vorteil für ihn sein. Denn wenn sich der schwarzhaarige Gitarrist nämlich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann zog er das auch durch und kaum einer konnte da etwas dagegen machen.
Paul lächelte leicht, dann machte er seinen Vorschlag: „Also ich würde sagen, wir versuchen es mal in dieser Richtung“, er zeigte in die Richtung, in die er wollte, „Schließlich haben wir ja in der anderen nichts erreicht...“
„Gute Idee! Ich würde dem zustimmen!“
Richard war sofort Feuer und Flamme, obwohl er nicht wusste, wieso. Was er aber wusste, war, dass Paul recht hatte. Die anderen vier sahen sich zweifelnd an.
„Aber diese Richtung ist doch entgegengesetzt zu der Straße...“, gab Olli zu bedenken.
„Also...“, wollte Paul ansetzen, doch Richard kam ihm zuvor: „Das können wir doch gar nicht wissen. Da nirgends Fahrspuren oder sonstiges zu finden sind, wissen wir nicht, aus welcher Richtung wir gekommen sind, also können wir auch nicht wissen, wo die Straße verlief.“, erklärte er ruhig und setzte fort: „Und da Paul anscheinend weiß, wo er lang will, können wir doch auch erst einmal dorthin gehen, oder?“
Richard sah sie alle auffordernd an. Schließlich rangen sich die vier restlichen Rammsteiner zu einem Nicken durch. Paul sah seinen Freund dankend an, dann liefen sie noch einmal zu dem Bus zurück. Bis auf die ihre Handys und zwei noch nicht kaputte Flaschen Wasser fanden sie nichts Nützliches. Die Flaschen machten die Runde unter ihnen und waren schließlich leer. Dann setzten sie sich in Bewegung, in die Richtung, in die Paul wollte. Sie hatten schon ein mulmiges Gefühl bei der Tatsache, dass sie so ganz ohne irgendwelche Ausrüstung oder Verpflegung blindlings in die Halbwüste hineinmarschierten, doch was sollten sie sonst machen? Sicher, sie hätten bei dem umgekippten Bus bleiben können, doch sie hielten diese Stelle nicht mehr für sonderlich sicher. Und was Paul und Richard anging, so vertraute der eine darauf, dass der andere schon wusste, was er tat, was ja auch der Wahrheit entsprach. Paul wusste tatsächlich, wo er hinwollte, er war ja auch der einzige, der sich hier auskannte.
Nach gut einer Stunde stießen sie auf das Ende der Halbwüste und das Bild, was sich ihnen dahinter bot, ließ sie erstaunt anhalten und verwirrt blinzeln. Die Halbwüste ging abrupt in eine weitläufige Sandwüste über, was sie aber nicht ganz so verwunderte, wie die Tatsache, dass sich rechts neben der Wüste ein dichter Dschungel befand. Nur ein schmaler Streifen Gras, vielleicht zwei Meter breit, trennte diese so gegensätzlichen Lebensräume voneinander. So etwas hatten sie noch nie gesehen, zumindest fünf der Rammsteiner nicht. Paul hingegen war ganz froh, dass sie verhältnismäßig schnell diese Stelle erreicht hatten. Er konnte sich ganz gut vorstellen, wie befremdlich dieser Anblick auf seine Freunde wirken musste, trotzdem hoffte er, dass sie auch jetzt auf seinen Rat hören würden.
„Paul?“ Wie zur Bestätigung hörte er Schneiders Stimme. Er musste sich stark ein Grinsen verkneifen.
„Du willst uns doch jetzt nicht wirklich erzählen, dass DAS hier“, der Drummer zeigte mit weit ausladender Geste auf das Gelände vor ihnen, „unser Weg hier raus sein soll?“
Der Angesprochene konnte nur nicken.
„Das ist doch nicht dein Ernst, Paul! Damit schickst du uns mitten durch die Wüste!“
Olli hörte sich ziemlich aufgebracht an.
„Ja glaubst du denn, dass es besser ist, in dieser Savanne hier rumzulaufen?“
Richard unterbrach sich kurz, weil er tief Luft holen musste. In der letzten halben Stunde hatte er den Eindruck gehabt, dass ihm das Atmen schwerer fiel, war sich aber nicht sicher.
„Ich bin der Meinung, dass wir hier lang gehen sollten. Jetzt haben wir wenigstens einen Weg auf dem wir bleiben können...“
Wieder unterbrach er sich, er musste husten. Nicht schlimm, aber er fand es doch ein wenig merkwürdig. Pauls Gesichtsausdruck wurde um einiges besorgter, als es noch vor ein paar Stunden der Fall war.
Die anderen vier sahen sich immer noch zweifelnd an. Till, der ziemlich ruhig geworden war, gab sich schließlich einen Ruck: „Gut. Dann gehen wir eben da lang. Wie ihr meint...“
Die beiden Gitarristen warfen sich wissende Blicke zu und dann setzten sich doch tatsächlich alle sechs wieder in Bewegung und betraten diesen merkwürdigen Weg zwischen Wüste und Dschungel.
Er(n)ste Symptome
Sie waren schon ein gutes Stück gelaufen, als Richard plötzlich anhielt und sich gegen einen Baumstamm lehnte. Paul, der neben ihm lief, sah ihn fragend an: „Richard? Alles in Ordnung mit dir?“ Seine Stimme schien einen besorgten Dauerton angenommen zu haben und auch die anderen vier sahen den Gitarristen an.
„Ja.“, sagte er, „Ja, mir geht’s gut, mir war nur kurz schwindelig...“ Seine Stimme klang nicht mehr ruhig, sondern nur noch leise und er wischte sich über die schweißnasse Stirn. Dabei entblößte er den rechten Unterarm und damit die tiefen Schnitte, die sich über diesen zogen.
„Das sieht aber gar nicht gut aus. Bist du dir sicher, dass es dir gut geht?“ Es war Flake, der diese Frage offen stellte.
„Ja! Das hab ich doch schon mal gesagt: Mir geht es gut!“, erwiderte Richard nun leicht gereizt. Seine Stimme klang aber genauso leise, wie vorher.
Dabei sah er überhaupt nicht mehr so aus, als würde es ihm „gut“ gehen. Die Schnitte auf dem Arm bluteten zwar nicht mehr, dafür hatten sie sich übel gerötet und sahen schon fast entzündet aus. Weißlich-gelber Eiter lief aus dem tiefsten der Risse. Dabei waren doch erst ein paar Stunden vergangen, seit er von diesem Etwas angegriffen worden war. Paul überlegte die ganze Zeit, ob er seinen Freunden nun sagen sollte, was dieses Es war, ließ es dann aber doch bleiben. Er hatte Angst davor und die anderen hätten ihm sowieso nicht geglaubt.
Schneider riss ihn aus seinen Gedanken: „Vielleicht sollten wir eine Pause einlegen, bis es dir wieder besser geht?“ Er meinte damit natürlich Richard.
‚Keine Chance’, dachte sich Paul, ‚es wird ihm nicht besser gehen, eher schlechter...’
„Nein“, murmelte nun auch Richard, „wir gehen weiter. Irgendwo muss es doch Hilfe geben...“
Damit stieß er sich von dem Baumstamm ab und begann schwankend seinen Weg fortzusetzen. Ohne einen weiteren Kommentar setzten sich die anderen nun auch wieder in Bewegung.
Olli brach das Schweigen: „Und woher sollen wir diese Hilfe bekommen? Wir sind dank Pauls glorreichem Einfall mitten in der Wüste, haben keinen Handy-Empfang und wissen nicht, wo wir sind. Wo willst du da Hilfe herbekommen?“
Richard antwortete nicht. Er hatte keine Lust, sich auf eine langwierige Diskussion einzulassen, dass sie sich ja gar nicht mitten in der Wüste befanden, sondern eher am Rande davon. Immer noch fand er diese Gegend sehr seltsam, gleichzeitig hatte er das Gefühl, dass er sich hier eigentlich auskennen müsste. Woher kam das nur?
Er wusste selbst nicht, warum er unbedingt hatte diesen Weg entlanggehen wollen, sein Instinkt trieb ihn dazu. Und die anderen hatten sich sowieso noch nie gegen seinen Dickschädel durchsetzen können. Er ahnte auch nicht, dass Paul damit gerechnet hatte, dass sein Freund ihm zustimmen würde, was den Weg betraf. Um etwas zu ahnen, oder über etwas nachzudenken, war Richard viel zu erschöpft. Es war ihm unerträglich heiß und gleichzeitig zitterte er vor Kälte, sein Zustand hatte sich in der kurzen Zeit bereits drastisch verschlechtert, was den anderen allerdings noch nicht aufgefallen war. Außerdem war ihm schwindlig und ständig verschwamm ihm die Sicht vor seinen Augen. Er vermochte nicht zu sagen, wie lange ihn seine Beine noch tragen konnten.
Diese unausgesprochene Frage wurde ca. zwei Stunden später beantwortet. Die größte Mittagshitze war vorüber, es war früher Nachmittag. Wieder blieb Richard stehen, nachdem er sich jeden Schritt vorwärts gequält hatte. Er konnte einfach nicht mehr. Pauls Frage, ob sie eine Pause machen sollten, hörte er nur noch aus weiter Ferne und bevor er auf dem Boden aufschlug, war er auch schon in eine friedliche Bewusstlosigkeit geglitten.
Paul hatte seinen Freund die letzten beiden Stunden mit wachsendem Unbehagen beobachtet. Er wusste, dass sich Richards Zustand noch um Einiges verschlechtern würde. Und das war noch untertrieben. Es war dem schwarzhaarigen Gitarristen anzusehen, dass er kurz vor einem Zusammenbruch stand. Auch das Zittern war Paul nicht entgangen. Er hielt sich immer in Richards Nähe und auch Flake, der hinter ihnen lief, wurde immer besorgter. Till, Olli und Schneider, die mehr oder weniger stur den Weg entlang liefen, bemerkten nicht, dass die drei hinter ihnen immer langsamer wurden. Als Paul jedoch laut Richards Namen schrie, schauten sie sich überrascht und besorgt um.
Paul hatte gerade noch verhindern können, dass Richard mit dem Kopf auf dem Boden aufschlug. Jetzt legte er ihn behutsam ins Gras, als die anderen drei angelaufen kamen.
„Was ist passiert?“ Till klang nicht minder besorgt, als seine Bandkollegen aussahen.
„Ich weiß nicht. Richard ist auf einmal stehen geblieben. Paul fragte ihn noch, ob er eine Pause brauchte, aber er antwortete nicht, sondern brach plötzlich zusammen.“ Flake hörte sich ganz hilflos an.
Paul kniete sich neben seinen Freund und schüttelte ihn sacht. „Richard? Kannst du mich hören? Sag was.“
Doch der antwortete nicht. Stattdessen kam nur ein leichtes Stöhnen über seine Lippen. Flake kniete sich nun ebenfalls hin und befühlte Richards Stirn.
„Meine Güte! Der glüht ja!“
„Fieber...“, murmelte Paul vor sich hin, „...das hat gerade noch gefehlt...“
„Hast du was gesagt?“ Jetzt war es Schneider, der sich ebenfalls über den Gitarristen beugte.
„Was? Nein, ist nicht so wichtig...“, versuchte Paul mal wieder auszuweichen. „Wir müssen ihn irgendwie wieder wachbekommen....Richard! Hey, hörst du mich?“
Paul schrie beinahe und verpasste dem am Boden Liegenden ein paar saftige Ohrfeigen.
Richard hörte, wie jemand seinen Namen rief, es war eine vertraute Stimme, aber irgendetwas in ihm wehrte sich, aufzuwachen, diese beruhigende Dunkelheit wieder zu verlassen. Stimmen, Gemurmel und auf einmal fühlte er einen glühenden Schmerz auf der Wange. Richard schlug die Augen auf und sah direkt in die besorgten Gesichter seiner fünf Bandkollegen.
„Richard?“, fragte Paul noch einmal, „Hörst du mich?“
„Ja...“, kam es mit rauer, müde klingender Stimme von dem Angesprochenen. „Was ist passiert?“, fragte er daraufhin dumpf, mehr zu sich selbst, als zu den Menschen, die mit besorgtem Gesichtsausdruck um ihn herumstanden.
„Du bist zusammengebrochen und warst kurz bewusstlos.“
Er hörte Tills Stimme, wie durch eine dicke Mauer und brauchte einen Moment, um den Inhalt der Worte zu begreifen. Dann nickte er langsam, zum Zeichen, dass er es verstanden hatte.
„Kannst du aufstehen?“ Das war wieder Paul.
„Ja, ich glaub schon...ich...glaub schon...“
Leise murmelnd versuchte Richard sich aufzusetzen. Plötzlich drehte sich alles um ihn herum und es wurde ihm schwarz vor Augen.
„Ruhig Mensch, mach langsam!“, rief Paul und wollte ihm schon helfen, als Richard auf einmal den Kopf zur Seite neigte und sich übergab. Olli und Till sprangen hastig zurück, um nicht getroffen zu werden.
Richard drehte es durch heftige Krämpfe auf die Seite. Er stützte sich mit beiden Händen auf den Boden und hustete und spuckte, bis nichts mehr kam. Danach sank er zurück in seine liegende Position, wurde aber von Till und Olli abgehalten, in sein eigenes Erbrochenes zu fallen. Paul hatte auch das kommen sehen. Er besah sich Richards Mageninhalt näher, es war Blut dabei. ‚Na super’, dachte Paul bei sich, ‚jetzt haben wir den Salat, das kann ja heiter werden...’.
Die heisere Stimme seines Freundes riss ihn aus seinen Gedanken: „Ich hab Durst...“, sagte er, es war kaum mehr als ein Flüstern.
„Ja, wir auch“, meinte Olli, „aber wo bekommen wir Wasser her?“ Er wies mit ausladender Geste auf die Wüste links neben ihnen.
„Dort finden wir bestimmt nichts“, meinte Till und deutete stattdessen auf den Dschungel vor ihnen. „Warum versuchen wir es nicht mal dort?“
„Nein!“, kam es entschieden von Paul, „Nicht in den Dschungel!“
„Ach, und warum nicht?“, fragte Till angriffslustig, dem der kleinere nun langsam mit seiner besserwisserischen Art auf den Geist ging.
„Weil man sich dort schneller verlaufen kann und Gefahren nicht so leicht erkennt. Hier draußen ist es...besser...“, beendete Richards müde Stimme den aufkommenden Streit. Seine letzten Worte waren kaum mehr zu verstehen gewesen.
Paul hatte wohl seine Gründe, dass er nicht in den Dschungel wollte, aber die konnte er genauso wenig erklären, wie die gesamte beschissene Situation, in der sie sich befanden.
„Gut, bleiben wir also auf diesem Weg, wie ihr meint...“, grummelte Till gereizt. Er war eigentlich müde und sein Kopf schmerzte, doch er versuchte es zu ignorieren.
Paul beugte sich nun wieder über Richard: „Versuchen wir es noch einmal mit dem Aufstehen...“
„Ja, aber ich bezweifle, dass ich noch laufen kann..“, fiel Richard ihm leise ins Wort.
„Macht nichts, das packen wir schon.“ Schneider, der sich die ganze Zeit über nicht zu Wort gemeldet hatte, ging nun in die Hocke und legte sich Richards linken Arm um die Schulter. Till seufzte und tat dann auf der rechten Seite das Gleiche. Richard verzog kurz das Gesicht vor Schmerz, als der verletzte Arm bewegt wurde. „Oh, sorry.“, kam es von Till, was mit einem „Schon gut.“, seitens Richard quittiert wurde. Till und Schneider legten nun jeweils einen Arm um Richard und zogen ihn so in die Höhe, bis er auf seinen Füßen stand, die sein Gewicht jedoch nicht zu tragen vermochten. Hätten ihn Till und Schneider nicht gestützt, wäre er sofort wieder zusammengeklappt.
„Geht’s?“, fragte Schneider und sah Richard mit besorgt fragendem Gesichtsausdruck an. Der Schwarzhaarige hob kurz den Kopf, sah Schneider in die Augen und nickte nur. „Muss wohl...“, meinte er noch und dann setzten sich die sechs wieder in Bewegung.
Sie kamen nur quälend langsam voran. Jeder Schritt kostete Richard unglaubliche Kraft und Überwindung und er hatte Mühe, bei Bewusstsein zu bleiben. Er bemerkte nicht die immer besorgter werdenden Gesichter, sondern konzentrierte sich einfach nur darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Paul hing wieder einmal seinen Gedanken nach. ‚Wenn ich mich richtig erinnere, müsste jetzt bald eine Art Oase kommen. Zumindest gibt es da Wasser. Das könnte Richard mehr helfen, als die anderen glauben. Aber selbst wenn wir die erreichen...wie lange wird er durchhalten können? Ich weiß, was mit Richard los ist und er hat nur noch einen Tag zu leben, höchstens zwei. Wir brauchen aber mindestens vier Tage, um aus dieser Wüste zu kommen und ich hab keine Ahnung, wie ich ihm helfen kann, selbst, wenn er bis dahin überleben sollte. Was sollen wir bloß tun?’
Flake war es, der Paul wieder aus seinen trübsinnigen Gedanken riss: „Seht mal, da vorne wachsen Bäume! Da gibt es bestimmt auch Wasser!“. Die anderen schauten in die angegebene Richtung. Tatsächlich schien der schmale Grasstreifen weiter vorne breiter zu werden, sogar ein kleiner Felsen war da und mit „Bäumen“ meinte Flake auch nicht die Schlingpflanzengewächse aus dem Dschungel neben ihnen, sondern die Fichten, Birken und Erlen, die dort merkwürdigerweise wuchsen.
Sie begaben sich so schnell, wie möglich dorthin, sogar Richard schien die Aussicht auf Wasser noch einmal neue Kräfte gegeben zu haben. Als sie an besagter Stelle ankamen, sahen sie, dass da ein, wohl unterirdisch verlaufender, größerer Bach zu Tage trat. Das Wasser sah ganz klar aus, aber sie hätten es wohl auch getrunken, wenn es völlig verschlammt gewesen wäre. Till und Schneider führten Richard zu dem Wasserlauf und halfen ihm sich hinab zu beugen und zu trinken. Als er fertig war, legten sie ihn vorsichtig ins Gras und Flake gab ihm seine Jacke als Kopfkissen. Danach tranken auch die anderen.
Richard fühlte sich wieder besser. Seine Sicht wurde klarer und er fühlte sich auch nicht mehr so schwach.
„Gut, jetzt haben wir Wasser gefunden. Und jetzt? Es wird bald dunkel. Bleiben wir die Nacht über hier?“ Olli schaute in die Runde.
„Würde ich schon meinen“, sagte Flake und die anderen stimmten murmelnd zu, obwohl sie alle die Aussicht auf eine nacht unter freiem Himmel nicht so prickelnd fanden, zumindest nicht in dieser Situation.
„Gut, hier wachsen auch ein paar Bäume, Richard, bekomm ich mal bitte kurz dein Feuerzeug?“ Paul war schon damit beschäftigt, Holz für ein Feuer zu sammeln.
„Klar, warte mal kurz...“ Richard kramte in seiner Hosentasche herum und fand schließlich das Gesuchte.
„Auf Raucher ist halt Verlass“, bemerkte Schneider trocken, worauf sie alle in ein hysterisches Lachen ausbrachen. Es war irgendwie befreiend, doch nicht sehr lange, denn Richards Lachen ging in einen heftigen, krampfartigen Hustenanfall über, in Folge dessen er wieder Blut spuckte. Zutiefst erschrocken knieten sich Olli und Flake zu ihm, für Paul war es jedoch nur eine weitere Bestätigung, was den Allgemeinzustand des Gitarristen betraf.
„Trink noch was.“, sagte Olli, als sich Richards Husten wieder beruhigt hatte. Sie brachten ihn noch mal zu dem Bach und legten ihn dann wieder vorsichtig ins Gras, während Till, Schneider und Paul sich im Feuermachen versuchten. Irgendwie schafften sie es auch und hockten sich dann stumm daneben. Sie wunderten sich, dass sie keinen Hunger verspürten, aber Paul vermutete, dass sie im Augenblick sowieso nichts hätten essen können. Ständig flogen ernste und besorgte Blick zu ihrem, im Gras liegenden, Freund, der in eine Art Dämmerzustand geglitten war. Mittlerweile ging sein Atem schwerer, als hätte er gerade einen Sprint hingelegt, aber Paul wusste, dass dies nur der Anfang war. Es würde eine sehr unruhige Nacht werden, zumal es heute einen Tag nach Vollmond war und in der Wüste waren klare Nächte keine Seltenheit.
Es wurde langsam dunkel und trotz des Feuers und des Dschungels, der die Hitze des Tages ganz gut hielt, spürten sie die Kälte der hereinbrechenden Nacht der Wüste. Paul hatte sich zum ersten Mal an diesem Tag geirrt: Es waren tatsächlich Wolken aufgezogen, die den fast vollen Mond verdeckten. Richards Atem wurde wieder ruhiger, er war von seinem Dämmerzustand in einen leichten Schlaf geglitten. Die anderen sahen nun weniger besorgt aus und Paul war ganz froh darüber. Er wusste, dass das ausbleibende Mondlicht die Vergiftung, die in Richards Körper wütete, aufhielt, aber er wusste auch, dass es ihn dafür am Morgen, wenn die Sonne aufging, umso härter treffen würde. Trotzdem war die Verschnaufpause ganz gut, erhöhte sie doch die Überlebenschancen des Schwarzhaarigen für die nächsten Stunden etwas.
Paul sah sich um. Flake saß, die Arme um die Knie geschlungen da und stierte ins Feuer. Schneider lag auf dem Rücken und sah in den Nachthimmel. Zwischendurch warf er immer wieder einen Blick auf den neben ihm liegenden Richard. Olli war, im Sitzen gegen den Felsen gelehnt, eingeschlafen. Till hatte eine ähnliche Sitzhaltung wie Flake eingenommen und nickte immer wieder ein. Einzig Paul war richtig wach. ‚Trotzdem’, dachte er sich, ‚es ist besser zu schlafen oder es wenigstens zu versuchen.’ Damit warf er noch einen Ast ins Feuer, streckte sich gegenüber von Richard und Schneider aus und döste langsam ein.
Du verheimlichst uns etwas!
Er wurde von einen Schrei geweckt. Paul blinzelte, die ersten Sonnenstrahlen krochen gerade über den Horizont.
‚Was zum...’, dachte er sich, kam aber sogleich darauf, was den vorigen Tag passiert war.
„Richard!“
Er sah auf seinen Gegenüber, der sich, von Schmerzen gepeinigt, im Licht der ersten Sonnenstrahlen wand. Schneider saß daneben und versuchte ihn zu beruhigen, doch vergebens. Flake saß immer noch am gleichen Platz, an dem er auch gesessen hatte, als Paul eingeschlafen war, es war schwer zu sagen, ob er überhaupt geschlafen hatte.
Paul verfluchte sich innerlich für seine Gedankenlosigkeit. Er wusste doch, was passierte, wenn Richard in seinem Zustand dem Licht ausgesetzt war.
‚Ich hätte die anderen warnen sollen!’, sagte er sich, aber was hätte das schon genützt? Sie hätten ihm sowieso nicht geglaubt und Paul bezweifelte, dass sie das je tun würden. Er fand es ja selbst unglaublich, auch nach all den Jahren tat er das noch, zudem hätte er dann mit der Wahrheit über sich selbst herausrücken müssen und das konnte und wollte er nicht.
Paul ging um das Feuer zu seinem Freund, der im Fieberwahn um sich schlagend immer noch schrie, kniete sich neben ihn und hielt ihn fest.
„Richard, bleib ruhig, es ist in Ordnung. Lass es zu, dir geht es gleich besser, entspann dich, ganz ruhig...“, so redete Paul auf den Schwarzhaarigen ein und tatsächlich schien sich dieser etwas zu beruhigen.
„Los, bringen wir ihn zum Bach, damit er was trinken kann.“, meinte Paul und, wie bereits am vorherigen Tag erledigten Till und Olli das.
Schneider sah Paul mit einem misstrauischen Gesichtsausdruck an.
„Was ist los?“, fragte der Kleinere, dem das Gestarre allmählich auf die Nerven ging.
„Was soll Richard zulassen?“
„Wie bitte?“ Paul konnte sich keinen Reim auf die Frage von Schneider machen.
„Zulassen?“
„Ja! Du hast gerade gesagt, dass er ‚es’ zulassen soll, was immer du auch damit meinst. Vielleicht das Fieber? Oder die Schmerzen? Oder dass er Blut spuckt?“
Paul starrte den gereizten Drummer fassungslos an. ‚Verdammt’, dachte er, ‚ich muss vorsichtiger werden mit dem, was ich sage...’
„Hör mal...das hast du falsch verstanden...“, versuchte Paul dann zu beschwichtigen, doch Schneider fiel ihm ins Wort.
„Oh, ich glaube nicht, dass ich da was falsch verstanden habe! Du verheimlichst uns was Paul, du murmelst ständig etwas vor dich hin, du bist kaum ansprechbar und weichst meinen Fragen aus! Aber ich finde schon noch heraus, was da dahintersteckt!“
Damit zog Schneider an dem erstarrten Paul vorüber, nicht ahnend, dass dieser ihm am liebsten hinterher gelaufen wäre und ihm alles erzählt hätte. Paul rang mit sich. Sollte er wirklich...? Aber er konnte doch nicht! Oder sollte er noch ein letztes Mal versuchen?
Doch seine Gedankengänge wurden von einem erschrockenen Aufschrei seitens Olli unterbrochen. Paul eilte hinzu, um den Grund dafür herauszufinden.
Es tat so weh. Und es brannte auf seiner Haut. Richard dachte am Anfang, dass er tot sei, aber die Schmerzen, die seinen Körper beherrschten und sein Denken einnahmen, belehrten ihn eines Besseren. Er hatte Durst, entsetzlichen Durst und er wusste nicht, ob Wasser allein diesen befriedigen würde können. Auch das Atmen fiel ihm wieder schwerer. Pauls Rat, sich nicht dagegen zu wehren, gegen dieses Brennen und den Durst, der ihn halb wahnsinnig machte, hatte zwar gewirkt, aber trotzdem ging es ihm nicht viel besser. Er spürte, wie Olli und Till ihn hochhoben und an den kleinen Bach trugen und er war froh darüber. Er glaubte, dass das Pauls Idee gewesen war. Er wusste nicht warum, aber aus irgendeinem Grunde vertraute er ihm. Vertraute ihm mehr, als er es je in seinem Leben getan und je einem Menschen vertraut hatte. Sein Instinkt sagte ihm, dass Paul die einzige Möglichkeit war, zu überleben, so wie ihm sein Instinkt gesagt hatte, dass er lieber diesen merkwürdigen Weg zwischen Wüste und Dschungel nehmen sollte, anstatt weiter in der Savanne, die dahinter lag herumzuirren.
Plötzlich schmeckte er Wasser. Er genoss den Geschmack und trank in gierigen Zügen. Entgegen seiner Erwartung befriedigte es seinen Durst besser, als er zuerst gedacht hatte, trotzdem hatte er den Eindruck, dass er mehr als gestern trinken musste. Und dann passierte es wieder: Kaum, dass er fertig war, schüttelte ein heftiger Hustenkrampf seinen Körper und wieder spuckte er Blut, dass inzwischen eine ungewöhnliche dunkelrote Farbe hatte, so, als wäre es schon ein wenig geronnen.
„Oh scheiße!“ Flake war endlich aus seiner Lethargie erwacht und kniete nun neben Richard, der sich hustend und spuckend auf dem Boden wand. Olli und Till wussten nicht, was tun und Richard drängte es wieder zum Wasser.
„Nein!“ Paul hielt den Schwarzhaarigen energisch zurück. „Nicht ins Wasser!“
Damit zerrte er ihn ein Stück vom Ufer weg und nahm ihn in die Arme. Und während Richard immer noch von Hustenkrämpfen geschüttelt wurde, redete Paul beruhigend auf ihn ein.
„Ganz ruhig, kämpfe nicht dagegen an. Lass es geschehen, es ist gleich vorbei. Es ist gut so. Ganz ruhig...“ Er wiederholte immer wieder mit leiser Stimme diese Litanei und allmählich klang der Husten ab.
„Wasser...“, war das Einzige, was Richard mit brüchiger, kaum zu hörender Stimme hervorbrachte. Paul nickte und half seinem zitternden Freund zu dem Wasserlauf zu gehen und zu trinken.
Schneider beobachtete das alles mit misstrauischen Gesichtsausdruck.
„Schon wieder.“, sagte er, als Paul den Schwarzhaarigen ins Gras gelegt hatte.
„Was schon wieder?“ fragte er nun, obwohl er ziemlich genau wusste, worauf Schneider hinaus wollte.
„Du hast schon wieder davon geredet, dass Richard sich nicht gegen ‚es’ wehren soll.“, meinte der Drummer mit einem Kopfrucken in Richards Richtung.
„Was soll das Paul? Wogegen soll er sich nicht wehren?“
Jetzt sahen auch die anderen vier den Kleinsten unter ihnen fragend an. Paul fühlte sich zunehmend unwohl in seiner Haut.
„Das...das würdest du nicht verstehen...das würdet ihr nicht verstehen...“, begann er ausweichend, wurde aber sofort von einem sehr wütenden Schneider unterbrochen: „Was würde ich nicht verstehen? Was würden wir nicht verstehen? Ich hab es dir vorhin schon einmal gesagt: Du verheimlichst uns etwas. Du bist nicht der Einzige, der sich hier Sorgen macht. Und indem du uns nicht einweihst, was Richards Zustand betrifft, werden wir nie erfahren, was ihm fehlt und wie wir ihm helfen können!“
‚Ach kleiner Mensch’, dachte sich Paul, ‚mir ist ja klar, dass du dir Sorgen machst, aber wie willst du schon helfen? Nicht mal ich kann ihm helfen, ich kann seine Schmerzen nur lindern und das Ende so lange, wie möglich herauszögern. Wirklich helfen kann ich ihm auch nicht. So sehr ich ihm gerne helfen würde, ich kann es nicht!’
Pauls Gesicht nahm kurz einen wehmütigen Gesichtsausdruck an, als er sich an den Moment in seiner Kindheit erinnerte, der sein Leben für immer verändert hatte. Er konnte es ihnen nicht sagen! Wer weiß, wie sie reagieren würden? Er wusste, wie andere Menschen reagiert hatten, Menschen, die ihm womöglich noch näher standen als seine Freunde und das war ihm als nicht sehr angenehm im Gedächtnis geblieben. Er hatte Angst und misstraute den Menschen, selbst, wenn er sie jahrelang kannte. Das war bei seinen anderen Versuchen auch so gewesen und immer hatten sie alle gleich reagiert.
Während er fieberhaft nach einer Ausrede suchte, deutete Schneider Pauls Schweigen ganz anders: „Gut! Du willst es uns also nicht sagen! Bitte! Dann mach doch, was du willst! Aber komm bloß nicht in Richards Nähe! Ich werde nicht tatenlos zusehen, wie du ihn umbringst!“ Schneider weinte fast, als er die letzten Worte nur so herausspie. Paul war durch den Ausbruch wie betäubt, so dass er zuerst nicht hörte, was sein schwarzhaariger Freund mit leiser, brüchiger Stimmer sagte.
„Jetzt lass...ihn doch mal in...Ruhe...“ Das Atmen fiel Richard immer schwerer, ständig wurde er durch Krämpfe unterbrochen. „Er...bringt mich schon nicht...um...Es...war bis jetzt...immer...hilfreich, was er getan...hat......Ich...vertraue...ihm...“
Die letzten drei Worte sprach er mit Nachdruck, dann schloss er die Augen. Das Sprechen hatte ihn ermüdet.
Schneider sah zu Richard, dann zu Paul und wieder zu Richard. Dann seufzte er stumm und zuckte nur mit den Achseln. Die anderen hatten die Auseinandersetzung still verfolgt. Sie sahen Paul immer noch fragend an. Der ignorierte die Blicke und sagte leise: „Er muss in den Schatten, da wird es ihm besser gehen. Kann aber sein, dass er noch einmal Blut spuckt...“
„Und das ist dann gut, ja?“ Schneider konnte sich den bissigen Kommentar nicht verkneifen.
„Ja“, sagte Paul nur und sah den am Boden Liegenden nachdenklich an, „ja, das ist dann gut...“
Während Till und Olli Richard in den Schatten verfrachteten und sorgfältig darauf achteten, ihm nicht noch mehr weh zu tun, sann Paul über Richards Vertrauen und das wachsende Misstrauen des Drummers ihm gegenüber nach.
‚Tja, das war’s dann wohl, Schneider misstraut mir. Die anderen mittlerweile auch. Nur Richard nicht. Das geht aber nur, wenn er einer wie ich ist. Oder zumindest zum Teil. Meine Tarnung wird wohl bald auffliegen, denn selbst, wenn es für ihn keine Rettung mehr gibt, werde ich ihn doch nicht unnötig leiden lassen. Außerdem wir der bald wissen wollen, was mit ihm los ist. Naja, ich hatte ja gewusst, dass ich mich nicht ewig verstecken kann. Aber wie werden sie reagieren? Wie werden sie auf Richard reagieren, wenn er es doch überleben sollte? Immerhin sind das hier meine besten Freunde, auch, wenn es Menschen sind und Richard geht es nicht anders. Aber Richard wäre dann auch kein Mensch mehr. Er wäre so wie ich. Oder zumindest so ähnlich. Was soll ich bloß machen?’
Es war nicht das erste Mal, dass er sich diese Fragen stellte. Er hatte Angst, nicht nur um sich, sondern um seinen Freund, der ihm jetzt so viel näher war, als die anderen nicht mal zu träumen vermochten. Oh nein, um sich hatte er eigentlich überhaupt keine Angst, er konnte auf sich selbst aufpassen. Er fand sich auch allein aus dieser Gegend. Aber um seine Freunde hatte er Angst. Die Menschen würden hier draußen nie alleine überleben, wie denn auch? Und Richard? Ohne seine Hilfe wäre er schon längst tot.
Paul hatte recht behalten. Sobald sie im Schatten waren, bekam Richard wieder einen Hustenanfall. Doch so langsam schien er sich daran zu gewöhnen. Das Atmen war jetzt nicht mehr so schwer.
Richard spürte, wie sein neuer Verwandter näher kam und sich neben ihn setzte. Dann schlug er die Augen auf und sah direkt in die von Paul.
„So, Weißer.“
Paul sah ihn erschrocken an: „Warum nennst du mich so?“
„Ich weiß nicht, mir kam der Name gerade so ein...“, weiter kam Richard nicht, denn ein weiterer Hustenanfall schüttelte ihn. Nachdem er sich beruhigt hatte, fragte Paul besorgt: „Wie fühlst du dich?“ Richards Blick war nach dem Anfall abwesend.
„Müde...“, murmelte er vor sich hin, „und schwach...“
Till, Olli, Flake und Schneider tauschten besorgte Blicke. Letzterer sah finster zu Paul. Dann wurde Richards Blick wieder klarer. Er fixierte Pauls Augen und sagte mit leiser, aber dennoch fester Stimme: „Und nun erzähl mal Weißer......Was ist los mit mir?“
Paul seufzte und sah Richard nachdenklich an. Ihm war von Anfang an klar gewesen, dass er irgendwann einmal mit der Wahrheit herausrücken musste. Trotzdem hatte er Angst davor. Nicht so sehr vor dem Gitarristen, der neben ihm lag, sondern viel mehr vor den Menschen, die mittlerweile ziemlich sauer auf ihn waren, vor allem einer von ihnen, das spürte er ganz deutlich. Aber er konnte Richard auch nicht einfach so vorenthalten, was jetzt auf diesen zukam, falls er überleben sollte.
Der Schwarzhaarige schloss die Augen. Seine Stimme war unglaublich leise und verriet ein Art Resigniertheit, die Paul beinahe die Tränen in die Augen trieb. Irgendwie klang sie aber auch verständnisvoll: „Du willst es mir also nicht sagen?“
Paul nahm Richards Hand in die seine.
„Nein“, meinte er leise mit einem Hauch Bitterkeit, „ich will es dir...euch nicht sagen. Um ehrlich zu sein, habe ich Angst davor, es zu sagen. Ich habe eine Angst davor, das könnt ihr euch nicht vorstellen. Aber das, was ich will oder, was auf mich jetzt zukommt, spielt keine Rolle. Nicht jetzt. Also werde ich es wohl sagen...müssen...“
Richard schlug wieder die Augen auf, er hatte Mühe, Pauls Augen zu fixieren. Er drückte kurz die Hand des neben ihm Sitzenden, spuckte noch einmal Blut und sagte dann: „Na dann schieß mal los...Weißer...“
Paul seufzte noch einmal, dann begann er: „Also gut...Was weißt du...ihr...Was wisst ihr über Werwölfe und Vampire?“
Von Schneider kam ein Schnauben, Flake konterte mit einem „Sowas gibt’s doch gar nicht!“ und Olli hätte am liebsten laut aufgelacht, wenn die Situation nicht so todernst gewesen wäre, im wahrsten Sinne des Wortes. Nur Richard schien die Frage ernst zu nehmen und er antwortete leise: „Nicht viel...warum?“ Paul seufzte wieder. Er war zwar bereit, es ihnen jetzt zu sagen, wusste aber nicht, wo anfangen und wie er es ihnen am besten beibringen sollte.
„Nun erst mal muss ich sagen, dass es Vampire und Werwölfe wirklich gibt...“
„Das glaubst du doch wohl selbst nicht!“ Schneiders Einwurf unterbrach Paul. Dieser holte tief Luft und sah dem Drummer direkt in die Augen. „Doch! Genau das glaube ich!“ Richard drückte beruhigend Pauls Hand und der setzte wieder an: „Und wie ihr wisst, habe ich ein Jahr in meiner Kindheit in Russland verbracht...“
„Ach ja, und da bist du dann von ’nem Werwolf gebissen worden? Das ich nicht lache...“
„Christoph!“ Alle Köpfe wandten sich Richard zu, der es irgendwie geschafft hatte, sich aufzurichten und augenblicklich einen neuerlichen Hustenkrampf bekam. Dieser war
schlimmer als die anderen, der Atem des Schwarzhaarigen ging rasselnd und er hatte das Gefühl, es müsste ihn innerlich zerreißen. Er spuckte mehr Blut als vorher und konnte sich gar nicht mehr beruhigen.
Schließlich klang der Husten allmählich ab und Paul bettete Richard vorsichtig wieder ins Gras.
„Was ich noch sagen wollte...“, der Schwarzhaarige klang mehr als heißer, „lass ihn...ausreden...“
Schneider nickte stumm und sah betreten zu Boden.
Paul fuhr sich gedankenverloren über die schweren Narben an seinem Hals, die vor ein paar Minuten zum zweiten Mal seit Jahren wieder aufgetaucht waren. Er wusste, dass er in dem Augenblick im Nacken und am Rücken auch so aussah: Überreste schwerer Bissverletzungen und Krallenspuren, die ihn wohl zeichnen würden, wenn...ja wenn Paul nicht eben doch etwas anders wäre. Er sah zu Schneider und drückte nun seinerseits dankbar Richards Hand. „Nun...eigentlich hat er ja recht. Ich bin tatsächlich von einem Werwolf gebissen wurden. Er hatte sich nicht mehr unter Kontrolle und hat mich von hinten angefallen und sich in meinen Hals verbissen.“ Paul tippte auf die Narben an seinem Hals. Richards Blick folgte angestrengt Pauls Hand und die anderen taten es ihm gleich.
„Meine Güte, Paul!“ Till, der die ganze Zeit über nichts gesagt hatte, wirkte ehrlich schockiert.
„Meine Schultern und der Rücken sehen auch so aus, ist aber nicht weiter schlimm...“, versuchte Paul zu beruhigen. Die schockierten und betretenen Gesichter verwirrten ihn. Schließlich waren sie Menschen! Wie konnten sie da schockiert sein? Bis jetzt war es doch immer so gewesen, dass das keinen interessiert hatte.
Aber das war im Moment egal, denn ob sie jetzt nun glaubten, dass er von einem Werwolf angegriffen worden war oder nicht, sie sahen, dass es einem Wunder gleichkam, dass Paul überhaupt noch am Leben war. Richard war es, der diese Tatsache dann auch laut, oder eher leise, aussprach: „Nicht schlimm?“, seine Stimme klang wieder brüchig, gleichzeitig aber auch entrüstet. „Paul, du wärst bestimmt...beinahe...draufgegangen...“
„Nun ja, es war schwer, es nicht zu tun...“, gab Paul daraufhin zurück und ein leises Lächeln stahl sich auf Richards Lippen.
Schneider wirkte nun noch betretener, trotzdem konnte er eine Frage nicht zurückhalten: „Aber warum ist uns das nie aufgefallen? Benutzt du ein besonderes Make-up, oder so was? Und dann hättest du dich doch auch verwandeln müssen, oder?“
Jetzt musste auch Paul grinsen.
„Nein, die Narben waren die ganze Zeit über nicht da, sie sind erst vor ein paar Minuten wieder aufgetaucht...Sie tauchen immer auf, wenn...“
Paul hielt inne, er wusste nicht, was er sagen sollte und beschloss dann, dieses Thema zu überspringen. Der nächste Teil dann kam ihm allerdings mindestens genauso schwer über die Lippen: „Ihr müsst wissen...Werwölfe sind verfluchte Lebewesen. Und die Wunden, die sie schlagen, sind auch verflucht. Sie heilen nur sehr langsam bis nie und die Bisswunden brechen bei jeder Verwandlung neu auf und beginnen zu bluten...“
Paul holte tief Luft: „Der Fluch besteht darin, sich bei jedem Vollmond in einen Wolf zu verwandeln...und möglichst viele Menschen zu beißen. Die meisten von uns haben sich aber so weit unter Kontrolle, dass sie das nicht tun und sich in menschenleere Gebiete zurückziehen...“
Paul stockte. Schmerzliche Bilder aus seiner Kindheit drängten wieder in ihm hoch.
„Das heißt dann also, dass du ein...Werwolf bist.“, meldete sich Richard wieder zu Wort. Er unterbrach sich kurz, das Reden fiel ihm immer schwerer. „Aber...warum haben wir das nie...mitbekommen?“
Paul sah auf seinen sterbenden Freund hinunter, dessen Zustand sich von Minute zu Minute verschlechterte. ‚Er wird immer schwächer. Aber noch kämpft er. Wenn ich doch bloß etwas für ihn tun könnte...’
Er hatte recht. Richard kämpfte gegen die Vergiftung, die von der Begegnung mit diesem Wesen verursacht worden war, die sein Blut zur Gerinnung brachte und ihn langsam, aber sicher, ersticken ließ.
Der Werwolf riss sich von diesem traurigen Gedanken los, um auf Richards Frage zu antworten: „Nun ja, ich hatte gewissermaßen Glück im Unglück, wie man so schön sagt. Aus irgendeinem Grunde hatte ich mich nämlich beim nächsten Vollmond nicht in einen ‚normalen’ Werwolf verwandelt, sondern...“
„In einen Weißen...“, beendete Schneider Pauls Satz, was mit erstaunten Blicken quittiert wurde. Schneider machte ein entschuldigendes Gesicht, weil er Paul schon wieder unterbrochen hatte.
„Sorry, aber Richard hat dich vorhin ‚Weißer’ genannt und deshalb dachte ich...“
„Schon gut, es stimmt ja auch“, kam es von Paul. Richard drückte dessen Hand, um auf sich aufmerksam zu machen und Paul sah zu ihm hinunter.
„Gut...aber...was...“ Wieder ein Hustenanfall.
‚Es wird langsam wirklich knapp...ich glaube nicht, dass...’
Paul schüttelte leicht den Kopf, um den Gedanken wieder loszuwerden, der ihn immer wieder wie eine lästige Fliege störte.
Richard beendete seine angefangene Frage: „Was...ist daran jetzt...Besonderes, Weißer?“
„Nun das Besondere war, dass meine Verletzungen erstaunlich schnell heilten. Wie ich vorhin schon sagte, ist normalerweise das Gegenteil der Fall. Ihr müsst außerdem wissen, dass weiße Werwölfe sehr selten sind. Derzeit gibt es nur fünf auf der Welt, mich mit eingerechnet. Weiße Werwölfe sind die einzigen, die nicht an den Mond gebunden sind, wenn es um ihre Verwandlung geht. Sie müssen sich nur einmal verwandeln und zwar, wie alle Werwölfe, am ersten Vollmond nach dem Biss. Danach können sie ein fast normales Leben führen. Wenn sie wollen, müssen sie sich nie wieder verwandeln. Und auch wenn sie das tun sollten, haben sie sich immer unter Kontrolle. Sie können sogar noch mit Menschen sprechen. Sie behalten schlicht und einfach den Verstand.“
Nun war es also heraus. Er sah die Menschen unsicher an und die starrten mit einem undefinierbaren Ausdruck in den Augen zurück.
„Das heißt also...“ Till sprach sehr langsam, als müsste er die Neuigkeit, dass sein Bandkollege sich nicht an jedem Vollmond in eine reißende, unkontrollierbare Bestie verwandeln würde und überhaupt kein Mensch war, wie sie erst gedacht hatten, erst einmal verdauen.
„Das heißt also, du könntest dich jetzt auch verwandeln?“
Es schien überhaupt nicht mehr zur Debatte zu stehen, dass sie das Ganze immer noch unglaublich fanden. Dafür waren viel zu viele eigentlich unglaubliche Informationen auf einmal auf die vier Menschen eingeprasselt.
„Ja.“, sagte Paul ebenso langsam, „Ja, das könnte ich tatsächlich...“
„Und...würdest du es...auch...tun, Weißer?“
Hoffnungslos...
Richards Augen glänzten, zum Einen vor Fieber und Schmerz, zum Anderen konnte man bei genauerem Hinsehen auch einen Funken Hoffnung erkennen. Hoffnung? Richard wusste selbst nicht, woher er die nahm, er wusste nicht einmal, warum er noch einen klaren Gedanken fassen konnte. Verschwommene Bilder kamen ihm immer wieder in den Sinn. Er konnte ja nicht ahnen, dass es wieder sein Instinkt war, der ihn dazu trieb, sein Instinkt, der ihn dazu brachte, dem Werwolf ein solches grenzenloses Vertrauen entgegen zu bringen und ihn als seinesgleichen zu akzeptieren. Als Seinesgleichen? Richard hätte den Kopf geschüttelt bei diesem Gedanken, wenn er dazu noch in der Lage gewesen wäre. Dann hörte er wieder Pauls Stimme, diesmal dicht an seinem Ohr. Der Werwolf hatte sich zu im hinuntergebeugt, nachdem auf seine erste Antwort keine Reaktion erfolgt war.
„Ja, ich werde es tun, aber dazu musst du mich auch ansehen, verstehst du mich? Richard? Du musst hinsehen und wach bleiben, ja?“
Richard nahm sich zusammen und versuchte den Blick wieder klar zu bekommen. Dann sah er Paul an. „Ja...und jetzt...leg los...Weißer...“
Seine letzten Worte waren mehr gehaucht als gesprochen, doch es reichte Paul. Er hatte schon das Schlimmste befürchtet. Sollte Richard jetzt das Bewusstsein verlieren, würde er wohl nie wieder aufwachen. Paul stand auf und trat ein paar Schritte zurück.
„Ok“, sagte er leise zu sich selbst. „Dann mal los...“
Und er schloss die Augen. Im selben Moment schien ein Art Kraft durch seinen Körper zu pulsieren. Die Narben an seinem Hals brachen auf. Blut lief an ihm hinunter. Paul schlug die Augen auf und ein urtümliches schauriges Heulen entfuhr seiner Kehle. Fasziniert und entsetzt, dass er die Wahrheit gesagt hatte, sahen die anderen seiner Verwandlung zu. Selbst, wenn sie gewollt hätten – sie konnten ihren Blick einfach nicht von ihrem langjährigen Freund nehmen, den sie glaubten, so gut gekannt zu haben.
Nun veränderte sich Pauls Körper. Die Zähne wurden spitzer, sein Kopf zog sich in die Länge. Überall sprossen ihm Haare. Die Hände und Füße ballten sich zu Pfoten, eine Wolfsrute wuchs ihm. Dann wurden die Schultern nicht kleiner, sondern eher größer und obwohl er auf die Vorderpfoten fiel, schien seine Größe nur unmerklich abzunehmen.
Als die Verwandlung beendet war, stand ein schneeweißer Wolf vor ihnen. Allerdings war das der riesigste Wolf, den sie je gesehen hatten. Seine Schulterhöhe betrug um die 150cm. Das weiche Fell war sehr lang und über Hals und Nacken schien sich eine Art Mähne zu ziehen, die sie auf dem Rücken verlor. Einzig die Augen waren die selben. Und die Art, wie sie zu den Menschen schauten, die ihn ihrerseits fassungslos anstarrten und versuchten das soeben Gesehene zu verarbeiten.
Der Werwolf streckte sich ausgiebig, dann schüttelte er sich kurz, dass die Haare nur so flogen. Er musste sich erst einmal wieder an seinen Körper gewöhnen. Schließlich war es das erste Mal seit Jahren, dass er sich wieder verwandelt hatte.
Vorsichtig beäugte er die Menschen vor sich, dann ging er langsam und gemessenen Schrittes auf sie zu. Er war angespannt, das sah man ihm deutlich an. Er hatte schon immer Angst vor diesen Momenten gehabt, denn jetzt entschied sich, ob die Menschen ihn immer noch als ihren Freund akzeptierten, oder...ob es anders war. Und bis jetzt war es immer anders gewesen. Entweder waren die Menschen weggelaufen oder hatten versucht, ihn umzubringen. Der Weiße war schon oft von vermeintlichen Freunden enttäuscht worden, dass er sich einfach nicht vorstellen konnte, dass seine Bandkollegen anders als die anderen Menschen reagieren würden.
Doch genau das taten sie. Für sie gab es keinen Grund, warum sie jetzt hätten weglaufen sollen, schließlich schien keine Bedrohung von dem riesigen Wolf auszugehen. Außerdem waren sie noch immer leicht schockiert über das, was sie die letzten Minuten gesehen und erlebt hatten und in ihrer momentanen Situation blieb ihnen sowieso nichts Anderes übrig, als ihrem Freund zu vertrauen.
Schneider machte schließlich den Anfang und trat unsicher einen Schritt vorwärts, auf Paul zu. Der blieb stehen und starrte den Menschen unverwandt an. Schließlich fand Schneider seine Stimme wieder und murmelte leise: „Paul, es tut mir leid, dass ich dir nicht geglaubt habe, es...“
„Schon gut...vergiss es...“, gab Paul zurück. Mehr brachte er nicht hervor. Er konnte es nicht fassen, dass sich ein Mensch bei ihm entschuldigte.
Sie ihrerseits sahen ihn überrascht an. Seine Worte waren zwar mehr ein grollendes Knurren als ein Sprechen, aber sie konnten ihn doch verstehen. Aber das hatte er ja auch eigentlich erzählt, oder?
Vorsichtig machte Paul noch einen Schritt auf die Menschen zu. Als sich keiner rührte, ging er an Schneider vorbei, nicht ohne ihn kurz mit der Schnauze anzustupsen und hielt geradewegs auf Richard zu, der ihn ansah, als hätte er das alles schon hundertmal gesehen. In gewissen Sinne war das auch so. Nun legte sich der Weiße neben den Schwarzhaarigen und sofort fühlte der sich besser. Aus irgendeinem Grunde schien die bloße Anwesenheit des Werwolfs Richard neue Energie zu geben. Er hatte sogar genug Kraft, um den Arm zu heben und mit der Hand kurz über das weiche, weiße Fell zu streichen.
„Gut.“, meinte er dann, seine Stimme war wieder klarer. „Jetzt wissen wir also...was mit dir los ist......Aber du hast...immer noch nicht...meine Frage beantwortet, Weißer......Was ist los mit...mir?“
Paul sah Richard lange in die Augen, dann legte er den Kopf zwischen die Pfoten. Er schien nachzudenken. Dann setzte er wieder zu sprechen an: „Also...“
Weiter kam er erst einmal nicht. Er hatte Probleme seine Zunge und die Zähne zu koordinieren. Es wäre einfacher gewesen, wenn er sich wieder zurückverwandelt hätte, doch das ging nicht. Er musste seine momentane Gestalt beibehalten, stoppte diese immerhin Richards Vergiftung und zögerte somit sein Ende hinaus.
‚Na schön’, dachte er sich, ‚da gewöhne ich mich endlich wieder daran. Könnte ja sein, dass ich mich in nächster Zeit öfter verwandeln muss, als mir lieb ist...’
Er ordnete seine Gedanken(und seine Zunge) und versuchte es noch einmal: „Gut, wo mache ich jetzt weiter?“
Wieder eine Pause. Irgendwie wusste er nicht, wie er weiter erzählen sollte. Dann sah er noch einmal zu Richard.
„Hmm...du wolltest wissen, was mit dir los ist...dazu muss ich allerdings noch etwas mehr ausholen...Ich muss noch euch noch etwas über Vampire erzählen. Also: Was wisst ihr über sie?“ Die Frage war wieder an alle gerichtet. Diesmal gab es keine ablehnenden Reaktionen, sie schienen sich ernsthaft Gedanken darüber zu machen.
‚Gut’, dachte sich der Weiße, ‚mal sehen, was sie über eine Sache wissen, die es eigentlich gar nicht gibt...’ Schneider machte den Anfang: „Sie sind Blutsauger...Silber und Knoblauch und Kreuze töten sie...“
„Lass die Kreuze weg, dann stimmt es...“, fuhr ihm Paul dazwischen.
„Sie sind Untote...“, das kam von Flake.
„Nicht unbedingt.“, knurrte der Werwolf, „Schließlich können sie auch sterben und das können Untote für gewöhnlich nicht mehr. Und Schneider hatte ja schon ein paar Möglichkeiten aufgezählt, einen Vampir zu töten...“
„Nun ja, sie saugen halt Blut. Und wenn man von einem Vampir gebissen wird, dann wird man auch ein Vampir, so ähnlich, wie bei Werwölfen, oder?“ Till sah Paul fragend an.
„Ja, das kommt in den meisten Fällen auch hin.“, bestätigte der mit einem Nicken.
„Und sie verbrennen, wenn sie dem Sonnenlicht ausgesetzt sind...Moment mal...“
Ollis Augen hatten sich geweitet. Er erinnerte sich an den Moment, als Richard den Sonnenstrahlen ausgesetzt war. Er erinnerte sich daran, dass sich die Haut des Schwarzhaarigen gerötet hatte und dass die Symptome erst wieder abklangen, als Paul sich darum gekümmert hatte. Und er erinnerte sich, dass Paul sie angewiesen hatte, Richard in den Schatten zu bringen, damit er nicht mehr der Sonne ausgesetzt war.
„Bedeutet das also, dass Richard ein Vampir ist?“
Richard sah Olli überrascht an, dann wanderte sein Blick zu dem Werwolf, der neben ihm lag.
„Paul...“, Richards Stimme klang ungläubig, in seinen Augen spiegelte sich Fassungslosigkeit. „Ist...das wahr?“
Der Weiße schüttelte leicht den Kopf. „Nein“, knurrte er dann, „oder besser gesagt: zum Teil...“
„Zum Teil? Wie jetzt? Könntest du uns bitte allen einen Gefallen tun und aufhören, in Rätseln zu sprechen?“ Trotz allem gab sich Schneider keine Mühe, seine Gereiztheit zu verbergen. Es war ja ganz schön und gut, dass Paul ihnen soweit vertraute und ihnen anscheinend alles erzählte, allerdings wollte der Drummer Richard auch unbedingt helfen.
Der Weiße zog die Lefzen hoch und entblößte seine Reißzähne, so dass es aussah, als würde er lächeln.
„Nun gut, dann mal Klartext, wie ihr meint...Wir waren bei den Vampiren. Ihr hattet mehrere Möglichkeiten aufgezählt, sie zu töten, doch habt ihr eine vergessen. Und die ist auch dafür verantwortlich, dass sich Werwölfe und Vampire seit Jahrhunderten bekriegen.“
„Sie bekriegen sich? Warum?“ Der Einwurf kam von Till.
„Ooohh, es geht dabei um vieles. Nahrung, Lebensraum, usw., aber vor allem geht es um die Vorherrschaft......Wie gesagt: Es gibt noch eine Möglichkeit, einen Vampir zu töten und zwar durch den Biss eines Werwolfes.“ Paul hielt kurz inne, um diese Information setzen zu lassen.
„Ein Werwolfbiss tötet also einen Vampir...Nun ja, das erklärt, warum sie sich bekriegen, oder?“
Schneider sah den Werwolf nun in einem ganz anderen Licht.
„Ja, das erklärt es. Das ist aber noch nicht alles. Diese Möglichkeit funktioniert nämlich auch umgekehrt. So wie ein Werwolf einen Vampir durch seinen Biss töten kann, kann ein Vampir auch einen Werwolf töten, wenn er ihn beißt. Das ist auch der Grund für den gegenseitigen Hass der beiden Arten aufeinander.“
„Ok...das verstehe...ich......aber was hat...das jetzt mit mir...zu tun?“
Richard wurde immer verwirrter. Paul sah ihm wieder lange in die Augen, dann knurrte er weiter: „Nun, es ist noch wichtig zu wissen, dass bei dem Biss von beiden Arten, die jeweiligen Flüche kombiniert werden. Das führt innerhalb von Minuten zum Tod, da das Blut gerinnt und der Betreffende einfach erstickt.“
Wieder warf er einen langen Blick auf Richard, der schwer atmete.
„Allerdings gibt es auch hier Ausnahmen. Es existieren tatsächlich Menschen, die den Biss von beiden Spezies überleben können. Wir nennen sie Hybriden. Sie haben alle Stärken eines Vampirs und eines Werwolfes, aber keine ihrer Schwächen, außer einer Silberallergie, die aber auch nicht immer tödlich verlaufen muss. Sie sind unempfindlich gegen Sonnenlicht, die Bisse der beiden Arten und der Vollmond interessiert sie auch herzlich wenig. Die Verwandlungen sehen relativ unterschiedlich aus, das kommt auf verschiedene Faktoren an. Ihre Bisse führen immer zum Tod, außer bei Menschen, die selbst die Anlage zu einem Hybriden haben. Diese nennen wir reine oder echte Hybriden. Sie sind noch seltener als weiße Werwölfe, derzeit gibt es nur drei. Allerdings gibt es auch noch einen anderen Weg, zum Hybriden zu werden und der ist, von einem verletzt, aber nicht gebissen zu werden.“
Paul hielt inne. Er hatte keine Ahnung, was seine Freunde nun tun würden, hoffte aber, dass es bei diesen einigermaßen positiven Reaktionen blieb.
Richard berührte vorsichtig das lange Fell des Weißen, um auf sich aufmerksam zu machen.
„Also...war dieses Ding...was mich da...angegriffen hat...so ein...Hybride?“
Der Werwolf nickte langsam und Richard schloss die Augen. Das war fast zu viel für ihn.
Der Werwolf knurrte leise weiter: „Die Verletzungen, die Hybriden mit ihren Klauen schlagen, übertragen ebenfalls beide Flüche und beide Artmerkmale. Allerdings dauert es viel länger, bis daraufhin der Tod eintritt und im Gegensatz zu den Bissen, wo man keine Chance hat zu überleben, besteht hier dazu eine Möglichkeit.“
„Und...die...wäre?“ Richard hatte die Augen wieder geöffnet, aber er starrte ins Leere. Warum musste ausgerechnet ihm so etwas passieren? Warum konnte er nicht einfach ein ganz normales Leben führen? Nun gut, ganz normal war sein Leben sowieso nie gewesen, aber sowas...
Dann fiel ihm ein, dass Paul ja schon Jahrzehnte damit leben musste und dass er es bis jetzt immer vor ihnen versteckt hatte und er konnte nicht anders, als den Gitarristen zu bewundern. Er wusste nicht, ob er das auch durchgehalten hätte.
„Nun, die Verletzungen bewirken, dass man mit den Merkmalen beider Arten zu kämpfen hat. Man reagiert auf Sonnenlicht empfindlich und bei Vollmond, oder kurz davor, bzw. danach kommt der Werwolf durch und man will sich verwandeln. Außerdem bekommt man den Blutdurst der Vampire. Die Möglichkeit, die Vergiftung durch einen Hybriden zu überleben, besteht nun einfach darin, von einem Werwolf oder einem Vampir gebissen zu werden. Dadurch wird die Vergiftung gestoppt und man wird selbst zu einem Hybriden.“, hörte er den Werwolf neben sich knurren. Er überlegte, ob da vielleicht noch mehr dran war, als Paul zunächst zugeben wollte.
„Aber...die Sache hat doch...bestimmt einen Haken...oder, Weißer?“
Richard versuchte sich mit dem Gedanken daran, dass er kein Mensch mehr sein würde, anzufreunden, was ihm auch so langsam gelang. Wenn er schon sein „normales“ Leben nicht mehr weiterführen konnte, dann musste er eben das Beste draus machen. Paul hatte es schließlich auch geschafft. Außerdem klang es im Nachhinein gar nicht so schlecht, was der Werwolf da so erzählt hatte und außerdem würde dieser Richard schon helfen, das hoffte der Schwarzhaarige zumindest.
„Ja, den gibt es. Wenn jemand mit einer Hybridenvergiftung von einem Vampir gebissen wird, dann überlebt er zwar und ihm geht es gut, allerdings behält er auch den Blutdurst der Vampire.“
Paul sah Richard wieder an und der schluckte hart. Er erinnerte sich daran, wie er getrunken hatte und trotzdem noch durstig gewesen war. Und er erschauderte bei dem Gedanken, das Blut anderer Lebewesen zu trinken.
In Pauls grollendem Knurren lag Verständnis, als er weitersprach: „So, wie du reagieren viele. Darum ist es auch erstrebenswert, von einem Werwolf gebissen zu werden, denn dann verliert sich der Blutdurst, man bekommt nur eine Vorliebe für etwas blutigeres Fleisch und da spreche ich aus Erfahrung.“ Der Werwolf konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Dann wurde er wieder ernst: „Trotzdem sind die meisten Hybriden, die heute leben, von Vampiren gebissen worden...“
„Aber du bist...kein Vampir...Du bist ein...Werwolf...ein Weißer...“
Richard hörte sich müde an. Mittlerweile wollte er das alles nur noch hinter sich bringen, um endlich die Schmerzen loszuwerden. Er hatte keine Lust mehr, dagegen anzukämpfen. Und der Werwolf neben ihm gab ihm Hoffnung, dass es auch endlich bald vorbei sein würde.
„Du...könntest mich...beißen...“
Paul sah seinen Freund wehmütig an. Er spürte, dass der Schwarzhaarige zu müde, zu erschöpft war, um noch um sein Leben zu kämpfen. Paul war seine letzte Hoffnung.
Der Werwolf hätte am liebsten laut aufgejault, als er Richard genau diese Hoffnung nehmen musste.
„Nein, Richard, es tut mir leid, aber ich kann dich nicht beißen. Ich bin nur an Vollmond in der Lage, den Werwolfsfluch weiterzugeben. Und Vollmond hatten wir vorgestern. Selbst wenn ich dich beißen würde, es hätte keine Wirkung auf dich...“
Richard konnte es nicht fassen. Er fühlte sich wie betäubt. Seine Hand krallte sich in das Fell des Werwolfs und als der zu seinem Freund sah, glitzerten in dessen Augen Tränen. Dann schluchzte er auf.
„Richard, was...“
Till sah erschrocken zu seinem Freund hinunter.
„Das...ist...nicht dein...Ernst, Weißer...“
„Richard, es tut mir leid, aber...“
„Das...ist...nicht fair...das...ist einfach nicht...fair!“
„Richard, bleib ruhig, ganz ruhig...“
Doch der Schwarzhaarige hörte seinem Freund nicht mehr zu. Das Weinen hatte einen neuerlichen Hustenanfall zu Folge. Richard krümmte sich zusammen, dann krallte er auch noch die andere Hand in das Fell des Werwolfs. Der Weiße rückte näher heran und legte vorsichtig den Kopf auf die Schultern seines Freundes. Der brach völlig zusammen. Es schüttelte ihn heftig, dann flüsterte er mit tränenerstickter Stimme: „Ich...will nicht...mehr...Paul...es...tut so...weh......Mach...dass es...aufhört...bitte...mach...dass es...aufhört...“
Wieder ein Anfall. Das weiße Fell des Werwolfs färbte sich blutrot.
„Paul...“, er hustete, spuckte, „ich...hab Angst...bitte...hilf...mir...“
Wieder wurde er durch husten unterbrochen. Er grub sich immer tiefer in das Fell des Weißen.
„Ich...kann nicht...mehr......ich...bin so...müde...“
Die Tränen liefen ihm übers Gesicht.
„...so unglaublich...müde...“ Paul drückte den Schwarzhaarigen an sich. Wenn man genau hinsah, konnte man auch in seinen Augen etwas glitzern sehen.
„Lass...mich nicht...allein, ja? Lass...mich bitte...nicht...allein...ich...will nicht...allein...sein...hilf mir...bitte...“
Der Werwolf sah die vier Menschen hilflos an, er wusste nicht, was er machen sollte. Auch die anderen vier wirkten schockiert. Es hatte ihnen völlig die Sprache verschlagen. Irgendwie hatten sie ja bis jetzt gedacht, dass der Weiße es schon in die Reihe bekommen würde, dass...ja, was eigentlich?
Nun wahrscheinlich, dass Richard überleben würde und sie irgendwie aus dieser Wüste herauskämen. Seit Paul sich verwandelt hatte, waren sie stillschweigend übereingekommen, ihm die Führung zu überlassen. Aber jetzt konnte auch der Werwolf nichts mehr tun. Er war nicht nur für Richard die letzte Hoffnung gewesen, sondern für sie alle.
Paul bekam Schuldgefühle. Er konnte ihnen nicht helfen. Er konnte ja nicht einmal Richard mehr so wirklich beruhigen. Aber hatte er das nicht schon von Anfang an gewusst? Ja, er hatte es. Aber er hatte es ihnen vorenthalten. Er hatte sie angelogen. Und jetzt war es zu spät. Es war schon immer zu spät gewesen und er wusste es. Wusste es, seit sie sich auf dieser Straße befunden hatten und sich nicht erinnern konnte, wie sie auf dieselbige gekommen waren. Schon zu dem Zeitpunkt war er sich im Klaren darüber gewesen, dass es schwierig sein würde, aus dieser Misere herauszukommen. Aber als dieser Hybride auch noch Richard angefallen hatte, war für Paul alles aus gewesen. Er hatte zusehen müssen, wie sein Freund immer schwächer wurde und er hatte nichts dagegen tun können.
Der Weiße fühlte sich schuldig und war mit den Nerven völlig am Ende. Er hörte ein unterdrücktes Schluchzen und sah wieder zu Richard. Der zitterte immer noch und hatte sich völlig in das Fell des Werwolfs vergraben.
Paul sah zu den anderen vier Menschen. Flake war wieder in eine Art Lethargie verfallen, in Tills Augen standen ebenfalls Tränen. Schneider und Olli saßen völlig reglos am Boden und starrten, wie Flake, ins Leere. Paul konnte es nicht mehr länger ertragen. Die Schuldgefühle überrollten ihn und ohne auf die Rufe seiner Freunde zu achten, ohne daran zu denken, dass Richard ohne seine Nähe innerhalb einer Stunde sterben würde, lief er völlig verstört in die Wüste.
Richard konnte die Tränen nicht zurückhalten. Er wollte nicht mehr. Er konnte nicht mehr. Er wollte nur noch, dass es aufhörte, die Schmerzen, der Husten, einfach alles. Er spürte, wie sich der Werwolf mit einem Ruck von ihm losriss und sah, dass er mit unglaublicher Geschwindigkeit in die Wüste hineinrannte. Er hörte auch, dass die anderen ihm hinterher riefen und wollte auch etwas sagen, doch kaum war der Werwolf aus seiner Nähe verschwunden, wurde Richard plötzlich schwächer, als hätte ihm jemand einen großen Teil seiner ohnehin schon wenigen Kraft geraubt. Er zitterte noch stärker und bekam wieder einen Anfall, bei dem er sich zusammenkrümmte. Dies veranlasste nun Flake aus seiner Lethargie zu erwachen und er lief zu dem Schwarzhaarigen, der sich gar nicht mehr beruhigen konnte. Auch die anderen drei eilten hinzu und versuchten zu helfen, jedoch erfolglos. Wie hatte Paul es nur auf die Reihe bekommen, Richard jedes Mal wieder zu beruhigen? Sie wussten es nicht. Sie konnten nicht ahnen, dass in den letzten Stunden nur noch Paul an den Schwarzhaarigen herankam, aus dem einfachen Grunde, weil er ein Werwolf war. Sie waren aber nur Menschen. Und damit hatten sie keine Chance zu ihrem Freund durchzudringen.
Allmählich verebbte der Anfall, aber Richard hörte nicht auf zu zucken und zu zittern. Heftige Weinkrämpfe schüttelten ihn. Dem körperlichen Zusammenbruch des gestrigen Tages, folgte nun endgültig ein seelischer. Er hörte nicht die Stimmen, die beruhigend auf ihn einredeten, er spürte nur noch Schmerzen und eine unglaubliche Leere, da sein einziger Verwandter nicht mehr da war.
Die vier Menschen mussten hilflos mit ansehen, wie sich Richards Zustand immer mehr verschlechterte. Auf jede Berührung reagierte er empfindlich, aber irgendwann verschwand auch das Zucken und Zittern, da der ausgepumpte Körper des Schwarzhaarigen nicht einmal mehr dazu die Kraft hatte. Er war dem Tod um so vieles näher als dem Leben und auch wenn sie es nicht zugeben wollten, hatten seine Freunde schon Anschied von ihm genommen.
Irgendwo in der Ferne heulte ein Wolf.
Hoffnungslos?
Paul atmete schwer. Er wusste nicht mehr, wie lange er gelaufen war, irgendwann hatte er angehalten und seinen Kummer laut hinausgeschrieen oder in diesem Fall geheult.
‚Ich sollte wieder zurückgehen’, sagte er sich, ‚es war nicht richtig von mir, sie alleine zu lassen...’
Er wandte sich um und verfiel in einen schnellen Trab. Doch je näher er seinen Freunden kam, umso mehr spürte er, dass einer von ihnen bald sterben würde. ‚Richard!’ Erst jetzt ging dem Werwolf auf, was er getan hatte, als er den Schwarzhaarigen alleine gelassen hatte.
‚Verdammt! Ich bin so ein Vollidiot!’ Sofort nahm er Höchstgeschwindigkeit auf und fegte wie der Wind über den heißen Wüstensand zurück, seinen Freunden entgegen. Er hoffte, dass es noch nicht zu spät war, wenn er bei ihnen ankam.
Schneider blickte auf. In der Ferne sah er einen kleinen Punkt und eine Staubwolke. Irgendetwas kam sehr schnell auf sie zu. War das etwa Paul? Na der konnte sich auf was gefasst machen. Er hatte sie völlig vor den Kopf gestoßen, als er so urplötzlich weggelaufen war. Dabei schien es gerade jetzt wichtig zu sein, dass er in der Nähe blieb. Die Staubwolke kam näher, der Punkt vergrößerte sich. Auch die anderen drei sahen genauer hin. Jetzt konnte man schon die Umrisse des riesenhaften Wolfs ausmachen, der pfeilschnell auf sie zugerast kam. Als der Weiße nur noch gut 50 Meter entfernt war, verlangsamte er seine Geschwindigkeit und trottete schließlich schwer hechelnd auf sie zu. Schneider wollte schon zu einer Standpauke ansetzen, doch als er den traurigen Ausdruck in Pauls Augen sah, ließ er es bleiben. Der Werwolf lief, ohne auf die vier Menschen zu achten, geradewegs auf Richard zu, der in den letzten Minuten überhaupt keine Regung mehr gemacht hatte. Vorsichtig stupste der Weiße seinen Freund mit der Schnauze an.
Richard spürte, dass sein Verwandter zu ihm kam, er spürte die sanfte Berührung an seiner Wange und sah den Werwolf mit fiebrig glänzenden Augen an. „...warst...weg......wieder...da...“, seine Worte konnte man mehr erahnen als verstehen und Paul redete beruhigend auf ihn ein: „Sei still, hör auf zu reden und spar dir deine Kräfte. Es ist alles in Ordnung...“
Richard schloss die Augen. „Lass...mich...nie...wieder......allein...“, flüsterte er, dann lag er still. Sein Atem ging nicht mehr rasselnd, sondern ruhig und gleichmäßig, er schien zu schlafen. Paul wollte gar nicht wissen, was passiert wäre, hätte er sie auch nur ein paar Minuten später erreicht.
„Du bist zurückgekommen...“, das war eine Feststellung, seitens Till.
„Warum bist du überhaupt abgehauen?“ Schneider richtete einen vorwurfsvoll fragenden Blick auf den Werwolf. Der antwortete nicht sofort und sein Bandkollege seufzte genervt auf. „Gut und was machen wir jetzt? Oder hüllst du dich darüber auch in Schweigen?“, waren seine nächsten Fragen.
„Wir warten.“
„Ach, und worauf?“ Der Einwurf kam von Olli. Paul sah seine Freunde alle einzeln an, dann warf er einen langen Blick auf Richard und knurrte leise: „Auf das Ende.“
Und das taten sie dann auch. Den ganzen Tag saßen sie still da und hingen ihren Gedanken nach. Nur ab und zu stand einer von ihnen auf, um etwas zu trinken. Paul wich die ganze Zeit über nicht von Richards Seite. Es wurde Mittag und Nachmittag. Gegen Abend dann, es wurde wieder merklich kühler, wachte Richard noch einmal auf. Er hatte Mühe, einen bestimmten Punkt mit den Augen zu fixieren, trotzdem heftete er seinen Blick fest auf den neben ihm liegenden Werwolf. Er wollte etwas sagen, doch es ging nicht. Dabei war es doch so wichtig, was er zu sagen hatte. Er hatte nur diese eine Chance und die musste er jetzt nutzen. Er versuchte es noch einmal und diesmal schaffte er es: „Paul...“ Sofort fuhren alle Köpfe herum, keiner von ihnen hätte erwartet, dass der Schwarzhaarige noch einmal aufwachen würde.
„Ja?“, knurrte der Werwolf leise.
„...beiß...mich...“
Paul hätte am liebsten geseufzt. Das hatten sie doch schon einmal durchgekaut. Er konnte seinen Freund zwar beißen, nur würde das ohne Wirkung bleiben. Und das sagte er ihm dann auch: „Richard, du weißt, dass das sinnlos ist. Ich...“
Doch der Schwarzhaarige fiel ihm überraschenderweise ins Wort: „Ich...weiß, was...du gesagt...hast...aber...es...ist...eine...Chance, oder? Ich...will...nicht...mehr...Paul...bitte...“ Richard schloss kurz die Augen.
„Bitte...mach, dass es...endlich...aufhört...es...“
Wieder ein Anfall. Paul rang mit sich. Er wusste, dass sich sein Freund Illusionen machte, wollte diese aber nicht zerstören. Aber andererseits...was war daran so schlimm? Sie wussten beide, dass es nicht funktionieren würde und er wollte Richard seinen letzten Wunsch nicht abschlagen.
„Gut“, meinte er also, „ich mache es...“
Ein Hauch von Zuversicht tauchte in Richards Augen auf. „Danke...Weißer...“
Paul schüttelte nur den Kopf, dann nahm er den rechten Arm behutsam zwischen die Zähne. Er verzog das Gesicht, als er das vergiftete bittere Blut schmeckte und biss dann fest zu. In selben Moment fing Richard an zu schreien.
Der Schwarzhaarige hatte sich auf Schmerzen vorbereitet, aber nicht darauf. Es war nicht nur glühender Schmerz, der blitzartig durch seinen Körper schoss, es war auch noch etwas...anderes. Er konnte es nicht beschreiben, aber irgendetwas veränderte sich in ihm.
Paul wich erschrocken zurück. Schneider stürzte völlig verstört auf ihn zu.
„Was hast du bloß getan? Du hast ihn umgebracht! Du räudiger Köter!“
Er fing an, auf den Weißen einzuschlagen. Doch der bekam das alles nicht mit. Er sah nur Richard, der sich zuckend und zitternd auf dem Boden wand. Heftige Krämpfe schüttelten ihn.
Das konnte doch nicht sein! Paul hatte schon einmal die Wandlung zu einem Hybriden miterlebt und genau das war es, was Richard gerade durchmachte. Aber wieso? Der Werwolf hatte keine Erklärung für das, was da eben passierte. Sie hatten ihm doch gesagt, dass er nur an Vollmond ansteckend wäre. Warum heilte sein Biss dann die Vergiftung? Denn genau das passierte: Die Schnitte, durch den Hybriden geschlagen und auch Pauls Bissspuren heilten in Sekundenschnelle.
Der Weiße konnte nicht ahnen, dass die Leute ihm damals, nach seiner ersten Verwandlung eine ziemliche Lüge aufgetischt hatten. Für die Vampire war es ein Glücksfall gewesen, dass sie bei der Verwandlung des Weißen mit dabei waren. Denn obwohl Werwölfe und Vampire Krieg gegeneinander führten, waren die Vampire doch immer im Vorteil, da sie ihre Fähigkeiten jede Nacht hatten, die Werwölfe jedoch nur einmal im Monat. Nur ein Weißer konnte ihnen richtig gefährlich werden, konnte er doch tag- und nachtaktiv und dabei immer ansteckend sein. Und so hatten sie Paul und seiner Familie das Märchen erzählt, dass er trotz seiner Fähigkeiten nur an Vollmond den Fluch weitergeben konnte und Paul war froh darüber gewesen. Es lag ohnehin nicht in der Natur eines Weißen, jemanden zu verletzen, geschweige denn zu töten und da seine Sinne zu dem Zeitpunkt noch nicht so fein waren, hatte er die Vampire auch nicht erkannt.
Erst jetzt bemerkte Paul die Schläge und Tritte, die immer wieder auf ihn einprasselten. Schneider wollte und konnte sich gar nicht mehr beruhigen. Er beleidigte den Werwolf aufs Äußerste und brach schließlich erschöpft und weinend über ihm zusammen. Paul schüttelte ihn ab und knurrte ihn leise an: „Ich hab ihn nicht umgebracht...Ich weiß nicht wie, aber Richard wird überleben, sieh doch mal hin...“
Er ruckte mit dem Kopf in die Richtung des Schwarzhaarigen. Schneider folgte dem Blick. Was er sah, ließ ihn staunen. Sein Freund lag zwar immer noch auf dem Boden, aber er hatte die Augen weit geöffnet. Die Verletzungen an seinem Arm waren verschwunden, er atmete ruhig und gleichmäßig, so, als wäre er gerade aus einem langen Schlaf erwacht.
„Ich hatte recht, Weißer.“, meinte er und lächelte. Er hörte sich müde an, aber alleine die Tatsache, dass er mit gefasster, klarer Stimme sprach, war schon ein kleines Wunder für sich. Der Werwolf lief zu dem Hybriden.
„Ja, sieht wohl so aus...aber woher wusstest du das?“
„Ich weiß es nicht, ich war einfach der Meinung, dass man eben nichts unversucht lassen sollte.“ Wieder ein Lächeln. Die anderen konnten es noch gar nicht richtig fassen.
„Richard?“, fragte Till unsicher. Der Angesprochene drehte den Kopf in seine Richtung.
„Hmm?“
„Dir geht’s wieder gut? Ich mein...wie fühlst du dich?“
„Nun ja...“ Der Schwarzhaarige schien zu überlegen. „Ich bin hundemüde und ich bezweifle, dass ich im Moment in der Lage wäre, aufzustehen, aber ich denk mal, dass das normal ist?“ Fragend wandte er sich an Paul, der sich neben ihm niederließ.
„Ja...ja, das ist ziemlich normal, sollte aber mit einer ordentlichen Portion Schlaf wieder behoben sein.“
Der Werwolf konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
Schneider kam betreten auf die fünf zu.
„Also, ich...“, setzte er an.
„Falls du vorhast, dich zu entschuldigen: Vergiss es.“
„Ja, aber ich hab...“ Wieder wurde der Drummer von dem Weißen unterbrochen.
„Mich getreten? Ja hast du, aber das macht ein paar blaue Flecken und gut ist. Sei dir allerdings darüber im Klaren, dass der nächste Werwolf, den du einen räudigen Köter nennst, sich nicht erst die Mühe machen wird, dich zu beißen, sondern dir gleich an die Kehle hüpft...“
Jetzt musste Schneider auch lächeln. „Ok, ich wird’s mir merken.“, meinte er noch und setze sich zu den anderen dazu.
„Gut, und jetzt?“, Flake warf einen fragenden Blick in die Runde.
„Schlafeeeen!“ kam es im wie aus einem Mund von Richard und Paul, wobei ersterer schon wieder halb weg war.
„Gute Idee!“, stimmte Schneider zu, „Um ehrlich zu sein, die beste, die ihr beide bis jetzt hattet.“, meinte er noch und streckte sich neben dem Hybriden aus. Paul warf dem Drummer einen amüsierten Blick zu.
„Und was war bis jetzt die schlechteste?“
„Hmm, wie wär’s mit beinahe draufgehen?“
„Hey, da hab ich aber keine Aktie dran!“, verteidigte sich der Weiße, obwohl er genau wusste, dass das nicht ganz stimmte.
Richard rollte über das Rumgeflachse genervt mit den Augen. „Ich wäre euch sehr verbunden, wenn ich jetzt schlafen dürfte.“, meinte er quengelig, „Ich bin müüüdeee...“ Das letzte Wort zog sich ziemlich in die Länge, da er gähnen musste.
„Dem stimme ich zu.“, meldete sich nun auch Olli zu Wort. „Weit kommen wir heute eh nicht mehr...“
„Eben. Das sag ich doch die ganze Zeit.“, knurrte auch Paul, der seinen Kopf auf Richards Bauch gelegt hatte.
„Weißer, geh runter von mir, du bist schwer...“, nuschelte der im Halbschlaf und versuchte den Werwolf von sich wegzuschieben, was ihm aber gründlich misslang. Paul hatte schließlich ein Einsehen und rollte sich neben dem Schwarzhaarigen zusammen. Auch die Menschen brachten sich in eine einigermaßen bequeme Position und schließlich schliefen sie alle sechs ein.
Die Nacht ging unverhältnismäßig schnell vorbei. Paul war am darauffolgenden Tag als erster wach. Er streckte sich erst einmal ausgiebig und schüttelte das lange Fell. Dann warf er einen kurzen Blick in die weiten Sandebenen vor ihm, überlegte nicht lange und setzte zu einem ausgelassenen Sprint über die Dünen an. Seine Erleichterungen über den Verlauf der jüngsten Ereignisse war ihm mehr als anzumerken. Währenddessen wurden die anderen ebenfalls langsam wach und ein allgemeines Gegähne setzte ein. Einzig Richard schien das alles nicht zu stören, im Gegenteil: Der Hybride schlief tief und fest.
„Sollen wir ihn wecken?“, fragte Flake mit einem Blick, der einen zweifeln ließ, ob sie das auch schaffen würden.
„Müssen wir wohl.“, kam es von Schneider, der den Schwarzhaarigen sanft schüttelte. „Richard. Hey, aufwachen! Wir müssen weiter, aufstehen!“
Doch der Hybride machte nur eine abwehrende Bewegung, drehte sich auf die Seite und murmelte vor sich hin: „Lass mich schlafeeen...bin müdeee...“
„Paul, ich krieg ihn nicht wach...“, wandte sich der Drummer nun an den Werwolf. Der war gerade mit seinem Lauf fertig und kam schwanzwedelnd und ausgelassen auf sie zugetrabt.
„Hmm? Oh, warte, ich mach das schon...“, knurrte er mit hinterhältigem Grinsen. Damit wandte er sich an seinen, immer noch schlafenden, Bandkollegen und stupste ihn mit der Schnauze an.
„Richard, aufwachen, du Schlafmütze!“
„Oooch, noch fünf Minuten...“
„Nix da fünf Minuten, aufstehen Rich!“ Der Weiße pustete ihm ins Ohr.
Der Hybride fuhr hoch. „Hey, hör auf damit! Und nenn mich nicht Rich!“ Dann erst sah er seine fünf Bandkollegen und er erinnerte sich, was passiert war. Daraufhin ließ er sich mit einem „Boah, Leute, könnt ihr mich nich sanfter wecken?“ zurücksinken.
„Haben wir versucht, aber das zog ja nicht...“, antwortete Paul gut gelaunt, dann wurde er allerdings ernst: „Wie fühlst du dich?“
„Hmm, ‚gut’ wäre wohl gelogen...Ich bin hundemüde, immer noch, und ich könnte auf der Stelle wieder einschlafen...“
„Das wundert mich gar nicht. Normalerweise würde ein Hybride in deinem Zustand drei Tage durchschlafen, aber das geht jetzt nicht. Wir müssen weiter, aus dieser Wüste raus!“ Pauls grollendes Knurren hörte sich ziemlich entschlossen an.
„Hmm...“, murmelte Richard. „gute Idee, am besten ich fange damit an, dass ich versuche mich wieder auf meine Füße zu stellen...“
Der Weiße nickte zustimmend.
„Brauchst du Hilfe?“, fragte Schneider dann und sah ihn stirnrunzelnd an. Auch auf den Gesichtern der anderen spiegelte sich Sorge. Im Prinzip hatten sie ja gedacht, dass Richard, jetzt, wo alles überstanden war, wieder fit sein würde, aber eigentlich war es ja auch abzusehen gewesen, dass er noch eine Weile zum Erholen brauchte.
„Das werden wir gleich sehen, ob ich Hilfe brauche...“, riss sie die verschlafene Stimme des Schwarzhaarigen aus den Gedanken. Er setzte sich vorsichtig auf und war erst einmal dankbar dafür, dass es sich nicht um ihn herum drehte oder dass er wieder einen Hustenanfall hatte. Dann versuchte er sich hochzustemmen, was ihm auch mehr oder weniger gelang. Schwankend stand er wieder auf seinen Füßen, allerdings war das alles um einiges anstrengender, als er gedacht hatte. Das Laufen sollte sich aber als noch größere Schwierigkeit herausstellen. Vorsichtig machte der geschwächte Hybride einen Schritt und wäre um ein Haar wieder umgefallen, wenn ihn Schneider nicht rechtzeitig aufgefangen hätte. „Gut, ich denke, jetzt könnte ich Hilfe gebrauchen...“, meinte Richard und versuchte zu lächeln. Der Drummer setzte ihn vorsichtig wieder im Gras ab.
„Du solltest etwas trinken.“, meinte Till und sah auf den im Gras sitzenden.
„Mmh, wahrscheinlich, aber ich hab keinen Durst, eher Hunger...“, meinte der und sprach damit einen Umstand aus, den die anderen erst jetzt bewusst wahrnahmen.
Tatsächlich waren sie jetzt schon seit drei Tagen in der Wüste, oder eher am Rande davon, und hatten in der Zeit nichts mehr gegessen. Allerdings war ihnen das bis jetzt noch gar nicht so aufgefallen. Die Sorge um ihren Freund hatte sie das schlichtweg vergessen lassen. Nun aber, wo sie sicher sein konnten, dass Richard durchkommen würde, regten sich bei ihnen die Überlebensinstinkte.
„Paul kann uns ja was jagen.“, witzelte Schneider und bekam dafür von dem Weißen einen vernichtenden Blick zugeworfen.
„Ich könnte ja dich jagen...“
„Ok, sorry, war nicht so gemeint...“, sagte er dann zerknirscht.
„Jagen ist nicht. Was willst du hier auch holen? Wüstenrennmäuse? Nein, wir müssen hier schnellstens raus und das bekommen wir am einfachsten hin, wenn wir diesem Weg folgen.“, knurrte der Werwolf mit einem Kopfrucken in Richtung des grasbewachsenen Weges, der sich vor ihren Augen am Wüstenrand entlang schlängelte.
„Und wie willst du ‚schnell’ vorankommen? Ich gebe es nur ungern zu, aber ich bin im Moment noch zu schwach zum Laufen und...“ Weiter kam Richard nicht, denn Paul fiel ihm ins Wort.
„Also wenn das dein einziges Problem darstellt, das lässt sich leicht lösen: Ich trag dich.“
„Du...trägst mich?“ Der Schwarzhaarige wirkte leicht verblüfft.
„Klar, warum nicht? Es sei denn, es ist gegen deinen Stolz als Hybride, dich von einem Werwolf tragen zu lassen...“
„Red keinen Stuss, warum sollte das gegen meinen Stolz sein? Ich meine...ich weiß nicht, was ich sagen soll...“
„ ‚Danke’ genügt mir vollkommen“, erklärte der Weiße grinsend. „Und das mit dem Stolz hab ich durchaus ernst gemeint, ich hab da schon einiges erlebt“, setzte er noch hinzu.
„Ok, also...ähm, danke. Und ich wird’s mir merken.“ Besagter Hybride war immer noch ganz baff. Dann sah er auf den Werwolf und bekam jetzt erst mit, wie groß der eigentlich war.
„Und...ja...wie soll ich jetz da hoch kommen?“, fragte er nun ziemlich irritiert.
„Auch kein Problem“, knurrte Paul und legte sich vor Richard hin. „Jetzt müsste es doch gehen, oder?“
„Ja...ja, ich glaub schon...“, murmelte der Schwarzhaarige und setzte sich auf den Rücken des Weißen.
„Halt dich fest, ich steh jetzt auf...“, knurrte der und tat das dann auch. Der Hybride schwankte und wäre fast wieder runtergefallen, klammerte sich dann aber doch noch am Hals des Werwolfs fest.
„Hey, du nimmst mir die Luft!“, keuchte dieser und Richard lockerte mit einem „Oh, sorry“ seinen Griff.
„Alles klar da oben?“, fragte nun Schneider. Er hatte das Ganze mit gemischten Gefühlen beobachtet, genauso wie der Rest der Band.
„Ja, geht schon...“, murmelte der Schwarzhaarige und dann: „Duhuu Paul? Kann ich mich hinlegen? Ich bin so müde...“
„Ja klar, mach ruhig, solange du mir nicht runterfällst...“, knurrte der Weiße. Richard lehnte sich vor, umschlang mit den Armen den zottigen Hals des Werwolfs und schloss die Augen. Nur wenige Sekunden später war er auch schon wieder in Tiefschlaf geglitten.
„Gut. Gehen wir also weiter...“, sagte Flake und so setzten sie sich wieder in Bewegung.
Nach einer Weile schweigenden Nebeneinanderhergehens fragte Till: „Wo sollen wir eigentlich Wasser herbekommen? Ohne wird es ziemlich schwierig, meinst du nicht auch?“ Die Frage richtete sich an Paul.
„Naja, wenn wir dieses Tempo beibehalten, finden wir innerhalb von ca. 2 bis 3 Stunden eine weitere Oase, ähnlich der, an der wir schon waren.“
„Hmm, ich hab aber auch Hunger...“, meinte Till und entdeckte just in diesem Moment, dass an einer Staude in dem Dschungel neben ihnen ein paar ziemlich lecker aussehende Früchte wuchsen. Schon wollte er sie sich pflücken, als ihn Pauls leises Knurren aufhielt: „Das würde ich an deiner Stelle nicht tun.“
„Ach, und warum nicht?“
„Weil ca. 90% der im Dschungel befindlichen Lebewesen hochgiftig sind. Bei den meisten bleibt dir nicht einmal eine halbe Minute. Was glaubst du, warum ich nicht dort rein wollte?“ Darauf wusste Till nichts mehr zu erwidern und so setzten sie schweigend ihren Weg fort.
Kontrollverlust
Etwa anderthalb Stunden später, es war schon früher Nachmittag, wachte Richard dann auf und setzte sich vorsichtig aufrecht hin.
„Naa, hast du gut geschlafen?“, wurde er auch gleich von Schneider begrüßt.
„Hm...“, murmelte der Hybride verschlafen und rieb sich die Augen. „Wo sind wir?“
„In der Nähe einer zweiten Oase, wir müssten sie bald sehen können.“, knurrte der Werwolf unter ihm.
„Oh, gut, weckt mich, wenn wir da sind...“ Und damit war er auch schon wieder eingeschlafen.
„Sag mal Paul...“, setzte Flake an.
„Ja?“, kam es zurückgeknurrt.
„Was kommt jetzt eigentlich so alles auf Richard zu? Ich mein, wo er doch jetzt ein Hybride ist und so...“ Auch die anderen vier schauten überrascht und interessiert zu dem Werwolf. Der überlegte kurz und erklärte dann: „Nun ja, er hat jetzt viele Fähigkeiten, die man wohl als ‚übermenschlich’ bezeichnen würde. Da ist zum einen eine gesteigerte Körperkraft, die kommt von den Werwölfen und den Vampiren zu gleichen Teilen. Dann natürlich extrem feine Sinne. So kann er jetzt zum Beispiel auch Ultraschall hören, bzw. auch ganz tiefe Töne. Seine Nase ist jetzt genauso fein, wie die der Hunde. Außerdem versteht er, was hundeartige Lebewesen sagen...“
„Moment mal...heißt das, er kann mit Hunden reden?“ Schneider starrte den Weißen ungläubig an.
„Nicht reden in dem Sinne, wie du das verstehst, aber ja, er versteht sie und kann sich umgekehrt auch ihnen mitteilen. Diese Fähigkeiten hat er von den Werwölfen, die habe ich selber auch. Dazu kommt noch, dass sich seine Sehfähigkeiten verbessern. Er kann jetzt sowohl UV-Licht, als auch Infrarotlicht sehen, das kommt von dem Vampir in ihm. Allerdings hat er nicht ihren Blutdurst, weil ihn ja ein Werwolf, also ich, gebissen hat. Darum wird seine Verwandlung auch mehr zum Werwolf tendieren. Auch wird er ein längeres Leben haben und nicht so schnell altern. Und er wird in der Lage sein, seine Artgenossen jederzeit zu erkennen...Hab ich noch was vergessen? Hmm...ach ja, er sollte sich von Silber fernhalten, da das ihn töten kann. Was die Verwandlung betrifft: Wenn er nicht will, muss er sich nie in seinem Leben verwandeln, das ist ihm völlig freigestellt. Ich glaube, das ist das Wichtigste.“ Paul hielt inne und sah die Menschen an.
„Hmm, hört sich ja eigentlich alles nicht soo schlecht an.“
Schneider sprach langsam, als müsste er das erst einmal verdauen, aber seine Worte spiegelten das wieder, was die anderen auch dachten.
Der Weiße war überrascht. „Das heißt, ihr kommt damit klar?“ Zustimmendes Gemurmel erfolgte.
„Ja, warum sollten wir nicht damit klarkommen?“ Flake sprach damit für alle.
„Naja...“, Paul wusste nicht, wie er es ausdrücken sollte. Durch die jüngsten Ereignisse waren seine eigenen Sorgen für ihn völlig in den Hintergrund getreten. Außerdem hatten die Menschen ja so ganz anders reagiert, als er es eigentlich erwartet hatte. Erst jetzt ging ihm so richtig auf, was das eigentlich alles für sie bedeutete. Für ihn bedeutete. Er wurde akzeptiert. Er konnte es immer noch nicht richtig fassen.
„Es ist eben nicht üblich für Menschen, dass sie das so locker hinnehmen.“, meinte er dann. „Die meisten fühlen sich...“ Das letzte Wort seines Satzes wollte ihm nicht über die Lippen.
„Bedroht?“, beendete Schneider Pauls Ausführungen.
Der Weiße sah ihn lange an, dann nickte er. In diesem Moment wurde auch den Menschen zum ersten Mal wirklich klar, was das bedeutete: Ihre beiden Gitarristen waren keine Menschen mehr, sie waren etwas...anderes.
Aber waren sie deshalb etwas schlechteres? Oder hatten einen schlechteren Charakter? Nein bestimmt nicht, schließlich kannten sie sich jahrelang und da mussten sie es ja wissen. Es hatten sich eigentlich nur die äußeren Umstände geändert. Das, was die beiden ausmachte, war gleich geblieben. Nur hatten sie das bis jetzt nie so gesehen, denn Paul und nun auch Richard gingen so selbstverständlich mit der Sache um, dass die Menschen meinten, es wäre schon immer so und nicht anders gewesen. Und bei Paul traf das ja auch zu. Schließlich war er schon ein Werwolf gewesen, als sie ihn kennen gelernt hatten. Und wären sie an seiner Stelle gewesen, sie hätten nicht gewusst, ob sie nicht auch geschwiegen hätten.
„Also ich kann dich...euch beruhigen: Wir fühlen uns bestimmt nicht bedroht.“, meinte Till deshalb und er meinte es ernst.
Der Werwolf sah sie sehr, sehr lange an. Und dann schwand auch das letzte Misstrauen aus seinen Augen, welches sich seit seiner Verwandlung so hartnäckig gehalten hatte. Er lächelte und knurrte nur ein einziges Wort: „Danke.“
Schweigend setzten sie ihren Weg fort. Keiner von ihnen hatte im Moment das Bedürfnis, etwas zu sagen. Kurze Zeit später kam eine zweite Oase in Sicht. Dort gab es allerdings keinen kleinen Wasserlauf, sondern eine Art kleinen See, dessen Zufluss wohl auch unterirdisch lag.
Paul blieb stehen und Schneider tippte den schlafenden Hybriden an.
„Hey Richard, wir sind da. Wir sollten dich doch wecken.“ Der Schwarzhaarige schlug die Augen auf.
„Hmm? Oh, ja stimmt, warte mal...“ Und zum allgemeinen Erstaunen glitt er von dem Werwolf herunter und stand ziemlich sicher auf seinen Füßen.
„Brauchst du Hilfe?“
„Warum hab ich gerade ein Dejavú?“, grinste der Hybride den Drummer an. „Mal sehen, ich glaub nicht...“, meinte er noch und machte vorsichtig einen Schritt vorwärts. Wieder erwarten der Menschen und des Weißen blieb er stehen und schaffte es auch tatsächlich, den kurzen Weg bis zu dem See zu machen und zu trinken. Danach ließ er sich allerdings erschöpft ins Gras fallen.
„So, wie ich das sehe, habe ich jetzt keine Hilfe gebraucht...“, sprach er mit einem schiefen Grinsen im Gesicht und war kurz darauf auch wieder eingeschlafen.
„Na der scheint sich ja schnell wieder erholt zu haben...“, meinte Schneider und sah Paul fragend an.
„Ja, das ist normal, schließlich ist das hier Hybridengebiet...“
„Hybridengebiet?“, unterbrach Flake schockiert den Weißen. „Wie meinst du das denn?“
„So, wie ich es sage. Die Savanne hinter der Wüste wird schon seit Jahren von den Hybriden gehalten. Die Grenze verläuft quer durch die Wüste. Wir müssten eigentlich bald aus ihrem Gebiet heraus sein. Ihr Einfluss reicht allerdings weit und das ist auch der Grund, warum es Richard in der kurzen Zeit schon wieder verhältnismäßig gut geht. Trotzdem aber nicht so gut, dass er wieder völlig auf dem Damm wäre. Und je weiter wir uns aus dem Einflussbereich der Hybriden entfernen, desto langsamer er sich erholen...“
„Ach so, naja...“ Mehr fiel Till zu dieser seltsamen Erklärung nicht ein. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass Paul ihnen etwas verschwieg und er war mit dieser Vermutung nicht alleine. Nachdenklich betrachtete Schneider den Werwolf, der nun zu dem See lief, um zu trinken und sich anschließend neben den schlafenden Hybriden legte.
Sie hatten beide Recht: Der Weiße verschwieg ihnen tatsächlich wieder etwas und das bereitete ihm Sorgen.
‚Ich muss es ihnen sagen...Andererseits...Wir haben einen guten Vorsprung und Richard geht es schon besser als ich dachte. Wir könnten es schaffen. Aber was, wenn nicht? Einfacher wäre es, wenn ich mich zurückverwandeln würde, aber das geht noch nicht. Richard kann sich zwar mittlerweile wieder kurzzeitig auf den Beinen halten, aber um lange Strecken zu laufen, ist er eindeutig noch zu schwach. Außerdem braucht er den Schlaf. Er braucht jedes kleine bisschen davon, das er kriegen kann. Es wäre gefährlich ihm in seinem ohnehin labilen Zustand den Schlaf zu rauben. Nein, ich muss meine momentane Gestalt beibehalten, zumindest noch eine Weile. Wenn wir doch bloß aus dieser dämlichen Wüste raus wären...’
Was Paul nicht wusste: Ihr Vorsprung war seit seiner Verwandlung um Einiges geringer geworden. Vorher hatte der Hybride der Richard angegriffen hatte und sie jetzt verfolgte nämlich nur eine ungefähre Spur von ihnen gehabt. Doch als Paul sich verwandelte, war er deutlich aufzuspüren gewesen. Und der alte Hybride mit dem grauen Fell und den vielen Narben hatte Verstärkung bekommen. Sie kamen beständig näher. Es würde nicht mehr lange dauern, bis der Weiße ihre Anwesenheit wieder wahrnehmen würde.
Inzwischen hatten auch die anderen vier Menschen getrunken und sich ins Gras gesetzt.
„Gut, ich würde sagen 10 Minuten Pause und dann gehen wir weiter.“, knurrte der Werwolf. „Wieso denn nur so wenig? Können wir nicht länger ausruhen? Wir sind doch nicht auf der Flucht, oder?“
Schneider fixierte den Weißen, der seinen Blicken beharrlich auswich.
„Wir sind doch nicht auf der Flucht...Paul?“
Immer noch hielt der Werwolf den Blick gesenkt und sah den Drummer nicht an.
„Warum habe ich nur wieder das Gefühl, dass du uns etwas verschweigst?“
„Jetzt lass ihn doch mal in Ruhe! Wenn er nichts sagt, wird er schon seine Gründe haben.“
Richard hatte den schwelenden Konflikt bemerkt, hatte bemerkt, dass der Weiße, sein Weißer in Schwierigkeiten steckte und war davon aufgewacht. Warum ihn das aus dem Tiefschlaf gerissen hatte, wusste er nicht und das war auch zweitrangig. Wichtig war nur, dass er „seinem“ Weißen helfen konnte. Und so hatte er sich wieder aufgerappelt und hielt sich nun mühsam auf den Beinen.
„Ach ja? Darf ich dich daran erinnern, dass du das letzte Mal beinahe draufgegangen wärst, bevor der Herr sich endlich mal dazu bequemt hat, die Wahrheit zu sagen?“ Schneider wurde allmählich richtig sauer, er schrie schon fast.
„Ich bin aber nicht draufgegangen! Ich hab es dir schon mal gesagt: Ich vertraue Paul! Bis jetzt war es auch nie schlecht, was er getan hat, im Gegenteil: Wäre er nicht gewesen, würde ich jetzt nicht mehr leben!“, erwiderte Richard nun auch lauter.
„Richard, du solltest dich wieder hinlegen, du brauchst noch Ruhe...“, versuchte der Werwolf den aufkommenden Streit zu beschwichtigen.
„Du hältst dich da raus Paul!“, unterbrach der wütende Drummer den Weißen. „Ist das etwa dein Ernst Richard? Du vertraust dem immer noch? Ich will überhaupt nicht wissen, was noch alles passieren muss, damit er mit dem, was er zu sagen hat, endlich rausrückt!“
„Christoph! Jetzt hör aber auf! Du weißt ganz genau, dass das Müll ist, was du da erzählst!“
Nun schrieen sich die beiden gegenseitig an.
Paul legte instinktiv die Ohren an und wich knurrend und mit gesträubtem Nackenfell Schritt für Schritt zurück. Die hohe Lautstärke verunsicherte den Wolf in ihm zutiefst und machte ihm Angst. Wenn das so weiterging, würde einer der beiden Streithähne bald die Reißzähne des Werwolfs zu spüren bekommen und es war wohl abzusehen, wer das sein würde. Unversehens stieß der Weiße gegen Till der anfing, den Werwolf gedankenverloren im Nacken zu kraulen, um ihn zu beruhigen.
„Müll? Du meinst, dass ich Müll erzähle? Du weißt doch gar nicht, was du da sagst!“
„Oh, glaub mir Christoph, ich weiß sehr genau, was ich sage! Du...“
„Nenn mich nicht Christoph!“, schrie der Drummer wütend und schlug dem Schwarzhaarigen ins Gesicht. Dessen Kopf flog zur Seite und er fiel ins Gras, wo er besinnungslos liegen blieb.
„Richard!“ Flake und Olli hatten die Auseinandersetzung fassungslos mitverfolgt und liefen nun zu dem Hybriden, der sich immer noch nicht bewegt hatte. Sie knieten sich zu ihm und schüttelten ihn sacht in dem Versuch, ihn wieder wachzubekommen.
„Richard, hey, wach auf. Richard!“ Der Schwarzhaarige schlug die Augen auf und sah sie an. Blut lief ihm aus dem Mundwinkel und er musste husten. Seine beiden Freunde fühlten sich schmerzlich an die Situation des gestrigen Tages erinnert.
„Alles in Ordnung bei dir?“, fragte Olli leise.
Richard setzte sich auf, spuckte Blut aus und schüttelte dann verärgert den Kopf.
„Nein. Es ist gar nichts in Ordnung...“, murmelte er genervt, wurde aber von einem jähen Aufschrei unterbrochen.
„Paul! Nein, hör auf...Paul!“ Till hatte alle Mühe, den wütenden Weißen unter Kontrolle zu bekommen. Der war völlig durchgedreht, als Schneider seinen Artgenossen verletzt hatte und wollte sich nun auf ihn stürzen. Till hatte ihn gerade noch so zurückhalten können, indem er die Mähne des Werwolfs gepackt hatte. Schneider dagegen stand völlig lethargisch da. Er konnte nicht fassen, dass er das eben wirklich getan hatte. Immer wieder hatte er vor Augen, wie sein Freund leblos zusammenbrach und das nur wegen ihm. Er war doch im Grunde nicht besser als Paul. Nein, er war sogar noch schlimmer. Er hatte grundlos zugeschlagen. Einfach so. Richard hatte schon Recht, der Weiße hatte bestimmt seine Gründe, wenn er ihnen etwas verschwieg. Das war das letzte Mal auch so gewesen. Er würde es ihnen schon sagen, falls es nötig werden sollte. Aber Schneider ging es einfach gegen den Strich, dass ihr Freund ihnen nicht soweit vertraute und alles einfach erzählte.
‚Du weißt doch gar nicht, was die vorherigen Male passiert ist, wenn er sich den Menschen anvertraut hat. Du hast keine Ahnung davon, was er vielleicht durchgemacht hat, dass er jetzt den Menschen nicht mehr vertraut. Er hat uns doch noch erzählt, dass er Angst hat. Also hör gefälligst auf, ihn zu verurteilen, obwohl du diesen Teil von ihm gar nicht kennst!’, ging es dem Drummer nun durch den Kopf. Immer noch hatte er sich nicht geregt. Er ahnte nur am Rande, dass er kurz davor war, mit den Zähnen und Klauen des Werwolfs Bekanntschaft zu machen, aber wahrscheinlich wäre selbst das ihm egal gewesen. Er hätte es vermutlich als gerecht empfunden, wenn Paul ihn angegriffen hätte.
Derweil führte Till immer noch einen erbitterten Kampf mit besagtem Werwolf.
„Paul, jetzt beruhige dich doch! Die beiden kabbeln sich doch öfters, jetzt ist aber mal gut!“ Aber der Weiße war taub für die Worte des Menschen. Er versuchte sich immer noch loszureißen. Schmerzliche Bilder waren ihm in dem Moment hochgekommen, in dem Schneider Richard geschlagen hatte. Er fühlte sich in seine Kindheit zurückversetzt und eine Gefühlswelle aus Angst, Enttäuschung, Abscheu und Wut überrollte ihn. Darauf, dass seine Freunde ihn eigentlich akzeptiert hatten, achtete er in seiner blinden Wut nicht mehr.
„Du dummer Mensch! Du elender, feiger Mensch! Er hat dir doch gar nichts getan, verdammt! Er war völlig wehrlos! Und du hast einfach zugeschlagen! Das verzeih ich dir nie! Ich bring dich um, ich schwöre es, ich bring dich um!“
Till verstand das wütende Knurren des Werwolfs nicht, Richard schon. Und es gefiel ihm gar nicht, was sein Verwandter da so sagte.
„Olli, Flake, helft mir mal hoch!“
„Wa...wieso das denn jetzt?“
„Kannst du dir das nicht denken?“ Der Schwarzhaarige sah genervt zu Flake.
„Ok, schon gut...“, war die Antwort und zusammen mit Olli brachte er den Hybriden wieder auf die Füße. In dem Moment schaffte es Paul, sich loszureißen. Er stürzte auf Schneider zu, riss ihn zu Boden und grub die Klauen tief in seine Schultern. Durch den Schmerz und dem drohenden Knurren in seinen Ohren erwachte der Drummer aus der Lethargie und sah dem Werwolf tief in die mittlerweile roten Augen.
„Na los...beiß zu, dann haben wir es hinter uns...“
Der Weiße fletschte die Zähne und knurrte. Plötzlich hörte er aber noch ein anderes Knurren.
Richard hatte es geschafft, die beiden zu erreichen und redete nun auf seinen Freund ein: „Paul...tu das nicht. Das willst du doch gar nicht...“
„Du hast keine Ahnung, was ich will!“
„Vielleicht...aber ich weiß, dass du es bereuen wirst, wenn du ihn jetzt umbringst...“
„Richard, er hat dir wehgetan! Das..“
„Jaa, das hast du auch, als du mich gebissen hast...“
Der Weiße zuckte zurück, als hätte er einen Schlag bekommen. Seine Augen fingen an, wieder ihre normale Farbe anzunehmen. Und auf einmal schien er zu wachsen, das Fell wurde weniger. Paul nahm aus irgendeinem Grunde wieder seine menschliche Gestalt an. Doch kaum war die Rückverwandlung abgeschlossen, brach er auch schon weinend zusammen. Richard wollte ihn auffangen, wurde aber auch zu Boden gerissen. Auch er hatte die Gefühle des Werwolfs gespürt und konnte gut nachvollziehen, warum der Weiße so ausgerastet war. So redete er jetzt beruhigend auf ihn ein, allerdings knurrte er nun nicht mehr: „Ist ja gut...ganz ruhig...ist doch in Ordnung...“
„Nein, nichts ist in Ordnung! Verdammt, ich hätte fast getötet! Ich hatte mich nicht mehr unter Kontrolle! Das wollte ich nicht...das darf nie wieder passieren!“
„Es ist doch aber nichts passiert. Paul, beruhige dich doch, ganz ruhig...“
„Es tut mir leid...es tut mir ja so leid...“
Er klammerte sich schluchzend an den Schwarzhaarigen, der ihm beruhigend über den Rücken strich.
Der graue Hybride und seine Begleiter blieben überrascht stehen, als sie die Anwesenheit des Weißen kaum noch wahrnahmen. Was da wohl passiert war? Ob die Menschen ihm nun doch etwas getan hatten? Grundlos hatte er sich bestimmt nicht zurückverwandelt, schließlich war der junge Hybride, den sie bei sich hatten noch viel zu geschwächt, um so schnell und so lange zu laufen. Dass der ehemalige Mensch den Angriff überlebt hatte, stand für sie außer Zweifel, schließlich hatten sie die Verwandlung mitbekommen. Sie bekamen es immer mit, wenn ihnen ein neuer Artgenosse geschenkt wurde.
Der alte Graue gab ein kurzes Knurren von sich, was den anderen ein Zeichen zur Pause war. Er streckte sich genüsslich auf dem Boden aus. Er konnte warten. Sie hatten so ziemlich alle Zeit der Welt. Und so legten sie sich geduldig auf die Lauer, bereit, jederzeit zuzuschlagen, falls sich „ihr“ Weißer doch noch einmal zu einer Verwandlung entschließen sollte.
„Geht’s wieder?“, fragte Richard, nachdem Paul sich wieder beruhigt hatte.
„Jah, glaub schon, weiß nicht...ach scheiße...“, war die, nicht sonderlich klare, Antwort mit der sich der Weiße wieder aufrappelte. Er sah zu dem Hybriden, der immer noch im Gras saß und damit kämpfte, nicht wieder umzufallen.
„Du solltest dich wirklich wieder hinlegen, das ist besser für dich, weißt du...“
„Jaja, schon klar...“, war die Antwort des Schwarzhaarigen, der sich brav wieder hinlegte, die Augen allerdings offen behielt. Er wollte jetzt nicht schlafen, schließlich konnte er sich nicht sicher sein, ob „sein“ Weißer wieder Hilfe brauchen würde. Paul seufzte, dann fiel ihm plötzlich Schneider ein, der immer noch mit geschlossenen Augen im Gras lag und sich nicht gerührt hatte.
„Scheiße, verdammte, fuck ey!“, fluchte er leise vor sich hin und kniete sich, ohne auf die Blicke der anderen zu achten, zu dem Drummer.
„Christoph? Kannst du mich hören? Sag was.“
„Laut und deutlich...kann ich dich hören. Und falls du hier bist, um dich zu entschuldigen – das kannst du gleich mal vergessen.“
„Wieso das denn? Ich...“
„Weil ich Laufe der letzten drei Tage schon zweimal versucht habe, mich bei dir zu entschuldigen und jedes Mal hast du gesagt, dass ich es vergessen soll. Nun das habe ich wohl auch, sonst wäre das hier nicht passiert. Es war dein gutes Recht, mich anzugreifen und es gibt nichts, wofür du dich entschuldigen müsstest.“
Der Werwolf konnte nichts Anderes tun, als einfach nur zu nicken, angesichts dieser Worte. Er wusste, dass der Mensch es ernst meinte und widersprach deshalb auch nicht. Dann besah er sich die tiefen Verletzungen, die er mit seinen Klauen in die Schultern des Drummers geschlagen hatte.
„Scheiße!“, fluchte er wieder.
„Nein Blut. Scheiße sieht anders aus...“, war die grinsende Antwort seitens Schneiders. „Ist nicht weiter schlimm, sind nur Kratzer...“, meinte er dann.
„Da bin ich mir nicht so sicher, ob das nur Kratzer sind. Das wird lange brauchen, um zu verheilen, schließlich sind das Werwolfsverletzungen...“
„Dann dauert es eben länger. Ist mir nur recht, dann vergess ich wenigstens nie, wer du bist.“ Der Weiße konnte wieder nur nicken, dann half er seinem Freund vorsichtig auf die Beine.
Opfer
Die Menschen hatten die Unterhaltung schweigend mitverfolgt. Das Verständnis, das sich zwischen dem Werwolf und dem Menschen entwickelt hatte, überraschte und beruhigte sie gleichermaßen. Sie hofften, dass es nicht noch einmal zu einer solchen Auseinandersetzung kommen würde. Schließlich wollten sie Paul als ihren Freund nicht verlieren, obwohl er ein Werwolf war, im Gegenteil: Sie wollten sein endgültiges Vertrauen gewinnen. Keiner von ihnen wusste, was er durchgemacht hatte und das war ihnen auch relativ egal. Sie wussten nur, dass sie ihm das kein zweites Mal zumuten wollten und wenn Schneider ständig mit ihm stritt, war dies bestimmt kein guter Anfang.
„Kannst du laufen?“, fragte der Werwolf nun besagten Drummer.
„Ich denke schon. Mach dir mal nicht so viele Sorgen um mich. Kümmere dich lieber wieder um Richard.“, war die Antwort. Seufzend wandte sich der Weiße daraufhin dem Hybriden zu, der im Gras lag, die Augen halb geschlossen. Vorher hatte er sich nicht entspannen können. Jetzt aber, da er sicher sein konnte, dass der Zwist zwischen seinen beiden Freunden wohl endgültig beigelegt war, befand sich der Schwarzhaarige schon wieder auf dem Weg ins Reich der Träume.
„Richard?“, fragte Paul leise und stupste ihn sachte an. Der schlug die Augen wieder auf und nuschelte ein „Hmm?“
„Kannst du noch kurz warten, eh du weiterschläfst? Schließlich muss ich muss ich mich ja noch verwandeln...“
„Hmm...“ Richard hielt mühsam die Augen offen. „Dann mal los...Sonst schlaf ich eben wieder...“
„Ok...“
Der Weiße ging kurz in sich, schloss die Augen und verwandelte sich mit einem schaurigen Heulen erneut. Und obwohl es die Menschen schon einmal erlebt hatten, schauten sie jetzt wieder fasziniert und gebannt zu, wie die menschlichen Konturen ihres Freundes verschwanden und schließlich der riesenhafte, weiße Wolf vor ihnen stand und sie, schwanzwedelnd diesmal, mit hellwachen Augen anblickte. Für Richard jedoch war die Verwandlung nicht das selbe, wie beim letzten Mal. Als Paul heulte, wollte er das am liebsten auch tun und die Veränderungen während der Verwandlung schien er selbst körperlich zu spüren. Warum das so war, wusste er nicht, er spürte nur ein seltsames Gefühl der Vertrautheit.
Der Hybride blickte auf, als der Werwolf sich neben ihn legte. Er sammelte sich kurz und zog sich dann auf den Rücken des Weißen. Der stand vorsichtig auf und bevor er sich wieder in Bewegung setzte, war Richard auch schon eingeschlafen.
Der Graue und seine Begleiter warfen sich bedeutungsschwere Blicke zu. Kein Zweifel: „Ihr“ Weißer hatte sich wieder verwandelt. Die Menschen hatten ihm also doch nichts getan. Ein gutes Zeichen. Und der junge Hybride hatte immer noch seine menschliche Gestalt. Ein noch besseres Zeichen. Denn wenn der Weiße sie gewittert hätte, würde der Welpe, so jung und unerfahren er mit seinem neuen Selbst noch war, sich gewiss auch verwandeln, um „seinen“ Werwolf zu schützen. Und das war etwas, das sie überhaupt nicht gebrauchen konnten. Ein Hybridenkampf war immer gefährlich, vor allem, wenn der Gegner von einem Weißen gebissen worden war und sich dieser Weiße auch noch in der Nähe befand. So ein Hybride würde ihnen immer überlegen sein, egal, wie wenig Kampferfahrung er hatte und das Band, das ihn mit seinem Werwolf zusammenhielt, war ebenfalls nicht zu unterschätzen. Und genau da war für sie der Knackpunkt:
Sollten sie es schaffen, die beiden Artgenossen zu trennen, würden sie leichtes Spiel haben. Wie sie das anstellen wollten, wussten sie noch nicht, das war zu diesem Zeitpunkt noch zweitrangig. Sie mussten erst einmal so nahe, wie möglich an ihre Ziele heran, ohne, dass diese es mitbekamen.
Der Graue knurrte, ein Zeichen zum Aufbruch. Bedächtig erhob er sich und schlug dann eine gemächliche Gangart an. Seine Begleiter taten es ihm gleich.
Die sechs Rammsteiner wussten nichts von ihren nahenden Verfolgern. Einzig Paul ahnte, dass sie eventuell noch hinter ihnen her sein könnten. Hätte er aber gespürt, wie nahe sie schon waren, er hätte umgehend ein schärferes Tempo angeschlagen und die Menschen zur Eile gedrängt. So aber ging er davon aus, dass ihr Vorsprung immer noch groß genug war und sie das Ende der Wüste am Abend oder spätestens in der Nacht erreichen würden. Und wären sie erst einmal aus der Wüste heraus, würden sich die Hybriden auch wieder zurückziehen, da war sich Paul relativ sicher.
Wie sehr er sich in seinen Überlegungen doch täuschen sollte.
Sie kamen relativ zügig voran, auch, wenn sich bei den Menschen schon Ermüdungserscheinungen, wegen Nahrungsmangels zeigten. Schneider machten zusätzlich seine Verletzungen zu schaffen, aber er war bemüht, sich nichts anmerken zu lassen. Till ging es mit seinem immer noch schmerzenden Kopf ähnlich. Überhaupt klagte keiner von ihnen, waren sie sich doch mittlerweile sicher, dass sie alles einigermaßen heil überleben würden. Doch das sollte sich bald ändern, denn am späten Nachmittag blieb Paul plötzlich stehen und mit ihm seine vier überraschten Freunde. Suchend blickte er sich um, zog witternd die Luft ein und fing an zu knurren. Er hatte ihre Verfolger entdeckt. Die Menschen warfen sich sorgenvolle Blicke zu. Inzwischen wussten sie, dass es nie ein gutes Zeichen war, wenn der Weiße grundlos stehen blieb und dann auch noch zu knurren anfing. Gerade wollte Till fragen was denn los sei, aber der Werwolf kam ihm zuvor: „Verdammt!“, fluchte er leise vor sich hin, „Ich hätte es wissen müssen! Ich hätte wissen müssen, dass sie doch so nahe sind. Ich hab sie unterschätzt. Wie konnte das nur passieren? Ich mach auch gar nichts richtig...“
„Paul?“ Schneider starrte verständnislos auf seinen Freund. „Ich weiß zwar nicht, was los ist, aber ich kann dir mit Gewissheit sagen, dass du bis jetzt alles richtig gemacht hast...“
„Jaa bis jetzt vielleicht! Mal ganz davon abgesehen, dass das nicht stimmt!“, wurde der Mensch unterbrochen. „Aber ich hab die ganze Zeit über einen elementaren Fehler gemacht!“
„Und der wäre?“ Schneiders Frage klang nicht fordernd oder gereizt, sondern eher mitfühlend. Er hatte also tatsächlich etwas gelernt. Und genau das veranlasste nun den Weißen, sich sofort den Menschen anzuvertrauen. Er hätte ohnehin kaum eine andere Wahl gehabt.
Paul atmete tief durch, dann knurrte er: „Erinnert ihr euch noch an den Hybriden, der Richard angegriffen hat?“ Allgemeines Nicken war die Antwort. Und wie sich ich erinnerten! Das würden sie wohl auch nicht so schnell wieder vergessen!
„Nun ja...so, wie es aussieht hat er uns die ganze Zeit verfolgt und mittlerweile hat er auch noch Verstärkung in Form eines Werwolfs und eines weiteren Hybriden bekommen. Sie sind nicht mehr weit von uns entfernt und werden wohl bald hier sein...“
„Und was wollen die von uns, Weißer?“ Der Schwarzhaarige war aufgewacht, hatte sich aufgerichtet und war im Begriff von dem Werwolf zu steigen. Paul ließ den Kopf hängen. „Um ehrlich zu sein: Ich weiß es nicht. Ich habe höchstens eine Vermutung...“
„Gut, dann lass mal hören, Weißer.“, meinte der Hybride nur, der inzwischen relativ sicher auf seinen Füßen stand und den Werwolf erwartungsvoll anschaute.
„Nun, ich denke mal, dass sie dich wollen, Richard...und vielleicht auch mich...“
„Wieso das denn jetzt?“ Mit so einer Antwort hatte der Schwarzhaarige zwar fast schon gerechnet, trotzdem war es wie ein Schlag ins Gesicht für ihn.
„Naja...dich wollen sie bestimmt, weil du auch ein Hybride bist, also ihr Artgenosse. Und mich wollen sie vielleicht, damit sie noch mehr Menschen zu Hybriden machen können. Ich nehme mal an, dass sie wissen, dass ich immer ansteckend bin und da ist es für sie natürlich von Vorteil, wenn sie mich auch haben. Die Hybriden sind eine noch junge Art, sie brauchen jeden von ihnen, den sie kriegen können, um zu überleben...“
„Ok, das erklärt natürlich einiges...Aber was ist mit Till, Schneider, Olli und Flake? Sie sind schließlich Menschen...“ Auch diese Antwort ahnte Richard schon, bevor Paul sie ihm gegeben hatte, was die Sache für ihn allerdings nicht unkomplizierter machte. Denn für den Welpen war jetzt schon klar, dass er seine Freunde um jeden Preis schützen würde, um wirklich jeden Preis.
„Ich nehme mal an, sie haben zwei Möglichkeiten...entweder sie werden auch Hybriden und schließen sich ihnen ebenfalls an, oder, naja...“
„Ich vermute mal sie bringen uns um, wenn wir nicht das tun, was sie wollen, richtig?“ Schneider war äußerlich ruhig, seine Stimme zitterte jedoch bedenklich. Paul konnte nichts anderes tun, als zu nicken.
„Niemals!“, kam es wütend von dem Schwarzhaarigen. „Das lasse ich nicht zu!“
Der Weiße hätte am liebsten geseufzt, verkniff es sich aber. Er hatte erwartet, dass „sein“ Welpe so reagieren würde, aber er konnte es seinerseits nicht zulassen, dass der junge Hybride sich dermaßen in Gefahr begab.
„Richard, du wirst gar nichts tun, hast du mich verstanden? Du wirst zusammen mit den anderen versuchen, so schnell wie möglich, aus dieser Wüste herauszukommen. Ich halte sie inzwischen auf und...“
„Davon träumst du wohl, Weißer! Glaubst du denn, ich weiß nicht, was passiert, wenn dich ein Hybride beißt? Du würdest binnen Minuten sterben und das kann ich nicht verantworten!“ „Ja, aber...“
„Kein ‚aber’, ich bleibe hier und ihr seht zu, dass ihr aus dieser dämlichen Wüste rauskommt und Hilfe holt. Mir passiert schon nichts, ich bin wenigstens gegen ihre Bisse immun.“
„Aber Richard! Du hast doch noch kaum Erfahrung mit deinem neuen Selbst, geschweige denn mit deiner Gestalt, wenn du dich verwandelst. Außerdem bist du noch viel zu schwach dazu, du würdest nicht lange durchhalten und...“
Der Werwolf hätte sicherlich noch eine Weile so weiter gemacht, doch sein Welpe unterbrach ihn, indem er vor „seinem“ Weißen in die Hocke ging, ihm tief in die Augen blickte und sanft sagte: „Weißt du...ich hab mich noch gar nicht bei dir bedankt, dass du mir das Leben gerettet hast und überhaupt...für alles eben...das gilt übrigens für euch alle.“, meinte er noch, denn auch die Menschen sahen so aus, als wollten sie heftige Widersprüche einlegen. „Betrachtet es einfach als Dankeschön für...für alles eben......und jetzt macht, dass ihr hier wegkommt, ich komm schon klar und Paul: Komm bloß nicht zurück, das meine ich ernst!“
Dann lächelte er und stand wieder auf. Er hatte seine Entscheidung getroffen. Der Weiße resignierte. Der Schwarzhaarige war ja schon immer ziemlich stur gewesen, aber noch schlimmer war, dass es ihm regelmäßig gelang, seinen Dickkopf auch noch durchzusetzen. Schlimm sowas. Aber der Werwolf wusste auch, dass sein Welpe recht hatte: Für ihn, Paul, war es wesentlich gefährlicher hierzubleiben, als für Richard. Und so verwandelte sich der Weiße schweren Herzens wieder zurück. Kurz sah er noch zu seinem Artgenossen, den er wohl vermutlich nie wieder sehen würde, dann marschierte er, ohne ein weiteres Wort zu sagen, die Augen stur auf seine Füße gerichtet, weiter den grasbewachsenen Weg entlang, der ihn in Richtung Wüstenende führen sollte. Die Menschen wussten nicht recht, was tun, doch als der Hybride ihnen zunickte, setzten sie sich ebenfalls stumm in Bewegung. Alle fünf verließen den Ort mit dem Gefühl, dass irgendetwas gerade schrecklich schief lief.
Die drei Verfolger sahen sich überrascht und bestürzt an. Der Weiße hatte sie also tatsächlich gewittert. Aber er hatte sich zurückverwandelt. Und der Welpe hatte noch immer seine menschliche Gestalt. Das ergab keinen Sinn. Ihre beiden Ziele handelten überhaupt nicht so, wie sie es geplant hatten. Was nun? Doch dann spürten sie, dass der Werwolf und die Menschen sich entfernten und „ihr“ Hybride allein zurückblieb. Natürlich! Sie hätten sich ja auch gleich denken können, dass der Welpe so reagieren würde: Alle fortschicken und es allein mit ihnen aufnehmen. Das war an sich großartig. So brauchten sie sich keine Gedanken mehr darüber zu machen, wie sie die beiden Verwandten denn nun trennen wollten, ihr Problem hatte sich also praktisch von allein gelöst. Ein kleiner Wermutstropfen war höchstens, dass sie den Weißen in absehbarer Zeit wohl nicht so einfach bekommen würden, aber das konnte vorerst warten. Ihr neuer Artgenosse war wichtiger.
Und so setzten sie sich wieder in Bewegung, schneller diesmal, um so schnell wie möglich, zu ihrem Ziel zu kommen.
Richard sah auf. Er wusste, dass sie kamen. Spürte es mit jeder Faser seines Körpers. Hörte das Trappeln der Pfoten und Füße, die dumpf auf dem Wüstenboden aufschlugen. Witterte sie und konnte, allein anhand ihrer Gerüche, sie unterscheiden und ihre Stärke einschätzen. Richtig gefährlich war für ihn nur der Hybride, der ihn angegriffen hatte und bei dem Gedanken an diesen stieg heiße Wut in dem Schwarzhaarigen auf. Die anderen beiden hielt Richard für weniger schlimm. Das eine war ein Werwolf in seiner menschlichen Gestalt, ein Biss und er wäre erledigt. Und das andere war ein weiterer Hybride, allerdings auch ein ganz junger und er war zudem weit schwächer, als der Schwarzhaarige. Jetzt sah er sie auch. Sah eine Staubwolke, die sich mit hoher Geschwindigkeit auf ihn zubewegte.
‚Ok...’, dachte er sich daraufhin, ‚es wird wohl Zeit, dass ich mich auch mal verwandele. Also schön, dann mal los...’ Der Hybride schloss die Augen und...nichts passierte. ‚Verdammt!’ Er hatte doch glattweg vergessen, Paul zu fragen, wie man sich verwandelte.
‚Ok...gut. Sieht wohl so aus, als hätte ich jetzt ein Problem. Ruhig bleiben Richard. Denk nach, dir wird schon was einfallen...’
Doch ihm fiel nichts ein. Es war doch zum Haare ausreißen: Er wusste, wie sich das Ganze in etwa anfühlte, doch er wusste nicht, wie er es einleiten sollte. Inzwischen kamen seine Gegner immer näher. Er versuchte sich an das Gefühl zu erinnern, als Paul die Verwandlung eingeleitet hatte. Er konzentrierte sich und...nichts geschah. Er konnte sich einfach nicht mehr erinnern, wie es sich angefühlt hatte. Nur Pauls Heulen war ihm noch im Ohr. Richard wurde allmählich wütend. Wieder ging er in sich und wieder geschah...
Moment mal: Es passierte etwas. Der Schwarzhaarige spürte auf einmal eine Veränderung in seinem Körper. Überrascht und irritiert davon, war seine Konzentration aber auch schon wieder verschwunden und mit ihr dieses Gefühl. Der Hybride schaute sich seine Arme näher an. Täuschte er sich, oder waren da tatsächlich mehr Haare, als vorher?
‚Ach Quatsch, das bildest du dir nur ein. Aber du bist auf dem richtigen Weg, also mach weiter!’ Wieder ging er in sich, aber diesmal passierte...nichts. Richard stieß frustriert ein lautes, zorniges Werwolfsheulen aus, um seiner Wut Luft zu machen. Und auf einmal war dieses Gefühl wieder da. Und diesmal ließ sich der Hybride durch nichts stören, diesmal hielt er daran fest und wollte es nie wieder loslassen. Er spürte ganz genau, dass es diesmal klappen würde.
Und dann verwandelte er sich. Ähnlich einem Werwolf wuchs ihm ein dichtes Fell. Sein Kopf zog sich in die Länge und seine Eckzähne wurden um einiges länger, als bei einem normalen Werwolf. Und anstatt, dass sich Hände und Füße komplett zu Pfoten ballten, wuchsen ihm eher lange Klauen und seine Hände sahen noch immer handförmig aus. Auch die Wolfsrute war viel länger, als bei einem Wolf üblich. Die Proportionen seiner Gliedmaßen hatten sich völlig verschoben, die Arme waren jetzt genauso lang, wie die Beine, sodass seine ganze Gestalt nicht einem Wolf glich, sondern eher einer Mischung aus Wolf und Mensch, der sich noch auf zwei Beinen fortbewegen konnte, auf vieren allerdings viel schneller vorankam, im Prinzip so, wie man es aus Filmen kannte. Der größte Unterschied jedoch waren die riesigen Flügel, die seinen Rücken durchbrachen. Sie sahen nicht aus, wie die Schwingen von Vögeln, mit Federn also, sondern sie waren eher mit Flügeln von Fledermäusen oder Drachen vergleichbar. Zwischen jeweils vier Knochen spannten sich schwarze Hautmembranen und jeder Knochen war noch einmal mit einem klauenartigen dunklen Fortsatz versehen. Überhaupt war der ganze Hybride schwarz. Unter dem kurzen glatten Fell, welches ganz im Gegensatz zu den langen Haaren des Weißen stand, konnte man das Muskelspiel beobachten und als die Verwandlung abgeschlossen war, stieß er noch einmal ein urtümliches Heulen aus, welches aber diesmal mit einer Art anderen Ruf gepaart war.
Richard schlug die rotglühenden Augen auf und blickte an sich hinunter. Was er sah, überraschte ihn keineswegs, auch wenn der graue Hybride, der ihn angefallen hatte, etwas anders aussah. Der wirkte menschenähnlicher und sein Kopf war nicht komplett „wölfisch“ gewesen. Auch die Flügel waren nicht so riesig. Nun ja, Paul hatte ja erzählt, dass die Verwandlungen alle sehr unterschiedlich aussahen.
Genannter Werwolf schaute auf, als er spürte, wie sich sein Welpe verwandelte.
„Er hat’s geschafft! Gut gemacht Schwarzer und ich hatte dir nicht einmal gesagt, wie es geht...“
„Paul?“ Till sah seinen Freund fragend an, der für ihn in Rätseln sprach.
„Oh, Entschuldigung. Richard hat es gerade geschafft, sich zu verwandeln, immerhin...“
„Und...ist das jetzt gut?“ Flakes Blick stand dem von Till in nichts nach.
„Naja...es ist immerhin besser, als wenn er’s nicht geschafft hätte...“
„Aha...“, kam es wieder von Till. Mehr fiel ihnen nicht ein, was sie noch hätten sagen können. Sie alle wussten, dass es nicht gut aussah, gar nicht gut...
Währenddessen versuchte der Hybride mit seinem neuen Körper klarzukommen. Er ließ sich auf seine Arme(oder eher Vorderbeine?) herunter und machte vorsichtig einen Schritt vorwärts. Dann noch einen. Und noch einen. Doch Richard war es nicht gewohnt, sich auf vier Beinen fortzubewegen. Er geriet ins Straucheln und wäre fast gestolpert, schaffte es jedoch, sich rechtzeitig wieder aufzurichten und einigermaßen sicher auf seinen zwei gebogenen Beinen(Hinterbeinen?) zu stehen.
‚Boah Paul hat nie erzählt, dass das so kompliziert ist...’
Vorsichtig versuchte er seine Flügel zu bewegen. Die linke Schwinge stellte sich nach oben, die rechte rammte er sich beinahe mit der Klaue ins Bein.
‚Na klasse! Und wie soll ich jetzt gegen diese Viecher etwas ausrichten, wenn ich meinen Körper so wenig unter Kontrolle hab?’ Er versuchte es noch einmal, langsamer und mit mehr Gefühl diesmal, und schaffte es auch tatsächlich, dass sich beide Flügel ruckartig nach oben stellten.
‚Gut, das ist ja schon mal ein Anfang, hmm...’ Jetzt versuchte er, seine Flügel synchron nach unten zu bewegen, was ihm auch leidlich gelang.
‚Super, das geht ja schon mal...einigermaßen...’ Richard bewegte seine Schwingen wieder nach oben und wieder nach unten und wieder nach oben und allmählich fand er einen Rhythmus. Doch genau durch diese gleichmäßigen Flügelschläge bekam er Auftrieb und das hob ihn langsam in die Luft. Die Augen des Schwarzen weiteten sich vor Schreck und Überraschung, er ruderte mit Armen und Beinen und hörte auf, mit den Flügeln zu schlagen. Dadurch verlor er aber gewonnen Auftrieb, die Schwerkraft bekam wieder die Oberhand und er plumpste unsanft auf sein Hinterteil.
„Aauu!“, heulte der Hybride und rappelte sich vorsichtig wieder auf.
‚Ok, fliegen scheint ja zu funktionieren, versuchen wir es jetzt noch mal mit dem Laufen...’ Wieder ließ er sich auf seine Vorderbeine herunter und schaffte es nach einigen kläglichen Versuchen auch tatsächlich, ein paar Schritte zu laufen, ohne hinzufallen.
‚Gut, das muss reichen, sie werden bald hier sein’, dachte er sich noch und stellte sich wieder aufrecht hin, in eine, wie er meinte, respekteinflößende Haltung.
Kampf
Plötzlich hörte der Schwarze hinter sich ein bellendes Lachen. Er wirbelte herum, was ihn beinahe wieder ins Straucheln brachte, und sah zum ersten Mal seine drei Verfolger in voller Lebensgröße von Angesicht zu Angesicht. Einen von ihnen kannte er ja schon flüchtig, den alten Grauen mit den vielen Narben auf dem Fell. Bei seinem Anblick fing Richard unwillkürlich zu knurren an und in seinen Augen blitzte es. Dann musterte er die anderen beiden. Der eine sah aus, wie ein Mensch, doch der Schwarze witterte und spürte, dass es sich um einen Werwolf handelte. Der andere war tatsächlich auch ein Hybride, es handelte sich um einen braun-schwarz gescheckten. Er war ziemlich klein und seine Flügel sahen irgendwie verkümmert aus. Überhaupt war er noch der wolfsähnlichste der drei Hybriden. Richard fand, dass er in gewisser Weise krank aussah und fragte sich, warum der Graue sich wohl solche seltsamen, augenscheinlich schwachen, Begleiter ausgewählt hatte.
„Naa, hast du Koordinationsprobleme?“, fragte der Alte nun, immer noch lachend.
„Nein, jetzt nicht mehr...“, knurrte Richard zurück. Sie hatten also seine Schwierigkeiten gesehen. Na das konnte ja heiter werden.
„Ach tatsächlich? Sah aber bis gerade eben nicht so aus...“
„Dann haben dich wohl deine Augen getäuscht...“, erwiderte der Schwarze nun gereizt. Allein schon vom Anblick des Grauen bekam er eine rasende Wut, aber wenn er ihn auch noch sprechen hörte...
„Nun, ich bin schon alt, da passiert das leicht, aber – lassen wir das. Ich nehme mal an, dass du weißt, warum wir hier sind?“
„Ja, und ich nehme mal an, dass du weißt, warum ihr nur mich vorfindet?“
„Ich kann’s mir denken, ja...du spielst den Helden...“
„Das tu ich nicht! Du, nein ihr, ihr wollt meine Freunde umbringen und...“
„Oh, nicht zwangsläufig. Sie haben die Wahl und weißt du kleiner Welpe, man hat im Leben immer eine Wahl.
Sie können welche von unserer Art werden, von deiner Art, wenn ich das noch anfügen darf...“ Der Alte strahlte eine unglaubliche Sicherheit und Ruhe aus, die Richard bald zur Weißglut trieb, aber er wusste, dass die ihm nichts nützen würde und so zwang er sich ebenfalls, ruhig zu bleiben.
„Aber ich nehme mal an, dass ihr sie doch umbringen werdet, falls sie die falsche Entscheidung treffen?“
„Falsche Entscheidung? Was betrachtest du denn als falsch? Oder andersherum: Was betrachtest du als richtig? Das ist immer auch eine Frage des Standpunktes. Aber falls du mit deiner verwirrenden Aussage meintest, dass wir deine Freunde töten, wenn sie sich uns nicht anschließen wollen, dann kann ich dich bestätigen. Und...“, jetzt wurde das ruhige Knurren des Grauen gehässig und sein ganzer Körper strahlte Überheblichkeit aus, „und deinen kleinen Kumpel, den weißen Werwolf nehmen wir auch gleich noch mit. Wir können ihn gut gebrauchen, weißt du...Werwolfshybriden sind nämlich um einiges angenehmer, als diese elenden Blutsauger...“ Wieder stieß er ein bellendes Lachen aus.
Das war zu viel für den schwarzen Hybriden. Wutschnaubend stürzte er auf seinen Gegenüber zu, doch der Werwolf fuhr ihm dazwischen. Richard wurde zu Boden geschleudert, rappelte sich aber sofort wieder auf und ging nun auf den Wolf los. Der versuchte zu entkommen, doch der wütende Hybride packte ihn von hinten und rammte ihm seine messerscharfen Klauen in den Rücken. Sein Gegner kippte nach vorne, doch Richard zog ihn an den Haaren zurück und biss ihm in dem Hals. Dann riss er ihm die Kehle heraus.
Blut spritzte und der Schwarze sog tief den Geruch ein. Da kam wieder der Vampir in ihm durch, auch, was den Kehlbiss betraf, doch der Werwolf war stärker und so machte er sich auch nicht daran, den Toten auszusaugen, obwohl es für ihn ganz hilfreich gewesen wäre.
Denn obwohl es eine schaurige Sache war: Das frische, sauerstoffreiche Blut hätte zweifelsohne dafür gesorgt, dass Richards Körper sich binnen Minuten wieder vollständig erholt hätte. Doch wie gesagt: Sein innerer Wolf und seine natürlich Abneigung, Blut zu trinken, waren stärker und so wandte er sich erneut dem Grauen zu, der die Szene amüsiert beobachtet hatte. Schon wollte der Schwarze wieder auf ihn losgehen, hielt dann aber kurz inne. Hatte er das wirklich gerade eben getan? Er verspürte keine Skrupel, dass er gerade getötet hatte, eher Verwunderung darüber, dass sein Körper ihm so gut gehorchte.
‚Nicht darüber nachdenken, was du tust. Das ist der Trick. Koordinationsschwierigkeiten? Nicht mehr, schließlich hab ich jetzt ein Ziel, ich weiß also ganz genau, wo ich hinmuss...’
Und mit diesem Gedanken stürzte er sich erneut auf den Grauen, aber der Braungescheckte vereitelte seinen Angriff. Doch diesmal hatte Richard das kommen sehen und blockte den kleineren Hybriden ab. Der fiel ins Gras und schon war der Schwarze über ihm. Mehrmals biss er den Kleinen, obwohl er wusste, dass der davon nicht sterben würde, dann beförderte er ihn mit einem gezielten Tritt aus der Schusslinie. Der Braune fiel ins Gras, wo er bewusstlos liegen blieb und Richard fixierte den Alten mit scharfen Blicken.
In dem Moment wollte er nicht nur eine Freunde schützen, nein, er wollte Rache. Rache dafür, dass der Graue ihm sein altes Leben weggenommen hatte. Er wusste, dass es nie wieder so sein würde, wie vorher, vielleicht ähnlich, aber nicht gleich. Und dafür wollte er den Schuldigen bestrafen. Seiner rasenden Wut hatte er den Spielraum gelassen, die hatte er an dem Werwolf und dem kleinen Braunen abreagiert. Pech für die zwei. Was blieb, war eine eiskalte, berechnende Wut und der Schwarze wusste ganz genau, wen sie treffen sollte und würde.
Zornfunkelnd griff er den Grauen an, der seine Überheblichkeit längst hinter sich gelassen hatte und unmerklich in eine Verteidigungshaltung geglitten war. Er wich dem Angriff geschickt aus und startete eine Gegenattacke. Richard blockte, stieß sich vom Boden ab, breitete seine Schwingen aus und erhob sich mit gewaltigen Flügelschlägen in die Luft. Der Alte sah ihm erst überrascht, dann lächelnd nach und knurrte amüsiert: „Oh, ein Luftkampf also, von mir aus...ich bin schon immer gerne geflogen...“ Damit schlug auch er mit den Flügeln und stieg auf Richards Augenhöhe, wobei er sich aber um einiges müheloser und eleganter in der Luft hielt, als der Schwarze, der heftig mit den Flügeln schlug, um oben zu bleiben, was seinem Körper allerdings auch enorme Kraft kostete. Doch das spürte er nicht und selbst wenn, es hätte ihn nicht interessiert. Er stieß nach vorne, doch der Alte wich ihm wieder geschickt aus, rammte ihm das Knie in den Rücken und gemeinsam schlugen sie auf dem Boden auf.
Der Welpe knurrte und schnappte mit den Zähnen nach der Flanke des Grauen. Der fuhr herum und schlug nun seinerseits die Zähne tief in die Seite des jungen Hybriden. Richard schrie auf, als er spürte, wie seine Rippen mit einem hässlichen Knacken brachen.
Der Weiße zuckte schmerzerfüllt zusammen.
„Paul? Stimmt was nicht? Was ist los?“ Schneider bedachte seinen Freund mit einem sorgenvollen Blick.
„Richard!“, war das Einzige, was der hervorbrachte.
„Wieso Richard? Was ist mit ihm?“, fragte nun auch Till, sichtlich beunruhigt.
„Er ist verletzt. Ziemlich schlimm sogar. Ich spüre das. Es geht ihm gar nicht gut. Ich muss zurück! Ich muss ihm helfen!“ Pauls Atem ging stoßweise, als sich heftiger Schmerz wellenförmig durch seinen Körper zog. Aber es war nicht nur der physische Schmerz, der ihm Sorgen bereitete. Er spürte auch eine gewisse Hoffnungslosigkeit, die sich dazugesellte und die war viel schlimmer. Er hatte den ganzen Kampf mitverfolgt und er war der Meinung, das sich „sein“ Hybride um einiges besser geschlagen hatte, als er zunächst dachte.
„Zurück?“, riss ihn Schneider aus seinen Gedanken. „Du hast doch aber gehört, was Richard gesagt hat. Du sollst nicht zurückgehen. Sie würden dich töten...“
„Aber ich muss ihm doch helfen!“
„Wir wollen dich aber nicht verlieren Paul. Keiner von uns. Richard kommt schon klar...“, versuchte nun auch Till zu beschwichtigen.
„Aber den wollt ihr doch auch nicht verlieren, oder? Nein! Ich muss zurück! Ihr holt inzwischen Hilfe. Die Wüste ist bald zu Ende und gleich dahinter seid ihr aus dem Funkloch raus. Sie werden uns ohnehin suchen. Schließlich sind wir jetzt fast vier Tage verschwunden. Wir kommen dann nach. Ich bin auch vorsichtig, ich verspreche es, aber ich muss zurück!“ Der Weiße war nicht mehr aufzuhalten. „Danke...für alles.“, sagte er noch, dann verwandelte er sich wieder und fegte kurz darauf wie der Wind den Weg zurück, den sie gerade gekommen waren.
Till und Schneider seufzten und in dem Moment fragten sich alle vier Menschen, ob sie ihre beiden Freunde jemals wiedersehen würden.
Paul rannte, was seine Beine hergaben und trieb sich trotzdem zu immer größerer Eile an. Er wusste, dass die Chancen, den Welpen bei seinem Eintreffen noch lebend vorzufinden, äußerst gering waren, trotzdem wollte er nichts unversucht lassen, dem Schwarzen zu helfen. Der Werwolf spürte, wie sich weitere Schmerzen zu den vorhandenen gesellten, was ihn aber nicht davon abbrachte, weiterhin mit Höchstgeschwindigkeit zu laufen.
‚Durchhalten Richard. Hilfe ist unterwegs.’
Der Schwarze versuchte sich krampfhaft aus dem Biss des älteren Hybriden zu befreien, was aber nur dazu führte, dass dieser ihn heftig durchschüttelte. Richard verkniff sich ein weiteres Schreien und verbiss sich stattdessen im Rücken des Grauen. Der geriet ins Straucheln und gemeinsam kugelten sie eine Sanddüne hinunter. Dadurch gelang es dem Schwarzen, den Älteren abzuschütteln und wieder auf die Beine zu kommen. Schwer hechelnd blieb er stehen und hielt erst einmal inne. Seine rechte Seite schmerzte höllisch und Blut lief in kleinen Rinnsalen im Takt seiner Atmung, die ihm immer schwerer fiel, aus den tiefen Wunden.
‚Na super’, dachte sich Richard, als er dies bemerkte. Vermutlich hatte eine gebrochene Rippe seine Lunge erwischt. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Überhaupt kam es ihm wie ein Wunder vor, dass er sich noch auf den Beinen halten konnte. Musste wohl daran liegen, dass er jetzt ein Hybride war.
Vor ihm kam sein Gegner wieder hoch. Auch der Graue sah schon mitgenommen aus, doch er war zäh und hatte schon viele Kämpfe erlebt und gewonnen. Trotzdem beeindruckte ihn die Leistung des Welpen, der ja zusätzlich noch durch die Vergiftung immer noch geschwächt war. Was würde er erst leisten, wenn er seine volle Stärke wiederhatte? So jemanden könnten sie bei sich gut gebrauchen. Er musste es nur noch schaffen, den Welpen zu „überreden“, sich ihnen anzuschließen. Das war schließlich das Beste für ihn, schließlich waren die Hybriden jetzt seine Artgenossen, seine Familie. Was wollte er also bei den Menschen, jenen Lebewesen, die seine Art verfolgten und töteten?
Sie beide musterten sich nun mit glühenden Augen, dann griffen sie sich zeitgleich an. Der Alte stieß nach vorne, doch diesmal wich Richard aus und setze zur Gegenattacke an. Plötzlich traf in allerdings etwas an der linken Seiten und der Schwarze wurde weggeschleudert. Verwirrt rappelte er sich hoch und sah, dass der kleine Braune wieder auf die Beine gekommen war und er es nun mit zwei Gegnern zu tun hatte. Richard knurrte. Die beiden anderen Hybriden warfen sich wissende Blicke zu, dann griffen sie von beiden Seiten an. Der Schwarze hatte keine Chance. Verzweifelt versuchte er, den Braunen und den Grauen abzuschütteln, aber die hatten sich wieder tief in sein Fleisch verbissen. Der Welpe spürte, wie seine Kräfte immer mehr schwanden und hatte sich schon fast aufgegeben, als er plötzlich ein warmes Gefühl der Vertrautheit bemerkte. Verwundert schaute er nach oben und sah...einen riesigen weißen Wolf.
„Hey!“, knurrte Paul wütend. „Hat man euch nicht gesagt, dass zwei gegen einen verdammt unfair ist?“ Der Graue ließ von dem Welpen ab und sah amüsiert auf den Weißen.
„Nö...“, meinte er dann, „An dem Tag muss ich wohl in der Schule gefehlt haben...“ Ein bellendes Lachen folgte. Richard traute seinen Augen kaum: Sein Werwolf war also tatsächlich wieder da. Allerdings wusste er nicht, was er davon halten sollte. Einerseits brachte ihm die bloße Nähe Pauls einen Energieschub, andererseits war er wütend, dass der Weiße sich so in Gefahr für ihn begab.
„Idiot!“, murmelte er deshalb vor sich hin. „Ich hab ihm gesagt, dass er nicht zurückkommen soll!“
„Na das finde ich ja mal ganz praktisch.“, knurrte der Alte amüsiert und überheblich zugleich. „Du bist zurückgekommen, wirklich positiv, dann müssen wir dich nicht erst suchen.“ Und mit einem Blick auf den schwer angeschlagenen Schwarzen meinte er noch: „Jetzt ist die liebe Familie also wieder vereint, wie schön...“
Paul und Richard wurde es langsam zu bunt. Sie nickten sich zu und griffen dann gemeinsam den Grauen an. Der hatte kaum Zeit zu reagieren und so wurde er von zwei Seiten hart erwischt. Das gefiel dem Alten natürlich gar nicht und er schnappte wütend mit den Zähnen nach dem Werwolf.
„Tja, mein Weißer.“, grinste er, „Hier hast du schlechte Karten. Ein Biss und du bist erledigt.“ „Nun ja, ich muss mich ja aber nicht unbedingt von euch beißen lassen, oder?“, knurrte Paul zurück.
Doch plötzlich rammte ihn etwas von der Seite: Der kleine braune Hybride, der einem Werwolf so ähnlich sah. Paul wich geradeso noch seinen Zähnen aus, dann war er auch schon in einen Kampf mit dem Braunen verwickelt. Der Alte nickte unmerklich und wandte sich dem Schwarzen zu, der seinen Freund zu Hilfe kommen wollte. Jetzt handelten die beiden Hybriden so, wie sie es eigentlich geplant hatten: Die Verwandten trennen und jeden in einen Einzelkampf verwickeln. Ihre Ziele durchschauten dies recht bald, doch da war es schon zu spät:
Sie befanden sich schon fast außer Sichtweite und mit jedem Meter den er sich von seinem Werwolf entfernte, wurde der Welpe wieder schwächer. Er musste sich dringend etwas einfallen lassen, denn er spürte, wie es für den Weißen immer schwieriger wurde, den Bissen des Hybriden auszuweichen. Sie beide teilten durch ihre besondere Verbindung die Empfindungen des jeweils anderen, sowohl Schmerzen, als auch Gefühle. Jeden Treffer, den Richard einstecken musste, bekam auch Paul zu spüren und andersherum war es genauso. Und für beide sah es nicht sonderlich gut aus.
Doch plötzlich schien sich das Blatt zu wenden, denn der Graue ließ auf einmal in seinen Attacken nach. Sein Gegner wunderte sich erst, setzte ihm dann aber umso heftiger zu. Er glaubte nicht, dass der Alte keine Kraft mehr hatte, oder ähnliches, und dann spürte er auch den Grund für die plötzliche „Schwäche“ des Grauen.
Paul hatte es doch tatsächlich irgendwie geschafft, die Oberhand in dem Kampf zu bekommen und den kleinen Hybriden in die Ecke gedrängt. Immer wieder griff er ihn an und auf einmal war er über ihm, drückte mit einer Pfote die Schnauze des Gegners zu Boden und war mit seinen Zähnen nur Zentimeter von der Kehle des anderen entfernt. Ihn so bedrohend, knurrte Paul nun den Kleineren an: „Du wirst deinem Hybriden jetzt sagen, dass ihr verschwindet, hast du mich verstanden? Du wirst ihm sagen, dass ihr uns in Ruhe lassen sollt und unsere Freunde auch, egal, ob Mensch oder irgendetwas anderes. Hab ich mich klar ausgedrückt?“ Der Braune wimmerte, nickte dann aber. Dann gab er die Forderungen weiter.
Inzwischen hatte Richard seine Chance genutzt und war, wie sein Werwolf, nur kurz davor, seinen Gegner zu töten und diese Gelegenheit würde er sich nicht entgehen lassen.
„Hast du noch irgendetwas zu sagen?“, knurrte er, seine Augen blitzten. In dem Moment beherrschte nur ein einziges Gefühl seinen Verstand und seinen Körper: Rache! Und die würde er bekommen, da war er sich sicher.
„Mein Sohn...“, kam es nur von dem Grauen, was den Schwarzen sichtlich verwirrte.
„Dein Sohn?“, fragte er, doch sein Gegner schien ihn gar nicht zu hören. Jegliche Überheblichkeit war von ihm abgefallen, stattdessen zeigte er nun ein Gefühl, das Richard zum ersten Mal bei ihm wahrnahm: Angst.
„Nein, bring ihn nicht um, bitte. Ich tu auch alles, was du willst, aber bitte bring ihn nicht um...“
„Sag mal, was treibst du eigentlich hier?“ Dem Schwarzen wurde das langsam alles zu viel. Was sollte das auf einmal?
„Lass mich los, kleiner Welpe, es ist vorbei...“
„Vorbei? Nein, gar nichts ist hier vorbei! Es ist erst vorbei, wenn du dafür bezahlt hast, was du mir angetan hast! Du hast mir mein altes Leben gestohlen!“, schrie Richard wütend den Grauen an, ohne auf dessen müde Stimme zu achten.
„Nein, es ist gut.“, kam es von dem Alten, der allerdings keine Anstalten machte, sich zu wehren. „Dein Werwolf hat meinen Sohn in seiner Gewalt. Er bringt ihn um, wenn ich nicht das tue, was er sagt. Und glaube mir, mein Sohn ist mir genauso wichtig, wie dir dein Weißer.“ Der Schwarze wusste dazu nichts zu sagen und so redete der Graue weiter.
„Dein Freund stellt die Forderung, dass wir euch in Ruhe lassen und euch nicht mehr belästigen und darauf werde ich eingehen. Um ehrlich zu sein: Ich hab euch unterschätzt. Das war ein Fehler und das gebe ich zu. Ihr habt eine starke Bindung zueinander, du und dein Weißer, aber das kann nur sein, wenn ihr die auch schon vorher hattet. Und genauso stark ist deine Bindung auch zu deinen menschlichen Freunden. Das hatte ich übersehen. Ich wollte dir eine neue, eine bessere Familie anbieten, aber du hast bereits die beste Familie, die man sich wünschen kann, auch, wenn sie aus Menschen besteht. Ich entschuldige mich dafür, ich wollte dir dein altes Leben nicht nehmen, ich wusste nicht, dass du so sehr daran hängst. Vielleicht kann ich es ja irgendwann einmal wieder gut machen, aber jetzt kann ich nur sagen: Es tut mir leid.“
Richard war wie erstarrt. Innerlich focht er gerade einen harten Kampf mit sich selbst aus. Einerseits wollte er den Grauen töten, andererseits wusste er auch, dass der Alte sein Wort halten würde, das sagte ihm sein Instinkt. Um mehr Zeit zu gewinnen, fragte er darum einfach nur: „Warum?“ Eine Frage, die Richard schon von Anfang an beschäftigte.
„Das ist schwer zu erklären und würde jetzt auch zu lange dauern, es zu versuchen. Du bist schwer verletzt und brauchst dringend Hilfe, vielleicht sollten wir das verschieben...“
Der Schwarze haderte immer noch mit sich selbst. Er wusste, dass der Alte recht hatte, aber konnte er ihn denn einfach so gehen lassen? Doch die Antwort auf diese Frage ergab sich von selbst, denn die letzten Tage und der Kampf forderten ihren Preis und Richard war schlichtweg zu schwach, um den Grauen noch länger in Schach zu halten. Der befreite sich vorsichtig aus dem Griff des Anderen und machte sich so schnell wie möglich auf den Weg zu seinem Sohn, nicht ohne einen besorgten Blick zurück allerdings. Er hoffte, dass der Weiße nicht zu spät kam, wenn er „seinen“ Welpen fand.
Besagter Werwolf hatte das Gespräch mitbekommen, ohne so richtig zu wissen, was er davon halten sollte. Das war ihm momentan aber auch herzlich egal, denn er wusste, dass der Schwarze nicht allzu lange ohne seine Nähe überleben würde.
Hilfe
Richard schaute seinem ehemaligen Gegner hinterher. Er konnte nicht fassen, dass er ihn tatsächlich hatte gehen lassen. Er war so kurz davor gewesen. Gleichzeitig kamen ihm Zweifel, ob es nicht doch besser gewesen wäre, sich den Hybriden anzuschließen. Schließlich hatte er ohne Zögern und ohne Skrupel den Werwolf getötet. Und es hätte ihm nichts ausgemacht, den alten Hybriden auch noch zu töten. Und den kleinen Braunen auch. War es da überhaupt für seine menschlichen Freunde noch sicher, wenn er bei ihnen blieb? Aber was hatte der Graue gleich noch gesagt? Sie waren seine...Familie? Und seine Verbindung zu Paul war schon vorher so intensiv gewesen und die zu den anderen auch? Schwer nachvollziehbar, aber irgendwie glaubte Richard diesen Worten, wenn auch wahrscheinlich nur, weil sie so tröstlich waren.
Der Schwarze war müde, doch er hielt sich immer noch mühsam auf den Beinen. Er spielte mit dem Gedanken, sich zurückzuverwandeln, wusste aber auch, dass Paul ihn dann schwerer finden würde. Seinem Weißen entgegengehen, kam überhaupt nicht in Frage. Richard nahm an, dass er kaum einen Schritt machen konnte, ohne das Bewusstsein zu verlieren. Doch schließlich forderten die Anstrengungen der letzten Tage und die des Kampfes endgültig ihren Tribut. Ohne, dass er es wollte, verwandelte sich der Schwarze zurück und kaum war dies geschehen, brach er auch schon leblos zusammen, wieder einmal.
Paul stockte. Er konnte den Hybriden kaum noch wahrnehmen. Kein Zweifel, er hatte sich zurückverwandelt. Der Weiße schlug ein noch schärferes Tempo an. So schnell es seine momentane Verfassung erlaubte, denn auch der Werwolf hatte überall Verletzungen, dazu kam der Wasser- und Nahrungsmangel, lief er in die Richtung, in der er seinen Welpen vermutete.
Und dann sah er ihn. Sah den Schwarzhaarigen zusammengekrümmt ihm Sand liegen, der sich auf Höhe der tiefen Brustverletzung schon rot verfärbt hatte.
„Oh scheiße!“, entfuhr es Paul und er sprintete die letzten paar Meter zu seinem Freund und kam schlitternd neben ihm zum Stehen.
„Oh bitte Richard, mach mich nicht unglücklich! Werd wach, komm schon, bitte!“, knurrte der Weiße eindringlich und stupste den Hybriden immer wieder sachte an.
„Hatte ich dir nicht gesagt, dass du nicht zurückkommen sollst?“, flüsterte der auf einmal mit brüchiger Stimme zurück. Dann schlug er die Augen auf und sah tief in die von Paul.
„Naja“, meinte der dann daraufhin lächelnd, „einer muss doch schließlich auf dich aufpassen, oder?“
„Ja...ja, das ist ein Argument...“, war die Antwort und auch Richard brachte ein schmerzverzerrtes Lächeln zustande.
Das erinnerte Paul wieder an die eigentlich ernste Situation und er macht sich vorsichtig daran, sich den Welpen auf seinen Rücken zu hieven.
„Paul?“, fragte der und machte keine Anstalten, auch nur ein bisschen zu helfen. „Was machst du da?“
„Na was wohl? Ich bring dich hier raus...“
„Glaubst du wirklich, dass das eine so gute Idee ist?“
Der Werwolf hielt überrascht in seinen Bemühungen inne.
„Natürlich glaube ich das. Warum denn nicht?“
„Naja, weißt du...ich hab getötet...einfach so...und ich hatte keine Skrupel deswegen...und ich hätte wieder getötet...einfach so...grundlos...ich bin gefährlich...“
„Richard, jetzt hör auf, so einen Quatsch zu erzählen...“
„Das ist kein Quatsch!“
„Natürlich ist es das und das weißt du auch. Hör mal, du hast weder skrupellos, noch grundlos getötet, oder warst im Begriff es zu tun. Du bist genauso wenig gefährlich, wie ich es bin. Du hattest dich doch die ganze Zeit unter Kontrolle, oder?“
„Ja schon, aber es hat mir nichts ausgemacht...bei dir war das anders...“
„Nein war es nicht, denn im Gegensatz zu dir hab ich schon einmal in eurer Gegenwart die Kontrolle verloren, du erinnerst dich?“ Richard nickte.
„Aber“, setzte er dann an, „bei mir, ich weiß auch nicht, ich hab nicht drüber nachgedacht, was ich tue, ich wusste nur noch, was ich wollte...“ Paul unterbrach ihn wieder.
„Nun ja, weißt du, es liegt einfach nicht in deiner Natur als Hybride, dass du dir darüber Gedanken machst, mit welchen Mitteln du ans Ziel kommst. Deine Art ist noch sehr jung und im Begriff zu wachsen und deswegen bist du auch in gewisser Hinsicht...hmm...brutaler als andere, aber das ist ganz normal, das ist dein Überlebensinstinkt, der eben noch sehr stark ausgeprägt ist...“
„Aber dann ist das doch erst recht gefährlich...“
„Nein ist es nicht. Du machst dir doch schließlich hinterher Gedanken darüber, oder?“
Wieder ein Nicken.
„Na siehst du, das ist doch schon mal ein Anfang. Glaub mir, das gibt sich mit der Zeit. Und deine Freunde und überhaupt alle, die dir in irgendeiner Art und Weise nahe stehen, würdest du ohnehin nicht angreifen, auch das liegt in der Natur eines Hybriden. Auch das ist Überlebensinstinkt. So und jetzt ist Schluss damit, sehen wir zu, dass wir hier rauskommen, ich will schließlich nicht mein halbes Leben hier verbringen...“
„Ok...“, meinte der Schwarzhaarige zwar noch nicht ganz überzeugt, aber er hatte auch keine Lust mehr, weiterzudiskutieren. Dazu war er eindeutig zu müde. Irgendwie schaffte er es dann auch auf den Rücken des Weißen und brachte sich in eine einigermaßen bequeme Position, bei der er seine Verletzung nicht zu sehr belastete.
„Fertig?“, fragte ihn sein Werwolf. Ein Nicken war die Antwort.
„Ok, dann halt dich gut fest...“ Und mit diesen Worten lief der Weiße los, nahm rasch Höchstgeschwindigkeit auf und sprintete dem Ende der Wüste entgegen.
Richard hatte am Anfang ziemliche Mühe, sich bei dem Tempo festzuhalten, aber schließlich schaffte er es doch. Nach einigen Kilometern verlor er völlig das Zeitgefühl. Er fragte sich, wie Paul es wohl schaffte, noch so schnell zu laufen, denn gleichzeitig spürte er, wie der Weiße immer schwächer wurde. Richard ging es nicht anders. Die Verletzungen machten ihm zu schaffen und er hatte Mühe, bei Bewusstsein zu bleiben.
Irgendwann, es war schon längst dunkel, horchte er auf. Durch das Rauschen des Windes meinte er, etwas gehört zu haben. Oder hatte er sich doch getäuscht? Nein, da war es wieder. Was war das? Es klang wie das entfernte Summen einer Maschine. Und es kam auf sie zu. Wieder dieses Geräusch. Der Hybride überlegte, dann kam ihm schlagartig die Erkenntnis: So klangen Hubschrauber! Leise knurrte er Paul an: „Hast du das auch gehört?“
„Nein!“, kam es ziemlich müde und gereizt zurück. Dann fragte der Weiße sanfter: „Was meinst du?“
„Na dieses Geräusch...“
„Welches Geräusch?“
„Na das, was auf uns zukommt. Es hört sich wie ein Hubschrauber an...“
Der Werwolf horchte auf. Tatsächlich. Da kam etwas auf sie zu. Und nach dem Geräusch zu urteilen, war es tatsächlich ein Hubschrauber. Paul war etwas verwundert. Wie hatte das sein Welpe so schnell herausbekommen? Er war dazu doch eigentlich noch gar nicht in der Lage. Aber war das jetzt nicht auch erst mal egal? Wieder hörte er Richards leises müdes Knurren: „Du, wir sollten vielleicht anhalten und du solltest dich zurückverwandeln. Wer weiß, wie die Leute reagieren....“ Richard hatte Recht. Es könnte gefährlich für sie beide werden, wenn zu viele Menschen herausfinden sollten, was sie waren.
Der Weiße nickte unmerklich, dann wurde er langsamer. Schließlich blieb er stehen und versuchte, den Hybriden so vorsichtig wie möglich in den Sand zu legen. Er stupste ihn sacht mit der Schnauze an. „Bleib ja wach, hörst du?“ Ein schwaches Nicken. Paul schloss kurz die Augen, dann verwandelte er sich zurück. Als er seine menschliche Gestalt wiederhatte, kniete er sich zu seinem Freund und half ihm vorsichtig auf die Beine. Richard verbiss sich einen Aufschrei, als die schwere Verletzung belastet wurde. Paul sah ihn besorgt an.
„Alles klar? Wir können auch hier bleiben, wenn du es nicht schaffst. Sie finden uns schon...“
„Nein...“, murmelte der Schwarzhaarige vor sich hin, „wir sollten ihnen lieber...entgegengehen...“
„Ok, wie du meinst...“
Langsam setzten sie sich in Bewegung. Das Geräusch war näher gekommen, trotzdem immer noch weit entfernt.
„Duhuu Paul?“, kam es wieder von Richard.
„Ja?“, fragte der Angesprochene leise zurück.
„Du musst mir das noch...beibringen mit dem Verwandeln und so...ich glaub...das war nur Zufall, dass ich das...hingekriegt hab...“
„Natürlich bring ich dir das bei.“, meinte der Weiße lächelnd, „Ich bring dir alles bei, was du wissen musst und was ich dir beibringen kann, da musst du dir keine Sorgen machen...“
Innerlich hoffte er, dass Richard auch überleben würde, bis jetzt sah es nämlich noch nicht danach aus. Gerade nuschelte der Hybride noch ein „Dasisschön...“ vor sich hin, als Paul in der Ferne Scheinwerfer ausmachen konnte.
„Sie mal!“, meinte er zu dem Schwarzhaarigen, „Da kommen sie schon!“
„Hmm...“, erhielt er als Antwort. Richard bekam die Welt um ihn herum nur noch wie in Trance mit. Er wollte nicht bewusstlos werden, er spürte, dass er dann wohl nicht mehr aufwachen würde. Jetzt blendete ihn ein scharfer Lichtstrahl und er hob mühsam den Kopf. Das donnernde Geräusch der Rotoren hörte er nur sehr entfernt. Er spürte, wie Paul ihn hinlegte und sich dann selbst nur mühsam auf den Beinen hielt, als der Hubschrauber aufsetzte. Eine Tür ging auf und heraus kamen – zwei besorgte Menschen.
Flake und Olli liefen auf die beiden zu. Der Werwolf war noch nie so glücklich gewesen, sie zu sehen und ihnen schien es ebenfalls so zu gehen.
„Da seid ihr ja!“, kam es von Olli. „Wir suchen euch schon seit Stunden! Sie wollten gerade wieder umkehren, weil es zu dunkel wurde, da haben wir euch entdeckt. Und wir dachten schon...“
„Nein keine Sorge...“, unterbrach der Weiße lächelnd den aufgekratzten Bassisten. „So schnell werdet ihr uns nun auch nicht wieder los...“
„Das will ich ja auch schwer hoffen!“, kam es da von Flake, im gleichen Moment schrak er allerdings leicht zurück. „Paul...Entschuldigung, dass ich das so sage, aber...du siehst richtig schlecht aus...“, meinte er schockiert.
„Danke für die Blumen, ich kann’s mir denken...“, kam es schwach lächelnd zurück. Der Werwolf sah tatsächlich mehr als nur schlecht aus. Die Narben an Hals und Nacken waren zwar, jetzt, da die Gefahr vorüber war, verschwunden, trotzdem hatte er überall zahlreiche größere und kleinere Schnittwunden und machte auch allgemein einen erschöpften Eindruck. Er fühlte sich auch ziemlich wackelig auf den Beinen, trotzdem machte er sich im Moment mehr Sorgen um seinen Welpen, da es ihn noch um Einiges heftiger erwischt hatte. Das bekamen ihre beiden Freunde nun auch mit und die Reaktionen waren noch schockierter.
„Richard? Hey, kannst du mich hören?“ Olli hatte sich der Sache sofort angenommen. Der Angesprochene nickte schwach. Seiner Stimme traute er nicht wirklich, er hatte ja selbst nicht geglaubt, sie tatsächlich noch einmal zu sehen. Als er sich von ihnen vor ein paar Stunden verabschiedet hatte, hatte er eigentlich mit seinem Leben abgeschlossen. Jetzt überwältigten ihn seine Gefühle.
„Was haben sie nur mit dir angestellt?“ Flake sah ziemlich bleich aus.
Richard und Paul kamen nicht dazu, zu antworten, denn in dem Moment kamen zwei Sanitäter mit einer Trage aus dem Hubschrauber und kümmerten sich um den Schwarzhaarigen. Der ließ sämtliche Erste-Hilfe-Maßnahmen teilnahmslos über sich ergehen und wurde wenig später in den Hubschrauber verfrachtet. Olli und Flake halfen beim Tragen und Paul trottete schwerfällig hinterher. Weit kam er jedoch nicht, dann musste er wieder stehen bleiben und sich ausruhen.
‚Verdammt, ich hätte nie gedacht, dass so ein paar Meter so lang sein können...’ Er spielte mit dem Gedanken, sich einfach hinzusetzen, da seine Beine nicht mehr so wollten, wie er es gerne gehabt hätte. In dem Moment kam Olli auf ihn zu und legte sich Pauls Arm um die Schulter.
„Sorry, aber...“, wollte er schon zu einer Entschuldigung ansetzen. Er hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie den Weißen erst mal ignoriert hatten, obwohl es ihm nicht sonderlich besser, als dem Hybriden ging. Paul unterbrach ihn: „Mach dir nichts draus. Ich weiß, dass Richard erst einmal wichtiger war. Mir geht’s ganz gut, bin nur müde...“
„Oh nein, du kannst mir nicht erzählen, dass es dir ‚ganz gut’ geht. Dir geht es nicht mal ‚gut’! Du brauchst genauso Hilfe, wie Richard sie braucht!“, meinte Olli ziemlich aufgebracht, als er seinen Freund zum Hubschrauber führte. Der Werwolf sagte nichts dazu, sondern lächelte nur. Die Menschen waren tatsächlich besorgt um sie. Er konnte es immer noch nicht recht glauben, dass sie einen Werwolf und einen Hybriden so anstandslos als ihre Freunde akzeptierten und dass sie sich auch noch Sorgen um sie machten. Aber es war so und Paul war froh darüber.
‚Ich hätte mich ihnen eher anvertrauen sollen...’, dachte er sich, als Olli ihm half, einzusteigen, ‚Aber woher hätte ich das wissen sollen? Naja gut, geahnt hab ich es ja schon immer, aber gewusst? Nein, bestimmt nicht...’ Er ließ sich müde auf einen Sitz gleiten und bekam nur halbwegs die Erstuntersuchung an sich mit. Ob er Schmerzen habe? Ja, logisch. Wie er sich fühle? Müde und schwach, aber sonst ‚ganz gut’.
Immer wieder glitt sein besorgter Blick zu seinem Welpen, der mittlerweile schlief und erst mal versorgt zu sein schien. Aber Paul wusste, dass das trügerisch sein konnte. Er horchte in den Körper des Schwarzhaarigen hinein. Bis jetzt sah es nicht schlecht aus, nun ja, solange der Weiße in seiner Nähe blieb, würde es schon wieder werden. Das hoffte er zumindest. Dann fiel ihm noch etwas ein: „Wo sind eigentlich Till und Schneider?“
„Im Krankenhaus.“, kam es von Flake. „Sie haben Christoph gleich dabehalten, er hat ziemlich viel Blut verloren, aber er kommt durch. Till ist bei ihm geblieben, sie haben auch gleich seinen Kopf versorgt, und wir sind mit los, um euch zu suchen...“
„Ja, das sehe ich...“, meinte Paul und musste grinsen. Er kam nicht mehr wirklich dazu, ein schlechtes Gewissen zu haben, weil er den Menschen angegriffen hatte. Dazu war einfach zu viel passiert. Die anderen beiden erwiderten das Grinsen.
„Und wie lange dauert es jetzt, bis wir da sind?“
„Ungefähr eine Stunde...“, meinte Olli. Der Weiße nickte nur, dann schloss er die Augen und schlief langsam ein.
Er erwachte erst wieder als der Hubschrauber landete. Verwirrt schaute er sich um, dann erst kam ihm die Erinnerung an das Geschehene. Sofort glitt sein besorgter Blick zu seinem Hybriden und er fühlte sich wieder in dessen Körper ein. Paul erschrak. Richards Zustand hatte sich merklich verschlechtert. Das Licht, die Wärme, die der Weiße sonst immer bei dem Schwarzhaarigen gefunden hatte, waren kurz vor dem Erlöschen. Er bemerkte nicht, dass es bei ihm nicht viel anders aussah. Er hatte sich besser unter Kontrolle, da fiel das nicht so auf.
Schon wollte der Werwolf aufspringen, aber da wurde „sein“ Welpe schon ins Krankenhaus gebracht und jetzt schwand ihre Verbindung fast völlig. Er fühlte sich auf einmal unglaublich allein und innerlich leer. Erst mit einiger Verzögerung drangen Ollis Worte an sein Ohr: „Paul? Du brauchst auch Hilfe. Komm schon, wir bringen dich raus...“
Der Weiße sah seinen menschlichen Freund mit trüben Augen an und nickte dann langsam. Olli und Flake brachten ihn aus dem Hubschrauber und übergaben ihn dann den Ärzten, die schon auf sie warteten. Paul ließ alles über sich ergehen. Eigentlich war er hundemüde, im wahrsten Sinne des Wortes, aber er machte sich viel zu viele Sorgen um Richard als dass er hätte schlafen können. Immer wieder suchte er den Kontakt zu dem Hybriden, doch der wurde immer undeutlicher. Er hatte plötzlich Angst. Viel mehr Angst noch, als sie noch vor ein paar Stunden gemeinsam gegen die beiden anderen Hybriden gekämpft hatten.
Mittlerweile war er auf ein eigenes Zimmer gebracht worden. Er hatte es nicht geschafft, sich nach Richards Zustand zu erkundigen, dazu hatte er einfach nicht die Kraft gehabt. Er wusste, er würde es mitbekommen, sollte der Hybride sterben und er wusste nicht, was schlimmer war: dass ihn die Sache unvorbereitet treffen sollte oder nicht...
Angst
Der Weiße war immer noch in Grübeleien versunken, als sich die Tür zu seinem Zimmer vorsichtig öffnete und Till, Olli und Flake hereinkamen. Paul nahm das nicht wirklich wahr. Er war in seiner eigenen Welt. Und er hatte immer noch Angst. Diese Angst konnte ihm keiner nehmen. Er bemerkte nicht, dass sich seine Freunde mittlerweile an sein Bett gesetzt hatten und ihn besorgt ansahen, er bemerkte nicht, dass sie für ihre Verhältnisse ebenfalls völlig am Ende waren, ja er bemerkte nicht einmal, dass er selbst nur knapp überlebt hatte.
Dann tröpfelten ihm ein paar Worte ins Ohr: „Paul? Hörst du überhaupt zu?“ Verwirrt sah er auf direkt in ein Paar ziemlich grüne Augen und erkannte, dass sie Till gehörten. Dann sah er die anderen beiden an und schüttelte langsam den Kopf.
„Was hast du gesagt?“, brachte er mühsam hervor.
„Ich hab dir gesagt, dass sie Richard gerade operieren und...“ Beim Klang des Namens „seines“ Welpen war der Weiße sofort hellwach. Er setzte sich ruckartig auf und verdrängte das aufkommende Schwindelgefühl.
„Richard! Wie geht es ihm?“, fragte er stattdessen. Seine drei Freunde, überrascht von der plötzlichen Aufmerksamkeit, starrten ihn erst einmal nur verständnislos an.
Dann setzte Till wieder an: „Das hab ich doch gerade erzählt...sie operieren ihn gerade und...naja, sie konnten uns noch nicht sagen...ob er...es schafft oder...nicht...“ Er wurde immer stockender.
„Noch lebt er...“, murmelte Paul vor sich hin, dann begann sein Blick schon wieder abwesend zu werden.
„Was meinst du damit? Paul? Hey! Was meinst du damit?“ Olli hatte Mühe, noch die Aufmerksamkeit des Weißen zu bekommen.
„Ich wüsste es, wenn er sterben würde, ich wüsste es einfach...Ihr nicht?“ Die drei Menschen sahen sich sehr lange an. Dann nickten sie langsam. Pauls Stimme ließ sie aufblicken.
„Ich müsste bei ihm sein, nicht hier. Was mache ich eigentlich hier? Er braucht doch meine Nähe und ich...brauche sie auch. Warum kann ich nicht bei ihm sein? Warum nur?“ Er begann zu zittern und schließlich zu weinen.
Die Menschen sahen sich ratlos an und wussten nicht, was sie von dem Ausbruch halten sollten. Vorsichtig berührte Till seinen Freund am Arm. Der reagierte nicht, sondern zitterte immer noch haltlos.
„Ist doch gut...“, versuchte Till nun zu beruhigen. „Du kannst im Moment sowieso nichts tun, wir können nur abwarten...“
„Nein...“, flüsterte der Weiße vor sich hin. „Er braucht mich doch. Er wird sterben, wenn ich nicht in seiner Nähe bin und wenn er stirbt...dann tu ich es auch...“ Er schluchzte heftiger. „Er soll aber nicht sterben...“
Die drei Menschen sahen sich hilflos an. Sie wussten, dass Paul Recht hatte. Richard war es jedes Mal besser gegangen, wenn der Weiße sich in seiner Nähe aufgehalten hatte. Doch wie sollte man den Ärzten erklären, dass es für die Gesundheit des Schwarzhaarigen dienlich wäre, einen riesenhaften weißen Wolf ins Zimmer zu lassen? Zumal es besagtem Wolf selber mehr als schlecht ging. Er brauchte dringendst Ruhe, aber die würde er sich nicht gönnen und auch nicht haben, bis er wusste, dass Richard außer Gefahr war. Und das wiederum geschah vermutlich nur, wenn der Weiße sich in seiner Nähe befand. Was sollten sie bloß tun? „Paul?“, sagte Olli vorsichtig. Der Angesprochene sah tatsächlich auf. Immer noch kamen Tränen aus seinen Augen. Er konnte sich nicht mehr beruhigen.
„Paul, du solltest schlafen, weißt du das? Wir bleiben auch wach. Wir wecken dich, wenn es etwas Neues gibt, ok? Du brauchst auch deine Ruhe und ich bin mir sicher, dass Richard nicht sonderlich glücklich darüber wäre, wenn er wüsste, dass du dir keine Erholung gönnst. Und helfen tut es ihm auch nicht...“
Der Werwolf sah den Menschen sehr, sehr lange an, dann nickte er langsam. Sein Freund hatte Recht. Es brachte keinem etwas, wenn er sich selbst so fertig machte und er spürte, wie die körperliche Erschöpfung immer mehr die Oberhand gewann. Lange würde er nicht mehr dagegen ankämpfen können.
„Ok...“, murmelte er deshalb und legte sich wieder hin. Dann fiel ihm aber noch etwas ein: „Ihr müsst nicht wach bleiben. Euch geht es doch auch schlecht, oder? Ihr solltet auch ausruhen und euch erholen, denke ich...“ Langsam nickten die drei Menschen.
„Können wir dich alleine lassen?“, fragte Till. Paul nickte.
„Könnt ihr. Ich bekomme sowieso mit, wie es Richard geht...“
Die Menschen warfen sich vielsagende Blicke zu, dann standen sie auf. Noch bevor sie das Zimmer verließen, war Paul auch schon eingeschlafen.
Es wurden ein paar sehr unruhige Stunden für ihn, denn selbst im Schlaf teilte er mit Richard diese besondere Verbindung, die immer entstand, wenn ein Werwolf oder ein Vampir jemanden biss. Obwohl der Weiße „seinen“ Welpen nur noch sehr undeutlich wahrnehmen konnte, bekam er die Operation mit. Oder zumindest das, was Richard davon mitbekam. Und er spürte, dass der Hybride ohne seine Anwesenheit nicht überleben würde.
Zitternd schlug er nach nur vier Stunden unruhigen Träumens die Augen auf. Der Raum war dunkel, doch dank seiner feinen Sinne fand er sich mühelos zurecht. Er brauchte das Licht nicht unbedingt. Zwar war es für ihn nicht ganz so anstrengend wie für einen Vampir oder eventuell für einen Hybriden, aber manchmal wünschte er sich doch, dass Menschen nachtaktiv wären.
Er musste lächeln, als er daran dachte, wie das erste Konzert für ihn gewesen war. So viele Eindrücke auf einmal. Und gerade die Lichtshow, die damals ja eigentlich nichts im Vergleich zu dem war, was sie heute abzogen, hatte sich als ziemlich kräftezehrend für ihn herausgestellt. Ständig musste er sich darauf konzentrieren, bestimmte Sinneseindrücke einfach nicht zuzulassen, um wenigstens annähernd auf das zu kommen, was Menschen wahrnahmen. Dadurch hatte er das, was er hörte allerdings stark vernachlässigt. Noch heute hatte er den Klang der E-Gitarren in seinem Kopf, die seiner Meinung nach völlig verstimmt gewesen waren. Mittlerweile kam er damit allerdings gut zurecht. Es war alles einfach nur eine Frage der Übung. Richard würde das auch lernen müssen. Und damit war Paul auch schon wieder bei seinem Hauptsorgenkind angelangt. Der Hybride würde vermutlich gar nicht mehr dazu kommen, diese und noch weitere Dinge zu lernen.
Der Weiße seufzte und schüttelte schwermütig den Kopf. Dann versuchte er, vorsichtig aufzustehen. Ihm war nicht nach im Bett bleiben. Sich richtig ausruhen konnte er im Moment sowieso vergessen. Er brauchte jetzt unbedingt Ablenkung in irgendeiner Art und Weise, sonst würde er noch verrückt werden vor Sorge und Angst.
Schwerfällig schob er die Beine aus dem Bett, dann versuchte er auf ihnen zu stehen, was auch funktionierte. Das Schwindelgefühl ignorierte er. Der Werwolf konnte sich ein selbstgefälliges Lächeln nicht verkneifen, als er feststellte, dass er trotz allem noch seinen Körper unter Kontrolle hatte. Er musste nur aufpassen, dass er seine Grenzen nicht überschritt. Richard brauchte ihn in halbwegs heilem Zustand.
Ohne das Licht anzuschalten machte er sich auf den Weg zur Tür und zog diese vorsichtig auf, nachdem er sich vergewissert hatte, dass erst mal kein Arzt oder Schwester draußen war, um ihn wieder ins Bett zu scheuchen. Dann spähte der Weiße hinaus und sog witternd die Luft ein. Auf dem Gang war niemand und auch sonst konnte er keine weiteren Personen ausmachen. Wo Schneider wohl war? Auf dieser oder auf einer anderen Station? Er witterte wieder und versuchte auch, seine anderen Sinne mit einzubeziehen, allerdings waren die in seiner menschlichen Gestalt getrübt. Außerdem trug seine momentane körperliche Verfassung nicht gerade dazu bei, diesen Umstand zu verbessern. Naja, musste es eben so gehen. Wenn er den Menschen jetzt nicht finden konnte, würde er eben zuerst seinen Welpen suchen. Das war um Einiges einfacher, auch, wenn er Richard nur undeutlich wahrnahm. Er spürte, wie schwach der junge Hybride mittlerweile schon war und diese Schwäche schien auch auf ihn überzugehen. Langsam setzte er sich in Bewegung. Seine Scheu vor Menschen hatte er immer noch nicht überwunden, die würde er vermutlich auch nie ganz ablegen, und in seinem angeschlagenen Zustand hielt er es für sicherer für beide Seiten, wenn er jetzt so wenig fremden Menschen wie möglich begegnete.
Die Verbindung wurde langsam deutlicher. Er kam seinem Welpen näher. Menschen konnte er nach wie vor nur entfernt wittern. Naja, um die Uhrzeit war vermutlich sowieso kaum etwas los. Paul schätzte, dass es so um vier Uhr früh sein musste. Plus minus eine viertel Stunde. Er war schon immer gut darin gewesen, Zeiten zu schätzen, das lag in seiner Natur. Gänge es nach ihm, würde es auch in seinem Haus keine Uhren geben, aber das konnte er den Menschen, mit denen er zusammenlebte, nicht zumuten.
Er bog um die Ecke und sah in ziemlicher Entfernung zwei große Flügeltüren. Er musste nicht wissen, was darauf stand. Dahinter lag der OP-Saal und dort irgendwo war auch „sein“ Welpe, der ganz dringend Hilfe benötigte. Hilfe, die ihm kein Mensch geben konnte.
Paul seufzte, dann beschloss er, sich auf einen der Stühle vor dem Raum zu setzen und zu warten. Langsam setzte er sich in Bewegung und dann hatte er auf einmal eine ganz bestimmte Witterung in der Nase. Aber das konnte doch eigentlich nicht sein! Er sah auf und seine Augen bestätigten seinen Verdacht. Vor dem OP-Saal saß schon jemand, ein Mensch, den er jetzt überhaupt nicht erwartet hatte.
Schneider hob den Kopf, als er hörte, dass sich Schritte näherten. Er wusste, dass er eigentlich im Bett hätte bleiben müssen, aber er konnte einfach nicht schlafen bei dem Gedanken daran, dass Richard die Nacht vermutlich nicht überleben würde. Ursprünglich hatte er ja den Weißen suchen wollen, aber letztendlich hatte er es nur bis zum OP-Saal geschafft. Ein kleines Gestell mit zwei Infusionen daran stand neben ihm, er war ganz froh darüber gewesen, dass er die Dinger überall mit hinnehmen konnte, so musste er wenigstens nicht im Bett liegen bleiben. Er war sich allerdings darüber im Klaren, dass er ziemlichen Ärger von den Ärzten bekommen würde, sollte das hier jetzt herauskommen. Aber das war ihm erst einmal egal.
„Solltest du nicht eigentlich im Bett liegen und dich erholen?“, sprach ihn der Weiße an.
Schneider musterte seinen Freund von oben bis unten und seine Blicke blieben an den zahlreichen kleineren und größeren Verletzungen haften, die teilweise mit Pflastern, teilweise mit Verbänden versorgt worden waren. „Solltest du das nicht eigentlich auch tun?“, meinte er dann mit einem Grinsen im Gesicht. Paul erwiderte es und setzte sich neben ihn.
„Ich konnte nicht schlafen...“, sagte er dann.
„Gut, ich nämlich auch nicht...“, kam es von dem Drummer, was den Kleineren erneut lächeln ließ.
„Dann sind wir ja schon mal zwei...“, meinte er noch, dann schloss er die Augen, lehnte den Kopf gegen die Wand und fühlte sich erneut in den schwarzen Hybriden ein. Es stand überhaupt nicht gut um ihn. Er wusste, er würde handeln müssen, wenn Richard die Sache überleben sollte, aber was konnte er jetzt tun? Einfach in den OP-Saal rennen? Das ging doch nicht! Er würde sofort sehr unsanft hinauskomplimentiert werden und darauf konnte er verzichten.
Frustriert und verzweifelt schlug er die Augen wieder auf und die ersten Tränen zierten schon wieder sein Gesicht. Er spürte eine sanfte Berührung und sah auf direkt in die besorgten Augen seines menschlichen Freundes neben ihm.
„Es geht um Richard, oder?“
Paul konnte nichts anderes tun, als zu nicken. Ein Arm legte sich um seine Schultern und er lehnte sich dankbar gegen den Menschen.
„Er wird sterben, wenn das so weitergeht...“, erklärte der Werwolf leise.
Jetzt konnte Schneider nur nicken. Er hatte so etwas schon vermutet.
„Und ich nehme mal an, dass du das verhindern könntest?“, fragte er dann vorsichtig. Wieder nickte Paul, dann sprach er weiter: „Aber dazu muss ich in seiner Nähe sein...mindestens, damit er überhaupt...überlebt...“ Er weinte heftiger und spürte gleichzeitig, wie die Umarmung fester wurde.
„Ich komme mir so hilflos vor...er darf nicht sterben! Nicht nachdem, was passiert ist!“
„Ich weiß, Paul...ich weiß...“
Eine Zeit lang lagen sie sich regungslos in den Armen und der Weiße ließ seinen Tränen freien Lauf. Er sah keinen Ausweg aus der Situation. Wenn Richard wenigstens die OP überleben würde. Aber selbst dafür standen die Chancen mehr als nur schlecht. Er spürte, dass es für den Hybriden jederzeit zu Ende sein konnte und er spürte auch, dass das dann sein eigenes Ende wäre. Das war doch einfach nicht gerecht!
Nach einiger Zeit löste Paul sich aus der Umarmung. Er hatte ganz vergessen, dass er seinen Freund schwer an den Schultern verletzt hatte und er konnte sich denken, dass das höllisch schmerzen musste. Schneider schien seine Gedanken zu erraten.
„Mach dir mal keine Sorgen um mich, ich bekomm gute Schmerzmittel.“, meinte er deshalb lächelnd, dann wurde er ernst: „Viel wichtiger ist jetzt, dass wir einen Weg finden, dich und Richard zusammenzubringen. Ich nehme ja mal an, dass ihr dafür im selben Raum sein müsst, oder?“
Der Werwolf nickte. „Das ist richtig. Und dann müsste ich mich auch verwandeln, zumindest, wenn er wieder vollständig gesund werden soll, und wie willst du den Ärzten klar machen, dass Richard nur wieder gesund wird, wenn ein fast anderthalb Meter großer Wolf sich in seiner Nähe befindet?“ Er wirkte ganz hilflos, genauso wie der Mensch neben ihm.
„Hmm, und wenn wir es ihnen einfach sagen?“ Schneider schlug die, seiner Meinung nach, unkomplizierteste Lösung vor.
„Nein!“ Der Weiße war aufgesprungen. Der Mensch sah ihn überrascht an und suchte seine Augen. Er meinte eine Mischung aus Angst, Enttäuschung und Wut darin erkennen zu können, war sich aber nicht sicher. Er wusste allerdings noch, dass der Weiße ihn genauso angesehen hatte, als er ihn angriff. Eine gewisse Furcht machte sich in ihm breit. Warum war der Werwolf nur so dermaßen schlecht auf dieses Thema zu sprechen? Gut, die Folgen waren nicht ganz abzusehen, wenn sie mit der Wahrheit herausrückten, aber es war doch ihre einzige Chance, oder? Warum wehrte sich der Weiße dann so vehement dagegen?
Besagter Werwolf wandte den Blick ab und setzte sich wieder hin. Es war nun doch ganz schön anstrengend für ihn, sich auf den Beinen zu halten. Wieder spürte er, dass sich ein Arm vorsichtig um seine Schultern legte und er war dankbar dafür. Dankbar für den Halt, den ihm diese Menschen gaben, den er jahrelang vermisst hatte. Sie hatten ihn nicht ausgestoßen. Sie hatten ihn weiterhin akzeptiert, so, wie er war. Sie hatten keine Angst vor ihm, obwohl er ihnen allen Grund dazu gegeben hatte. Und selbst wenn sie Angst hatten, diese hielt sie nicht davon ab, für ihn dazusein. Denn er spürte ganz deutlich, dass sich sein menschlicher Freund an seinen unkontrollierten Wutausbruch erinnerte und nun nicht so recht wusste, wie er mit dem Werwolf umgehen sollte.
„Tut mir leid...“, murmelte er deshalb, „ich hätte dich nicht so anfahren sollen...“ Er spürte ein beruhigendes Streicheln.
„Ist schon ok.“, kam es von dem Drummer. Dann konnte er sich allerdings nicht zurückhalten, er musste einfach die nächste Frage stellen: „Aber warum reagierst du immer so...so...“ Er wusste nicht, wie er es am besten ausdrücken sollte.
„Angriffslustig?“, fragte ihn der Weiße. Schneider nickte. So ganz wohl fühlte er sich nicht in seiner Haut. Er ahnte, dass ihm sein jahrelanger Freund jetzt gleich etwas erzählen würde, das er lieber nicht wissen wollte. Und richtig, er hörte neben sich ein leises Flüstern: „Weil...weil...sie haben mir wehgetan...“ Er verstärkte seinen Griff um den Weißen, als ob er ihn nie wieder loslassen wollte und der Werwolf drängte sich näher an ihn.
„Wer? Wer hat dir wehgetan?“ Auch diese Frage konnte er sich nicht verkneifen, er musste es einfach wissen, obwohl sich alles in ihm dagegen sträubte.
„Die Menschen...“ Es war kaum zu verstehen und Schneider musste sich ein Zurückzucken mühsam verkneifen.
„Was ist passiert?“, fragte er dann vorsichtig. Paul hob den Kopf und sah ihn einfach nur an. Man konnte erkennen, dass er mit sich rang. Sollte er sich dem Menschen wirklich anvertrauen? Wie oft hatte er das schon getan und war immer wieder enttäuscht worden. Er wollte nicht mehr enttäuscht werden. Nie mehr.
Schließlich entschied er sich doch für einen letzten Versuch. Er senkte den Kopf, er brachte es einfach nicht über sich, seinem Freund dabei in die Augen zu schauen, und begann zu erzählen. Und das, was Paul seinem Freund in den nächsten Minuten da erzählte, ließ diesen in Tränen ausbrechen und haltlos schluchzen.
Pauls Geschichte
„Ich...ich hab euch doch erzählt, wie ich von dem Werwolf gebissen wurde...“, setzte der Weiße stockend an. „Nun ja, am Anfang wusste noch keiner, dass das ein Werwolf war. Das kam erst später raus. Das Ganze hatte meine Eltern natürlich schwer mitgenommen, zumal nicht sicher war, ob ich überhaupt überleben würde. Die Verletzungen waren...waren sehr schlimm. Als ich dann im Krankenhaus aufgewacht bin, hab ich mich gewundert, warum alle so abweisend zu mir waren. Fast als...hätten sie Angst vor mir. Nun, das hatten sie auch, nur hab ich das damals noch nicht so wirklich verstanden. Jede Bewegung von mir wurde misstrauisch beäugt und keiner wollte, dass ich ihnen zu nahe kam. Ich bekam auch kaum Schmerzmittel, vermutlich, weil sie dachten, dass mich das behindern würde. Nun, damit hatten sie recht...
Als ich schließlich soweit war, dass ich mich wieder einigermaßen bewegen konnte und auch aufstehen und laufen konnte, bekamen sie noch mehr Angst vor mir. Eines Morgens bin ich aufgewacht und musste feststellen, dass sie mich ans Bett gekettet hatten.
Sie...sie haben mich behandelt wie ein wildes Tier, dass sie jederzeit angreifen könnte. Und als ich mich gewehrt hab, da...da haben sie zugeschlagen...immer und immer wieder, bis...bis ich irgendwann bewusstlos war...
Danach haben sie mich noch schlechter behandelt als vorher. Ich hab kaum etwas Richtiges zu essen bekommen oder so...ich glaub im Stillen haben sie gehofft, dass ich einfach sterben würde...
Das alles änderte sich erst, als sie bemerkten, dass meine Verletzungen ganz normal abheilten. Das hat sie stutzig gemacht. Schließlich sind sie drauf gekommen, dass ich vielleicht ein Weißer sein könnte. Danach haben sie mich etwas besser behandelt, aber nicht viel. Ich konnte mich jetzt immerhin frei im Raum bewegen und nun lag ihnen auch nicht mehr so viel daran, mich verhungern zu lassen oder was auch immer ihnen noch eingefallen wäre.
Als ich schließlich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, haben meine Eltern kein Wort mehr mit mir geredet, wenn es nicht unbedingt nötig war. Und wenn sie es taten, dann taten sie es in einer Art und Weise, als würden sie mit einem begriffsstutzigen Kind reden, so, als könnte ich ihre Sprache nicht mehr verstehen. Ich weiß nicht, was die Ärzte und die ganzen anderen Leute da ihnen erzählt hatten, jedenfalls hatte es gereicht, um ihnen glauben zu machen, dass ich kein Mensch mehr war, was ja auch stimmte, und dass ich demzufolge auch kein Recht mehr auf eine menschliche Behandlung hatte.
Sie...sie haben mich nicht mehr unter Leute gelassen...ach nein, das ist untertrieben...in Wahrheit hatten sie mich im Keller eingesperrt, damit ich ihnen ja nicht weglaufe. Am Anfang hab ich mich noch gewehrt, aber sie haben einfach nur...zugeschlagen. Sie wussten sich nicht anders zu helfen. Ich hatte zu dem Zeitpunkt keine Ahnung, was mit mir los war, niemand hatte mir erklärt, was denn nun eigentlich passiert war und was das für Auswirkungen auf mich hatte. Und immer, wenn ich sie fragen wollte, hab ich als Antwort nur Tritte und Schläge bekommen.
So ging das fast zwei Wochen lang, bis zum ersten Vollmond nach meiner Verwandlung. Ich weiß heute noch, wie sie mich rausgeführt und in einen Käfig gesteckt haben. Meine Eltern wollten das eigentlich nicht, aber die ganzen anderen Leute, diejenigen, die dafür sorgen mussten, dass die Werwolfsattacken nicht überhand nahmen, wollten das so, damit sie...kurzen Prozess mit mir machen konnten, falls es nötig werden sollte...
Nun ja, als ich den Vollmond gesehen habe...hmm, ich kann mich nicht mehr an die Verwandlung erinnern. Ich hab nur gespürt, wie sich etwas in mir veränderte. Als die Verwandlung abgeschlossen war, hab ich am Boden gelegen und war hundemüde, das weiß ich noch. Und ich weiß noch, wie sie mich alle angestarrt haben. Ich konnte nur Fetzen von dem verstehen, was sie sagten, Worte, wie ‚weißes Fell’ oder ‚viel zu groß’ und ich hab nicht gewusst, was sie damit meinten. Danach hab ich nur noch einen kleinen Stich gespürt und dann gar nichts mehr. Sie hatten einen Betäubungspfeil auf mich abgeschossen. Zu meinem Glück war ich ein Weißer, sie hatten nämlich auch noch einen Giftpfeil dabei, das wäre dann für einen Werwolf gewesen, der...der sich ‚nicht zu benehmen gewusst hätte’...
Als ich wieder aufgewacht bin, war es schon wieder Tag und ich lag zu meiner Überraschung in meinem Bett und meine Eltern saßen davor. Ich...ich wird diesen Ausdruck in ihren Augen nie vergessen.
Dann, nach einem Monat hat mir endlich mal einer erklärt, was mit mir los war. Ihnen selbst hatten die ‚Werwolfsbeauftragten’ in der Nacht zuvor alles erklärt. Ich konnte es zunächst nicht glauben, aber bestimmte Dinge, die sie mir erzählten, passten dann doch ins Bild. Zum Beispiel hatte ich mich die ganze Zeit über gefragt, warum ich viel besser hörte, als vorher und woher immer diese Gerüche kamen. Nun wusste ich es.
Sie verboten mir, mich jemals wieder zu verwandeln, was ich auch gar nicht im Sinn hatte. Die darauffolgenden Jahre tat ich es dann aber doch noch ein paar Mal. Und jedes Mal tat ich es, weil ich dachte, ich könnte den Menschen vertrauen, denen ich zeigte, was ich wirklich war. Aber ich wurde immer wieder enttäuscht.
Da war ein Mensch, der war Jäger und hatte zu meinem Unglück sein Gewehr mit dabei. Ich hab nur knapp überlebt. Mein Eltern haben mich in der Zeit, in der ich im Krankenhaus war nicht einmal besucht...
Ein anderes Mal sind die Leute einfach weggerannt, ich weiß aber noch, dass einer sich umgedreht hat und mich mit Steinen beworfen hat, weil ich ihnen folgen wollte.
Irgendwann hab ich es aufgegeben, ich hab mir geschworen, mich nie wieder zu verwandeln. Ich wollte einfach nur ein ganz normaler Mensch sein und als so einer akzeptiert werden. Mir hat gereicht, dass meine Familie Angst vor mir hatte, das musste ich von anderen Seiten nicht auch noch haben. Und, naja, bis vor zwei Tagen hab ich mich auch nie wieder verwandelt...“ Paul stockte. Er wusste nicht, ob es nun gut oder schlecht war, dass er das alles erzählt hatte. Momentan fühlte er nichts, er war völlig ausgepumpt und hätte jetzt am liebsten nur noch geschlafen.
Er spürte, wie der Mensch, der ihn immer noch in einer festen Umarmung hielt zuckte und zitterte und plötzlich spürte er auch, dass dieser Mensch ihn nicht alleine umarmte. Verwirrt sah er auf. Um ihn herum waren doch tatsächlich seine vier menschlichen Freunde, die ihn betroffen und allesamt verweint ansahen. Er hatte gar nicht bemerkt, wie sie gekommen waren und jetzt, da er es mitbekam, breitete sich ein unglaublich warmes Gefühl der Zuneigung zu ihnen in ihm aus. Er war noch nie so glücklich gewesen wie in diesem Moment. Sie liefen nicht weg und ließen ihn allein. Sie hatten keine Angst vor ihm. Sie blieben bei ihm und trösteten ihn, gaben ihm Halt, etwas, an das er nicht mehr zu hoffen gewagt hatte.
„Paul es...ich weiß nicht, was ich sagen soll...das ist...einfach nur...schrecklich...“
Er hörte Tills Stimme nur aus weiter Ferne. Seine Sorgen um den schwarzen Hybriden waren zurückgekehrt. Richard ging es immer schlechter. Er musste etwas tun! Sofort!
Er wollte schon aufspringen, doch die sanften Stimmen und Berührungen erinnerten ihn daran, dass er die Menschen nicht außen vor lassen konnte. Darum wandte er jetzt seine Aufmerksamkeit wieder ihnen zu. Er hörte Schneiders Stimme: „Es...tut mir leid, dass...ich dich gedrängt habe, das alles zu erzählen...vermutlich wolltest du das gar nicht...erzählen...“
Vorsichtig löste sich Paul aus der Umarmung, dann sah er sich alle an. „Da hast du recht“, meinte er dann, „ich wollte das tatsächlich alles nicht erzählen, weil ich nicht mehr enttäuscht werden wollte, aber...jetzt bin ich froh, dass ich es getan habe. Du musst dir keine Gedanken machen, es ist in Ordnung, wirklich!“
Er lächelte dabei, es war ein echtes, befreites Lächeln und die Erleichterung war ihm deutlich anzusehen. Seine Freunde sahen ihn ebenfalls an und dann lächelten auch sie. Paul schloss die Augen. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als dass auch Richard mit dabei sein könnte, aber der war im Augenblick so weit von ihm entfernt. Wie zur Bestätigung hörte er Ollis Stimme: „Also...so hart das jetzt klingt, aber es bringt uns nicht weiter, wenn wir Richard helfen wollen...tut mir Leid Paul...“
Der Weiße schlug die Augen auf und nickte dann. Er wusste ja, wie es der Mensch meinte. Er wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, da durchzuckte ihn ein scharfer Schmerz und er musste sich am Stuhl festhalten, um nicht von diesem zu fallen, so schwach fühlte er sich auf einmal.
„Paul? Hey, was ist los? Alles in Ordnung? Rede mit uns!“ Das war Schneider. Der Werwolf zwang sich, ihm in die Augen zu sehen. Wenigstens ein Orientierungspunkt für ihn.
„Richard!“, brachte er dann nur noch heraus. Sofort waren alle hellwach, ihre Blicke flogen zu der Tür, hinter der gerade die Operation stattfand.
„Was ist mit ihm?“ Tills Stimme war von Sorge und Angst gezeichnet.
„Sie verlieren ihn...ich verliere ihn...“
Paul zitterte. Er musste sofort etwas unternehmen, er hatte viel zu lange damit gewartet. Er sprang auf, so schnell, dass ihm schon wieder schwindlig wurde, dann lief er zielstrebig auf die Flügeltüren zu. Er hörte nicht mehr die Stimmen seiner Freunde, die ihm nachriefen, dass er dort nicht rein könne, die gesamte Aufmerksamkeit seiner Sinne galt dem jungen Hybriden, der gerade starb.
Die Türen flogen auf und Paul fand sich in einem kleinen Raum wieder, von dem erneut mehrere Türen abgingen. Ohne lange nachzudenken, denn seine Sinne leiteten ihn, zog er die nächste Tür auf und dann noch eine und dann nahm er „seinen“ Hybriden zum ersten Mal seit Stunden wieder vollständig wahr, noch bevor er ihn sah. Die Ärzte, die gerade damit beschäftigt waren, Richards Herz wieder zum Schlagen zu bringen, denn dieses hatte ausgesetzt, bemerkten ihn nicht. Paul lief, so schnell ihn seine Füße trugen zu dem OP-Tisch und erst jetzt bemerkte einer der Menschen, dass er überhaupt im Raum war.
„Was haben Sie denn hier zu suchen?“, wollte er überrascht und verärgert ansetzen, doch er kam nicht dazu, denn in dem Moment hörten sie alle ein lautes und gleichmäßiges Piepsen. Richards Herz hatte wieder angefangen, ruhig und gleichmäßig zu schlagen, so, als ob es nie etwas anderes getan hätte. Gleichzeitig spürte Paul, wie der stechende Schmerz langsam nachließ, dazu kam eine Welle der Erleichterung, die ihn durchströmte, sodass er sich jetzt ganz schwach und zittrig auf den Beinen fühlte. Trotzdem blieb er stehen und strich Richard sanft über die Wange. Der Weiße dachte schon, er hätte ihn verloren. Nun erst bekam er mit, dass ihn die Menschen im Raum anstarrten und er war sich dem Umstand bewusst, womöglich gerade einen riesigen Fehler begangen zu haben. Einer der Ärzte setzte noch einmal zu fragen an: „Was haben Sie denn hier zu suchen? Wer sind Sie überhaupt?“
Paul atmete tief durch. Er war so unglaublich müde und eigentlich wollte er schlafen, aber er durfte seinen Welpen jetzt nicht alleine lassen. Sich ganz auf den Menschen konzentrierend antwortete er jetzt ruhig und mit todernster Stimme: „Mein Name ist Paul Landers und ich bin ein Freund von ihm...“, er deutete auf Richard, „...ein sehr guter Freund sogar und er braucht mich, wenn er...wenn er überleben soll...“
Die Menschen starrten den Werwolf erstaunt und fassungslos an. So etwas war ihnen in ihrem ganzen Leben noch nicht passiert. Einer der Ärzte fand schließlich seine Stimme wieder: „Das ist ja alles schön und gut, aber indem Sie einfach hier reinkommen, helfen Sie Ihrem Freund überhaupt nicht. Sie müssen uns unsere Arbeit machen lassen. Wenn sie jetzt bitte wieder draußen warten würden...“
Paul hörte dem Menschen nicht wirklich zu, sondern überlegte fieberhaft, wie er den Ärzten klarmachen sollte, dass er recht hatte. Er sah eigentlich nur eine Möglichkeit und er hoffte, dass Richard diese auch überleben würde. Es war immerhin ihre einzige Chance.
„Ich weiß, dass Sie mir nicht glauben...“, sagte er deshalb langsam, „darum werde ich es Ihnen wohl oder übel beweisen müssen...“
Damit drehte er sich um und entfernte sich schweren Herzens von dem jungen Hybriden. Sofort verschlechterte sich dessen Zustand. Paul hatte schon fast die Tür erreicht, als er einen der Ärzte „Herzstillstand!“ rufen hörte. Der Weiße zögerte. Sollte er jetzt schon zurückgehen?
Die Menschen versuchten in der Zeit sämtliche Wiederbelebungsmaßnahmen, doch keine fruchtete. Erst, als sie es schon aufgeben wollten, kam Paul langsam zurück. In dem Moment, als er seinen Welpen erreichte und ihm wieder sanft über die Wange strich, fing sein Herz erneut an zu schlagen.
Die Menschen starrten den Werwolf einfach nur an. Sie konnten sich nicht erklären, was da gerade passierte. Es war allerdings augenscheinlich, dass ihr Patient den anderen Menschen, sie wussten ja nicht, dass Paul ein Werwolf war, brauchte. Allerdings war ihnen auch klar, dass eben jener angeblicher Mensch ebenfalls ein Patient war und eigentlich Ruhe benötigte. Es war dem Weißen anzusehen, dass er bald umkippen würde, wenn das so weiterging.
Der Chefarzt seufzte. Was sollten sie jetzt machen? Sie mussten die OP zu Ende bringen, was aber augenscheinlich nicht ohne den Weißen ging. Schließlich zuckte er mit den Schultern und gab der Schwester ein paar Anweisungen. Die verschwand kurz und kam dann mit OP-Kleidung und Mundschutz wieder und Paul zog sich beides schweigend an.
„Gut, Sie können bleiben, ausnahmsweise, klar?“ Der Werwolf nickte nur und sein ganzer Körper drückte eine unendliche Erleichterung und Dankbarkeit aus.
„Ok...“ Er wandte sich an die Schwester. „Wir haben es sowieso gleich geschafft. Sorgen Sie dafür, dass uns der Herr...“
„Landers...“, kam es von Paul, der es immer noch unfassbar fand, dass er tatsächlich geduldet wurde.
„Dass uns der Herr Landers nicht umkippt...“ Der Arzt hatte ja keine Ahnung, wie sein zweiter Patient auf so viel Blut reagierte. Außerdem machte er nicht gerade den Eindruck, als ob er sich noch sonderlich gut auf den Beinen halten konnte. Die Schwester nickte nur und dann fuhren die immer noch leicht schockierten und verwirrten Ärzte mit der OP fort.
Etwa eine halbe Stunde später waren sie fertig. Paul hatte die letzten Minuten nur noch wie in Trance erlebt, so erschöpft war er. Er bekam nicht mit, wie einer der Ärzte kurz telefonieren ging, da ein anderer Mensch jetzt seine Aufmerksamkeit forderte: „Passen Sie auf, die OP ist an sich gut verlaufen, nur müssen wir Ihren Freund jetzt in ein künstliches Koma versetzen, um den Heilungsprozess nicht zu gefährden. Er hat viel Blut verloren und zwei der gebrochenen Rippen haben die Lunge ernsthaft verletzt, es ist eigentlich ein Wunder, dass er noch lebt.“
‚Wenn du wüsstest...’, schoss es dem Weißen durch den Kopf und er musste sich trotz der Situation ein Grinsen verkneifen. Er wusste, dass ein normaler Mensch mit so einer Verletzung schon innerhalb von Minuten gestorben wäre, zum einen am hohen Blutverlust, zum anderen wäre er vermutlich einfach erstickt. Dass Richard noch lebte, hatte er tatsächlich nur der Tatsache zu verdanken, dass er jetzt ein Hybride war und, naja...dass er „seinen“ Weißen in der Nähe hatte.
Paul hörte, wie die Tür aufging und drehte schwerfällig den Kopf in die Richtung aus der das Geräusch kam. Er hörte die Stimme von einem der Menschen: „Hören Sie, ich habe für Sie ein Bett angefordert und da werden Sie sich jetzt reinlegen, verstanden? Danach bekommen Sie und ihr Freund das gleiche Zimmer, so wie es aussieht, geht es wirklich nicht ohne Sie...“
Paul konnte wieder nur nicken und sah den Menschen dankbar an. Noch dankbarer war er allerdings, als er sich endlich hinlegen und die Augen schließen durfte. Momentan konnte er sich entspannen. Er wusste, er würde es mitbekommen, sollte die Verbindung zu „seinem“ Welpen abreißen und dann konnte er ja immer noch protestieren. Bevor er einschlief, fiel ihm aber noch etwas ein, das er fast vergessen hätte. Mühsam öffnete er die Augen und stellte fest, dass sich gerade eine Schwester über ihn beugte. Vermutlich wollte sie ihn auch etwas fragen, doch der Weiße kam ihr zuvor: „Könnten Sie vielleicht unsere Freunde über das informieren, was vorgefallen ist? Sie warten draußen und ich hab...sie einfach alleine gelassen...das war nicht richtig...überhaupt nicht...ich kann sie doch nicht...alleine lassen...“
Ihm kamen die Tränen, auch wenn er nicht wusste woher. Die Anspannung, die ihn die ganze Zeit über unbewusst beherrscht hatte, löste sich und das war nun einmal eine Auswirkung davon.
Er hörte eine sanfte Stimme und konzentrierte sich auf diese: „Bleiben Sie ganz ruhig, wir werden sie informieren. Jetzt ist es erst einmal wichtig, dass Sie sich Ruhe gönnen und ein wenig schlafen, ich bin sicher, das würde Ihr Freund auch so sehen...“
Paul sah ihr in die Augen, dann blickte er zu dem Hybriden, der an alle möglichen Geräte angeschlossen war, und nickte langsam. Kurz darauf fielen ihm auch wieder die Augen zu und diesmal schlief er durch bis weit in den nächsten Tag hinein.
Es sind nicht alle Menschen gleich...
Als er wieder erwachte, war er allein mit „seinem“ Welpen. Es war hell im Raum und Paul vermutete, dass es so um die Mittagszeit sein musste. Er fühlte sich in den jungen Hybriden ein. Dessen Zustand war zwar immer noch besorgniserregend, doch im Moment wies nichts darauf hin, dass er sich bald wieder verschlechtern würde und der Weiße war ganz froh darüber. Er atmete tief durch, dann stand er auf. Er war sich nicht sicher, ob er Richard für kurze Zeit alleine lassen konnte, aber er musste unbedingt zur Toilette und so blieb ihm nichts anderes übrig.
Langsam entfernte er sich immer mehr von seinem Freund und öffnete dann die Tür. Bis jetzt war alles ruhig. Weder seine Verbindung zu dem Schwarzhaarigen, noch die Geräte sagten ihm, dass er zurückkommen sollte.
Auf dem Gang kam ihm eine Schwester entgegen und sah ihn mit einigermaßen erstaunten Blicken an. Das, was da in der Nacht passiert war, hatte sich mittlerweile in der ganzen Klinik herumgesprochen und keiner konnte es sich so recht erklären. Paul bemerkte ihre Unsicherheit und beschloss, dem, was sie zu sagen hatte, zuvorzukommen: „Entschuldigung, wenn ich Sie jetzt erschreckt haben sollte, eigentlich suche ich nur die Toilette...“
Sie sah ihn immer noch erstaunt an, als wäre er eine Erscheinung oder so etwas, dann zeigte sie stumm in eine bestimmte Richtung.
„Danke.“, murmelte der Weiße. „Ich werde mich auch sofort wieder hinlegen, versprochen.“, setzte er noch lächelnd hinzu. Sie nickte und rang sich ebenfalls zu einem Lächeln durch. Dann fiel ihr aber ein, was sie eigentlich hatte sagen wollen: „Der Klinikleiter möchte Sie ganz gerne sprechen, er wollte dann eigentlich gleich kommen...“
Paul nickte knapp, dann ging er in die Richtung, die sie ihm angezeigt hatte. Äußerlich ließ er sich nichts anmerken, doch in seinem Inneren war alles in Aufruhr. Der Klinikleiter wollte ihn sprechen! Nun ja, eigentlich war es ja abzusehen gewesen, dass das, was er gestern getan hatte, Konsequenzen haben würde. Allerdings traute er den Menschen nun einmal nicht und vor allem mit Ärzten hatte er so seine Probleme, wenn er daran dachte, wie er schon von ihnen behandelt worden war. Diese Ereignisse hatten ihn geprägt und zwar in einer Art und Weise, die er keinem wünschte. Und dann war da noch etwas anderes. Er konnte den Gedanken daran nicht abschütteln, dass dieser Mensch, der mit ihm sprechen wollte, womöglich wusste, was er, Paul, in Wirklichkeit war und, schlimmer noch, was Richard war. Gleichzeitig versuchte er diesen Gedanken zu vertreiben. Woher sollte der das denn wissen? Er war doch nur ein Mensch, zumindest glaubte Paul das, schließlich hatte er bis jetzt nur Menschen hier wahrgenommen. Nirgends andere Werwölfe oder Hybriden oder gar Vampire, er und sein Welpe waren die einzigen nichtmenschlichen Lebewesen hier.
Als wieder zurück ins Zimmer kam, bemerkte er, dass sich Richards Zustand doch um ein Weniges verschlechtert hatte, was sich allerdings sofort wieder gab, als „sein“ Werwolf den Raum betrat. Er lächelte, dann trat er zu seinem Verwandten ans Bett und strich ihm leicht durch die Haare. Die Geräusche der arbeitenden Maschinen, die auch für Richards Überleben unabdingbar waren, blendete er aus. Trotzdem konnte er sie nicht vergessen. Er wusste, würde er sich verwandeln dürfen, dann könnten sie Richard immerhin aus dem künstlichen Koma holen und bräuchten nur noch abzuwarten, bis er von allein aufwachte.
Paul seufzte, streichelte „seinen“ Hybriden noch einmal und legte sich dann wieder aufs Bett. Er wollte schlafen. Plötzlich witterte er jedoch, dass sich ein anderer Mensch näherte. Er setzte sich auf und versuchte die aufkommende Angst und auch die Wut zu unterdrücken, was ihm aber kaum gelang. Die Tür öffnete sich und ein älterer Herr im weißen Kittel betrat den Raum. Paul versuchte ihn krampfhaft zu ignorieren, was ihm aber auch nicht gelang und so richtete er jetzt seine Aufmerksamkeit auf ihn.
Der Mensch lächelte ihn sanft an und begrüßte ihn. Der Weiße konnte nichts anderes tun, als nur zu nicken. Argwöhnisch beobachtete er jede Bewegung des anderen, bereit, sich oder seinen Hybriden jederzeit zu verteidigen. Der Arzt schien die Anspannung seines Patienten zu bemerken und betrachtete den Mann vor ihm genauer. Er sah eigentlich ganz normal aus, wie jeder andere Mensch auch, aber er wusste, dass dies vor ihm kein Mensch war. Innerlich schüttelte er den Kopf, dann beschloss er das Thema ganz offen und direkt anzugehen: „Sie fragen sich sicherlich, was ich von Ihnen möchte, richtig?“ Ein zögerliches Nicken war die Antwort.
„Nun, als erstes wollte ich Sie fragen, was Sie eigentlich sind. Ich tippe ja mal auf Werwolf, Vampir können wir ausschließen, denke ich...“
Und da war es auch schon: Das Thema vor dem Paul sich gescheut hatte. Das Thema, was sein Leben zerstört hatte. Das Thema, das dafür sorgte, dass er keine normale Beziehung zu Menschen aufbauen konnte und sie nicht zu ihm. Er sah den Menschen misstrauisch an. Was würde der jetzt machen? Er hatte Angst, das sah man ihm deutlich an und ein leises Knurren entfuhr seiner Kehle. Erschrocken über sich selbst zuckte er zusammen. Hatte er das gerade wirklich getan?
Der Arzt bemerkte die Reaktion seines Gegenübers und seufzte. Er hatte es sich nicht einfach vorgestellt, den Werwolf auf dieses Thema anzusprechen, aber dass der sich so verhalten würde...
Er hörte eine leise Stimme. Sie klang kalt, war von einem Knurren kaum zu unterscheiden und als er sie hörte, lief ihm ein Schauer über den Rücken: „Woher...woher wissen Sie das?“
„Darf ich mich setzen?“, fragte der Mensch, anstatt eine Antwort zu geben und kam langsam und vorsichtig näher.
Paul nickte, gleichzeitig rückte er so weit wie nur möglich von seinem Gegenüber weg. Trotzdem, es tat ihm irgendwie gut, auf gleicher Augenhöhe mit dem Menschen zu sprechen. Der setzte wieder an: „Nun, ich weiß einiges über Werwölfe und Vampire und nachdem, was mir gestern geschildert wurde, war das gleich mein erster Verdacht. Ich weiß um diese besondere Verbindung, die entsteht, wenn ein Werwolf oder ein Vampir einen Menschen beißt und ich weiß auch, dass diese unter Umständen Auswirkungen auf den Gesundheitszustand von beiden haben kann. Darum vermute ich, dass Sie ein Werwolf sind und Ihren Freund gebissen haben. Liege ich damit richtig?“
Der Weiße starrte ihn einfach nur an. Die Sekunden wurden zu Minuten und dehnten sich zur Ewigkeit. Die Stille wurde langsam bedrückend.
Pauls Gegenüber seufzte erneut. Er wusste nicht, was er machen sollte. Es war offensichtlich, dass er recht hatte und dass der Werwolf Angst vor ihm hatte. Das verstand er nicht. Warum hatte ein Werwolf Angst vor einem Menschen? Er sah ein, dass er so nicht weiterkommen würde und beschloss, es für heute gut sein zu lassen.
„Na gut, ich sehe ein, dass Sie nicht mit mir reden möchten, also werde ich jetzt wieder gehen. Ich wünsche Ihnen noch eine gute Besserung, sollten Sie mich brauchen...“
„Das ist richtig...“, wurde seine Rede plötzlich von dem Weißen unterbrochen.
Der Arzt, schon im Begriff wieder aufzustehen, hielt überrascht inne.
„Was ist richtig?“, fragte er dann. Wieder wurde er einfach nur angestarrt und er hielt den Blicken des Werwolfs stand. Er konnte erkennen, dass sein Gegenüber mit sich rang. Sollte er jetzt noch einem Menschen erzählen, was passiert war? Aber eigentlich war es doch auch egal, oder? Er wusste sowieso schon genug, da machte das bisschen mehr oder weniger an Informationen auch nichts mehr aus.
Deshalb entschied sich Paul jetzt auch zum Weitersprechen: „Alles ist richtig. Es stimmt, dass ich ein Werwolf bin und es stimmt, dass ich Richard gebissen habe. Und es stimmt auch, dass ich nicht mit Ihnen reden möchte, aber...“
„Was aber?“
Der Weiße hörte und spürte, dass der Mensch, der mit ihm auf dem Bett saß, mehr als nur verwirrt war, deshalb beschloss er jetzt, nicht lange um den heißen Brei herumzureden.
„Aber das spielt jetzt keine Rolle, wenn ich Richard helfen will.“, sagte er deshalb.
Er wollte schon zu näheren Erklärungen ansetzen, doch der Mensch unterbrach ihn: „Gut, wie Sie meinen, ich will Sie schließlich zu nichts zwingen. Ich lag also richtig damit, dass Sie ein Werwolf sind und auch, dass Sie Ihren Freund gebissen haben. Eines verstehe ich allerdings nicht: Warum haben Sie ihn gebissen? Soweit ich weiß, waren Sie alle nur vier Tage in der Wüste und Vollmond war schon eher. Sie hätten sich doch eigentlich nicht einmal verwandeln können und Ihr Biss hätte eigentlich keine Wirkung zeigen dürfen...“
Jetzt lächelte Paul, dann erklärte er: „Nun ja, das liegt daran, dass ich kein gewöhnlicher Werwolf bin. Ich bin ein Weißer, falls sie schon einmal von uns gehört haben sollten...“
Der Arzt nickte eifrig. „Sicher habe ich schon einmal von ihnen gehört. Es gibt aber nicht so viele weiße Werwölfe auf der Welt, nur vier oder fünf glaube ich.“
„Fünf sind es, wenn man mich mit einrechnet.“, erwiderte der Weiße, dann fuhr er fort: „Und ich musste Richard beißen, sonst...wäre er gestorben...“
Er schaute wehmütig zu dem anderen Bett hinüber. Der Mensch folgte seinem Blick.
„Aber...warum?“, fragte er dann, doch bevor Paul auch nur Luft für eine Antwort holen konnte, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen und er schlug sich an die Stirn.
„Natürlich! Die Hybriden!“
Der Weiße wirkte überrascht. „Sie wissen auch von denen?“, fragte er dann.
„Ja, ich weiß auch von denen“, war die Antwort. „Das heißt dann also, dass ein Hybride Ihren Freund angegriffen hat?“
Ein Nicken.
„Ok, das erklärt dann natürlich Einiges. Dann war es die einzige Möglichkeit, die Sie hatten. Wann haben Sie ihn denn gebissen?“
„Etwa zwei Tage nach der Attacke...“
„Wie bitte, er hat zwei Tage unter diesen Bedingungen mit einer Hybridenvergiftung überlebt?“
Der Arzt wirkte erstaunt und respektvoll, was Paul ziemlich verwirrte. Dieser Mensch hatte doch tatsächlich mehr Ahnung, als er zunächst gedacht hatte.
„Aber...warum haben Sie ihn erst so spät gebissen?“
„Nun ja...“ Paul wusste nicht, was er darauf antworten sollte. „Weil...weil ich dachte, dass ich nicht immer...ansteckend bin...“
Er sah zu dem Menschen auf und stellte mit Erstaunen fest, dass dieser kreidebleich geworden war. „Sagen Sie bloß, Sie sind in Russland gebissen worden?“
Der Werwolf nickte. Wusste dieser Mensch etwa...
Ein betroffenes Flüstern riss ihn aus den Gedanken, noch bevor er sie wirklich denken konnte: „Oh mein...das tut mir ja so leid...das muss schrecklich für Sie gewesen sein...ich weiß nicht, was ich sagen soll...“
Und das meinte der Arzt ernst. Er wusste um die grausamen Methoden mit denen in Russland vorgegangen wurde, wenn es eine Werwolfsattacke gab und dass der vor ihm Sitzende noch lebte, hatte er wohl wirklich einzig und allein der Tatsache zu verdanken, dass er ein Weißer war.
Besagter Werwolf schien ziemlich verwirrt über das Mitgefühl des Menschen zu sein. Dieser Mann kannte ihn doch gar nicht! Warum zeigte er sich dann so betroffen? Das passte doch gar nicht zusammen!
Der Arzt bemerkte die Unsicherheit seines Gegenübers.
„Jetzt schauen Sie mich nicht so groß an. Nicht jeder Mensch ist so wie die, die Sie kennen gelernt haben. Es gibt durchaus auch Leute, die Ihnen helfen wollen und bestimmt keine Angst vor Ihnen haben. Ich bin so jemand. Ich wollte eigentlich mit ihnen darüber reden, ob Sie vielleicht eine Idee haben, wie wir Ihren Freund schneller aus dem Koma holen können. Gestern hat ja schon Ihre Anwesenheit Wunder bewirkt, aber vielleicht gibt es noch etwas, das wir tun könnten?“
Er sah fragend zu Paul. Und der konnte im ersten Moment nichts anders tun, als einfach nur zu lächeln und es war ein echtes Lächeln, ohne Misstrauen darin. Dann sagte er leise: „Es gibt da schon etwas, das wie noch tun könnten. Wenn ich mich verwandeln könnte und dürfte, dann wäre es kein Problem, Richard aus dem Koma zu holen. Wir müssten dann nur noch warten, bis er von allein aufwacht. Die Frage ist nur, wie Sie den anderen Menschen hier klarmachen wollen, dass das nur geht, wenn ein fast eineinhalb Meter großer Wolf sich im Zimmer befindet...“
„Ach, das lassen Sie mal meine Sorge sein, wenn das Ihr einziges Problem ist...“, kam es lächelnd von dem Arzt. Der Weiße konnte kaum glauben, was er da hörte.
„Ist das...meinen Sie das ernst?“
„Natürlich! Warum sollte ich das nicht ernst meinen?“
Darauf wusste Paul keine Antwort und so ließ er sich vorsichtig vom Bett gleiten. Er sah kurz zu seinem Hybriden, dann warf er dem Menschen, der immer noch auf dem Bett saß und erwartungsvoll schaute, einen langen Blick zu und schloss die Augen. Immer noch war er ziemlich schwach, trotzdem hatte er seinen Körper noch so unter Kontrolle, dass er sich das laute Heulen verkneifen konnte. Seine menschlichen Konturen schwanden und als schließlich der schneeweiße riesige Wolf im Raum stand und merkwürdig fehl am Platze und gleichzeitig unglaublich passend für die Szenerie wirkte, musste der einzige Mensch in diesem Raum doch den Impuls unterdrücken, einfach wegzulaufen.
Unsicher blickte der Werwolf zu besagtem Menschen. Er wollte Augenkontakt herstellen, das war schon immer seine Methode gewesen. Der Arzt hielt seinen Blicken eine Weile ruhig stand, dann sagte er beinahe ehrfurchtsvoll: „Das war wirklich das Beeindruckendste, das ich je gesehen habe. Ich verstehe überhaupt nicht, warum die Werwölfe gejagt werden, ihr seid solche schöne Geschöpfe...“
Der Weiße war überrascht bei diesen Worten, allerdings konnte er keine Lügen darin entdecken und so wurde er zutraulicher und machte ein paar Schritte auf den Menschen zu. Der rührte sich nicht vom Fleck. Er war ziemlich unsicher und wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Schon seit vielen Jahren hatte er darauf gewartet, einmal eine Werwolfsverwandlung miterleben zu dürfen und nun, da das passiert war und ausgerechnet ein Weißer sich verwandelt hatte, wusste er nicht, was tun. Deshalb entschied er sich, besagten Werwolf einfach zu ihm kommen zu lassen, der Rest würde sich schon von alleine ergeben, das hoffte er zumindest.
Unwissentlich tat er damit das Beste, was er machen konnte. Paul war ziemlich angespannt und bereit, sein eigenes Leben und das seines Hybriden jederzeit zu schützen, sollte der Mensch es sich doch anders überlegen und eventuell Dinge tun, die er lieber unterlassen hätte. Doch der regte sich nicht und so hatte der Weiße auch keinen Grund zum Angreifen. Schließlich blieb er nur Zentimeter vor dem Arzt entfernt stehen. Der streckte vorsichtig die Hand aus, ebenso bereit, sein Leben zu schützen, wie es auch der Werwolf war. Die Atmosphäre hätte angespannter nicht sein können, als sich seine Hand Stück für Stück dem Weißen näherte. Schließlich berührte der Mensch den Werwolf sacht am Kopf und Paul verkniff sich ein zurückweichen. Er spürte, wie der Mensch ihn unsicher über den Kopf streichelte, dann jedoch mutiger wurde und ihn im Nacken kraulte. Die Spannung löste sich, als Paul sich den Berührungen hingab und den Menschen gewähren ließ.
Nach einer Weile hörte der Arzt auf. Er wusste nicht, was er sagen sollte und starrte den riesigen Wolf einfach nur an. Er hätte nie gedacht, dass er das einmal erleben würde. Paul bemerkte die Unsicherheit, die nach wie vor vorhanden war und stupste den Menschen mit der Schnauze an.
„Ich muss Ihnen danken.“
Der Arzt sah überrascht auf. „Mir danken?“
„Ja. Ich...ich hätte nie für möglich gehalten, dass ich hier jemanden finden würde, der Richard wirklich helfen kann...und auch will......danke...“
Jetzt lächelte Pauls Gegenüber. „Aber das ist doch selbstverständlich. Schließlich bin ich Arzt. Ich habe die Pflicht, meinen Patienten zu helfen...“
Der Weiße konnte nur nicken, er war immer noch ganz überwältigt davon, dass dieser Mensch so unkompliziert reagiert hatte.
„Gut, und was passiert jetzt? Sie haben sich ja nun verwandelt, wie geht es jetzt weiter?“
Jetzt kam doch der Arzt in dem Menschen durch, schließlich schien es ja nicht mit der bloßen Verwandlung getan zu sein. Paul wollte ihm gerade antworten, da befiel ihn plötzlich eine unglaubliche Schwäche, die definitiv nicht von seinem Hybriden herrührte und er lehnte sich zitternd gegen das Bett, um nicht umzufallen. Sofort kniete der Mensch neben ihm.
„Was ist los? Stimmt etwas nicht?“
Paul schüttelte nur den Kopf, er war nicht in der Lage irgendeine Regung zu machen. Beinahe panisch konzentrierte er sich auf das, was sich gerade in seinem Körper abspielte. Er war zu schwach, um die Verwandlung zu halten. Er würde bald wieder seine menschliche Gestalt annehmen. Aber das ging doch nicht! Nicht, wo er es doch geschafft hatte, den Menschen zu überzeugen, dass seine Wolfsgestalt so wichtig war!
Doch er konnte es nicht aufhalten. Ohne, dass er es wollte, setzte die Rückverwandlung ein und als diese abgeschlossen war, hielt sich Paul krampfhaft am Bett fest. Er stand kurz vor dem Zusammenbruch. Nur entfernt hörte er die Stimme des Menschen neben ihm: „Sie müssen sich hinlegen und ausruhen, hören Sie? Sie brauchen Ruhe, ganz dringend sogar!“
„Ja aber...“, wollte Paul ansetzen, doch er kam nicht dazu, denn er musste sich stark darauf konzentrieren, dass er nicht bewusstlos wurde. Er spürte, wie ihn der Arzt mit sanfter Gewalt zurück ins Bett verfrachtete und ließ es geschehen. Fast war sogar dankbar dafür, dass er sich hinlegen und die Augen schließen konnte. Schlafen, Ruhe, das klang wie Musik in seinen Ohren.
Aber das ging doch jetzt noch nicht! Er musste doch eigentlich wach bleiben, er konnte jetzt nicht ausruhen. Mühsam hielt er die Augen offen und sah den Menschen an. Der ahnte, was der Weiße ihm mitteilen wollte.
„Hören Sie, Sie brauchen dringend Ruhe, das ist Ihnen doch hoffentlich klar, oder? Ich weiß ja, dass Sie sich Sorgen um Ihren Freund machen, aber im Augenblick mache ich mir ehrlich gesagt mehr Sorgen um Sie als um Ihren Welpen. Es ist an sich überhaupt kein Problem, wenn wir ihn noch zwei, drei Tage im künstlichen Koma lassen. Sie müssen sich dringend erholen. Ich werde auch höchstpersönlich dafür sorgen, dass man Sie beide nicht trennen wird. Aber dafür müssen Sie mir versprechen, dass Sie sich jetzt Ruhe gönnen und wieder zu Kräften kommen, ok?“
Paul sah ihn müde an, dann brachte er ein schwaches Nicken zustande. Er wusste, dass der Mensch sein Wort halten würde. Und er wusste, er würde es auch mitbekommen, wenn es doch anders sein sollte. Denn eigentlich hatte der Arzt ja recht: Momentan war Richards Zustand stabil, er konnte sich also ruhig auch Erholung gönnen.
Er lächelte leicht, bevor er die Augen schloss und dann in einen tiefen Schlaf versank, aus dem er für die nächsten beiden Tage nicht mehr erwachen sollte.
Wach auf!
Das Erste, was Paul feststellte, als er wieder wach wurde, war, dass irgendetwas Schweres auf ihm lag. Verwirrt schlug er die Augen auf. Es war relativ dunkel um ihn herum und er schätzte, dass es so zwei Uhr morgens sein musste. Jetzt erkannte er auch, was da so schwer auf ihm lag. Oder eher wer. Schneider war es und er war nicht alleine. Auch Till, Olli und Flake schliefen halb sitzend, halb liegend mehr oder weniger auf ihm. Er musste lächeln, die Menschen sahen so friedlich aus. Dann fühlte er sich in Richard ein. Dessen Zustand war unverändert. War eigentlich auch abzusehen gewesen, sonst wäre Paul aufgewacht. Eigentlich hätte er ja weiterschlafen können, doch er wollte nicht. Er brauchte jetzt die Nähe zu „seinem“ Welpen. Paul witterte kurz, doch außer den vier Menschen und dem Hybriden konnte er niemanden wahrnehmen. Deshalb stand er jetzt auf, achtete dabei aber darauf, seine Freunde nicht zu wecken. Auch das lag in seiner Natur, dass er sich beinahe lautlos bewegen konnte und so möglichst unbemerkt blieb.
Vorsichtig bahnte der Weiße sich seinen Weg über die vier Menschen aus dem Bett. Niemand regte sich. Als er schließlich wieder auf seinen eigenen Füßen stand, atmete Paul erst einmal tief durch. Von seiner Schwäche von vor zwei Tagen war fast nichts mehr zu sehen. Er seufzte. Läge Richard nicht im künstlichen Koma, würde es ihm auch schon wieder verhältnismäßig gut gehen.
Paul nahm sich leise einen Stuhl und setzte sich an das Bett seines Welpen. Zuerst betrachtete er ihn nur, dann strich er ihm sanft über die Wange, streichelte durch seine Haare. Richard reagierte fast augenblicklich. Paul spürte in seinem Inneren auf einmal eine unglaubliche Wärme, er musste lächeln. Auch nahm er wahr, dass der Hybride eigentlich aufwachen wollte, was allerdings durch die Medikamente unterdrückt wurde. Eine gewisse Unruhe machte sich im Körper des Schwarzhaarigen breit.
„Ruhig bleiben Richard.“
Paul knurrte mehr als dass er redete. Seine Stimme war sehr leise und kaum zu hören, doch der Werwolf wusste, dass sein Welpe ihn verstehen konnte.
„Warte noch ein paar Stunden...es ist alles in Ordnung...wir sind alle da...“
Tatsächlich beruhigte sich der junge Hybride langsam wieder und sein unmerklich verspannter Körper entspannte sich gleichermaßen. Paul lächelte.
„Na also...geht doch...“, knurrte er sanft, dann streichelte er seinen Welpen wieder.
Gleichzeitig spürte er noch etwas anders. Ein Gefühl, dass er bis jetzt noch nie so gespürt hatte. Und er spürte auch, dass dieses Gefühl auf Gegenseitigkeit beruhte, denn Richard erwiderte es. Aber das war doch nicht möglich! Wie kamen sie denn dazu?
Paul schüttelte unmerklich den Kopf. Dann legte er selbigen auf die Bettkante und streichelte den Hybriden weiter. Er konnte diese sanften Berührungen einfach nicht lassen, gaben sie ihm doch so viel Halt und Wärme und noch etwas...anderes. Außerdem taten sie Richard gut, das spürte er auch. Wieder musste der Weiße lächeln.
‚Alles wird gut...’ Das waren seine letzten Gedanken, bevor er dann doch wieder einschlief.
Schneider erwachte am Tag darauf sehr früh. Verwirrt blinzelnd richtete er sich auf. Was war passiert? Er sah sich um. Die drei Menschen neben ihm schliefen friedlich. Also waren sie doch eingeschlafen! Dabei hatten sie doch eigentlich wach bleiben wollen! Erst jetzt fiel ihm auf, dass irgendetwas anders war, als die letzten beiden Tage. Verwundert sah er auf das leere Bett vor ihm. Wo war Paul? Die Antwort erblickte er gleich darauf. Der Werwolf schlief, ähnlich wie seine Bandkollegen, halb sitzend, halb liegend am Bett des Hybriden. Dann war er also aufgewacht! Wurde ja auch langsam mal Zeit. Sie waren die letzten Tage doch ziemlich besorgt um ihre beiden Freunde gewesen.
Als Paul einfach so in den OP-Saal stürmte, wussten sie nicht, was sie tun sollten. Am liebsten wären sie ja hinterher gelaufen, allerdings war ihnen auch klar, dass sie damit weder Paul noch Richard helfen würden. Schließlich hatten sie beschlossen, zu warten. Nach etwas mehr als einer Stunde dann öffneten sich dich die Flügeltüren und eine Schwester kam heraus. Sie war sichtlich verwirrt gewesen und hatte ihnen nur zögernd, als könne sie es selbst kaum glauben, berichtet, was vorgefallen war. Erleichterung hatte sich daraufhin in ihnen breitgemacht und sie hatten natürlich sofort gefragt, ob sie zu ihren Freunden dürften. Die Schwester hatte allerdings vehement verneint und Till und Schneider sofort wieder in ihre Betten gescheucht. Auch bei Olli und Flake hatte sie darauf bestanden, dass die beiden mindestens noch einen Tag zur Beobachtung dablieben und der Chefarzt hatte sie darin bestätigt. Schließlich fügten sie sich schweren Herzens, allerdings mit der Versicherung, dass es ihren Freunden erst einmal gut ging.
Der Tag ging dann auch schneller vorbei, als sie gedacht hatten. Immerhin waren sie alle vier auch nicht gerade in der besten körperlichen Verfassung und so hatten sie den Großteil der nächsten Stunden schlicht und einfach verschlafen. Am Abend jedoch wollte der Klinikleiter sie sprechen und ließ sie doch tatsächlich in sein Büro bitten. Sie ahnten alle schon schlimmes, doch letztendlich hatte sich die Unterhaltung als sehr angenehm herausgestellt. Sie waren überrascht davon gewesen, dass dieser Mensch so wenig Probleme mit der Tatsache hatte, dass Paul ein Werwolf und Richard ein Hybride war. Danach war allerdings schon ein neuerlicher Schock für sie gefolgt, als der Arzt ihnen erzählte, dass Paul zusammengebrochen war. Er hatte ihnen angeboten, dass sie sofort zu ihren Freunden durften und sie auch dahingehend beruhigt, dass erst einmal keine Gefahr bestand. Das Angebot hatten sie natürlich nicht ausgeschlagen. Sie waren allesamt froh gewesen, als sie die beiden Gitarristen endlich wiedersahen, auch, wenn die erst einmal nicht ansprechbar waren. Sie mussten eben noch ein wenig warten.
Und das hatten sie auch getan. Einen weiteren Tag lang. Und dann hatten die Sorgen und Zweifel wieder angefangen an ihnen zu nagen, weil Paul überhaupt nicht mehr zu sich kommen wollte. Der Arzt hatte sie zwar beruhigt und ihnen gesagt, dass das normal wäre, aber so ganz überzeugend hatte er nicht gewirkt. Und nun war der Weiße doch aufgewacht!
Schneider hätte Luftsprünge machen können, wenn er nicht noch so verdammt müde gewesen wäre und die Schmerzen in seinen Schultern nicht allzu stark. Langsam fragte er sich ernsthaft, ob die Wunden tatsächlich so langsam heilten, wie der Weiße behauptete. Wenn ja...dann würden sie sich unbedingt für die nächsten Auftritte was einfallen müssen, denn unter diesen Bedingungen konnte Schneider unmöglich drummen. Aber das war jetzt erst einmal zweitrangig. Schließlich mussten Paul und Richard erst mal wieder richtig gesund werden, bevor sie wieder an Auftritte denken konnten.
Schneider erhob sich und streckte sich vorsichtig. Wegen der unbequemen Position tat ihm alles weh, nicht nur seine Schultern, aber er ignorierte es. Viel mehr beschäftigte ihn eine schwerwiegende Frage: Sollte er die anderen wecken – oder nicht?
Er überlegte...und konnte sich nicht so wirklich entscheiden. Schließlich beschloss er, sein Glück zunächst bei Paul zu versuchen. Vorsichtig ging er zu ihm und rüttelte ihn sanft an der Schulter.
„Hey Paul, aufwachen.“, sagte er leise. Zur Antwort erhielt er ein unwilliges Knurren und eine abwehrende Handbewegung.
Schneider rollte mit den Augen. „Pahaul!“, sagte er nun schon etwas lauter. „Aufwachen!“
Doch der Weiße dachte nicht daran, das Reich der Träume zu verlassen. Es war viel zu gemütlich da. Hartnäckig versuchte er, die lästige Stimme und das noch lästigere Geschüttel zu ignorieren, als er spürte, wie sein Welpe Kontakt mit ihm aufnahm. Mit einem Schlag war Paul hellwach, obwohl man es ihm äußerlich noch nicht ansah.
‚Was willst du?’, dachte er, doch Richards Anliegen war sonnenklar: Er wollte endlich aufwachen. Sein Weißer hatte ihn ja schon in der Nacht beruhigen müssen, damit er sich nicht allzu sehr gegen die Medikamente, mit denen er ruhiggestellt war, wehrte. Er hatte sich ja auch in Geduld geübt, doch er fand, dass er jetzt lange genug gewartet hatte. Und er war kurz davor, die Geduld zu verlieren. Paul regte sich deshalb jetzt auch. Schneider ließ überrascht von ihm ab.
„Guten Morgen!“, begrüßte er den Werwolf gut gelaunt. „Schön, dass du wieder unter den Lebenden bist.“
Er erhielt eine unverständliche Mischung aus Knurren und Murmeln zur Antwort, meinte aber die Worte „Und dir auch einen schönen Tag“ heraushören zu können.
Der Drummer musste grinsen. Aus den Augenwinkeln nahm er eine Bewegung wahr und als er sich umblickte, sah er, dass sich seine Bandkollegen mittlerweile auch regten. Verwirrt blinzelnd sahen sich die drei erst einmal um, bis sie begriffen, dass sie im Zimmer ihrer beiden Freunde eingeschlafen waren. Als sie aber bemerkten, dass ein ziemlich wacher Werwolf leise auf seinen bewusstlosen Welpen einknurrte, waren auch sie hellwach.
„Paul!“, entfuhr es ihnen fast einstimmig.
„Na endlich bist du wach! Hat ja auch lang genug gedauert!“, setzte Till noch hinzu.
Unwillig ruckte der Weiße mit dem Kopf in ihre Richtung. So froh er auch war, dass er sie hatte und sie ihn akzeptierten, so nervig empfand er jetzt auch ihre Anwesenheit. Er hatte nämlich im Moment alle Hände voll zu tun, dass Richard möglichst ruhig blieb und nicht krampfhaft versuchte wach zu werden. Das war viel zu gefährlich, dazu war er schließlich noch viel zu schwach, nur – das wollte er nicht einsehen.
Der Weiße seufzte. Warum musste sein Welpe auch nur so stur sein? Er sollte mal lernen, sich in Geduld zu üben.
„Paul? Stimmt was nicht?“ Er hörte die Stimmen der Menschen mal wieder nur sehr entfernt, er konnte momentan nicht einmal so wirklich zuordnen, wer das gesagt hatte.
„Holt mal einer von euch den Arzt.“, meinte er deshalb nur und war sich nicht einmal sicher, ob er das jetzt nur geknurrt oder auch wirklich gesprochen hatte. Doch als er Schritte vernahm und eine Tür leise auf – und wieder zugehen hörte, wusste er, dass seine Bitte gerade erfüllt wurde.
Er seufzte, schloss die Augen und knurrte leise weiter. Die Menschen konnten sich keinen Reim auf sein merkwürdiges Verhalten machen und wussten nicht so recht, was sie tun sollten.
„Paul?“, versuchte es Schneider noch einmal. Er war sich nicht sicher, ob ihn der Werwolf auch gehört hatte. „Können wir dir irgendwie helfen?“
Zuerst machte der Angesprochene den Eindruck, als hätte er nichts verstanden, doch dann konnten die Menschen ein undeutliches „Kommt her!“ zwischen den ganzen Knurrlauten entnehmen. Sie sahen sich an und zuckten mit den Schultern, dann folgten sie der Aufforderung.
„Was ist denn los?“, kam es verwirrt und besorgt von Till, der immer wieder zwischen den beiden Gitarristen hin – und herschaute.
Paul nahm sich kurz Zeit, um seine Bandkollegen anzusehen. „Richard will unbedingt aufwachen...“, meinte er dann leise und eine gewisse Gereiztheit schwang in seiner Stimme mit, die sich nun wieder fast menschlich anhörte.
„Ja...und? Ist das jetzt schlecht oder was?“, fragte Schneider irritiert nach. Müsste sich der Weiße nicht eigentlich freuen, wenn sein Welpe unbedingt aufwachen wollte?
„Naja... ‚schlecht’ würde ich es nicht nennen, aber...“
„Was ‚aber’?“ Das war wieder Till, der den Werwolf fragend ansah.
„Aber das geht halt momentan nicht, weil er durch die Medikamente ruhiggestellt ist...Wenn er sich dagegen wehrt, kann das gefährlich werden...und das will er nicht einsehen...“, erwiderte Paul mit einem leicht gereizten Blick zu seinem Welpen.
„Oh...“ Schneider folgte dem Blick, dann setzte er wieder zu sprechen an: „Und...können wir da irgendwie helfen?“
Es kam den Menschen überhaupt nicht in den Sinn, Paul zu fragen, woher er wusste, dass Richard aufwachen wollte, bzw. in Frage zu stellen, dass der Hybride sich überhaupt verständlich machen konnte. Es war eben einfach so und sie nahmen es so hin. Nach dem, was in der Wüste passiert war, konnte sie so ziemlich nichts mehr erschüttern.
„Naja, ihr könntet...“, wollte der Werwolf gerade ansetzen, doch die aufgehende Tür und die beiden Menschen, die das Zimmer betraten, unterbrachen ihn. „Guten Morgen, die Herren.“, kam es lächelnd von dem Klinikleiter, was mit einem allgemeinem Nicken quittiert wurde. Paul war der Einzige, der den Gruß mit einem knurrenden „Morgen.“ erwiderte.
Der Arzt wandte sich auch sofort dem Weißen zu: „Schön, Sie wieder auf den Beinen zu sehen.“, meinte er lächelnd. „Wie geht es Ihnen denn...und Ihrem Welpen?“
Der Angesprochene blickte zu dem Hybriden.
„Geht schon...“, meinte er dann. „Ich mach mir mehr Sorgen um Richard...er will nämlich unbedingt aufwachen...“
Ein Lächeln breitete sich auf dem Gesicht des Arztes aus.
„Na das hört man doch gern. Dann sollten wir jetzt wohl die Medikamente absetzen, es sei denn, Sie fühlen sich noch nicht in der Lage, sich zu verwandeln?“
Paul warf ihm einen Blick zu, dann zuckte er mit den Schultern.
„Die Medikamente müssen auf jeden Fall abgesetzt werden. Was mich betrifft, ist es sowieso egal, ob ich mich verwandeln kann oder nicht, Richard ist so ungeduldig, etwas anderes als Aufwachen, kommt für ihn nicht mehr in Frage...“
Sämtliche Blicke wandten sich jetzt dem Weißen zu und dann dem Welpen. Der Werwolf hatte es nicht konkret ausgesprochen, doch die Menschen wussten, dass er jetzt wieder seine Wolfsgestalt annehmen musste, ob es nun schädlich für ihn war oder nicht. Sonst hätten sie nämlich schon wieder ein riesen Problem.
„Gut...“, meinte der Arzt daraufhin ernst. „Dann wissen wir ja beide, was wir jetzt zu tun haben, oder?“
Paul nickte und während der Arzt sich an den Infusionen zu schaffen machte, stand der Weiße langsam auf, ging ein paar Schritte vom Bett weg, damit er mehr Platz hatte und schloss die Augen. Und dann verwandelte er sich erneut, wobei ihm tatsächlich noch durch den Kopf ging, dass er sich in den letzten Tagen öfter verwandelt hatte, als vorher in den ganzen Jahren.
Sich ein Grinsen und ein Jaulen verkneifend stand er schließlich wieder auf seinen beeindruckend großen vier Pfoten. Die Augen immer noch geschlossen, konzentrierte er sich auf das, was sich in ihm abspielte und stellte zu seiner Erleichterung fest, dass er die Verwandlung diesmal halten konnte, wenn es sein musste auch für mehrere Tage. Und er war sich relativ sicher, dass es sein musste. Dann nahm er Kontakt mit dem Hybriden auf.
‚Na? Jetzt zufrieden?’, fragte er ihn in Gedanken.
Er erhielt Zustimmung als Antwort und jetzt konnte er sich ein Lächeln nicht verkneifen, während er langsam zurück zu Richards Bett ging. Die Menschen nickten ihm aufmunternd zu, keiner von ihnen konnte es lassen, ihm mal kurz über den Kopf zu streicheln oder seinen Nacken zu kraulen und der Weiße war ihnen unendlich dankbar dafür. Diese stille Akzeptanz seiner selbst war etwas, das er sich jahrelang gewünscht, allerdings nie zu hoffen gewagt hatte, es tatsächlich einmal zu bekommen.
„Gut. Ich wäre dann soweit.“, brach der Arzt das nicht unangenehme Schweigen, welches sich breitgemacht hatte.
„Ich auch.“. knurrte der Werwolf nur und setzte noch hinzu: „Und Richard schon seit gestern Nacht...ungeduldiges Kind...“
Dabei rollte er doch tatsächlich mit den Augen, was die Menschen trotz der ernsten Situation zum Lachen brachte. Paul spürte, dass ihm ein gewisser Trotz von Seiten seines Welpen entgegenschlug und irgendwie beschlich ihn das leise Gefühl, dass sich der Hybride auf Garantie eine Retourkutsche dafür einfallen lassen würde. Nun – das sollte ihm nur recht sein. Wenn das dann nämlich bedeutete, dass Richard sich auf dem Wege der Besserung befand, würde er das auch noch über sich ergehen lassen können.
Und dann tat er endlich das, was er am liebsten schon vor ein paar Tagen hatten tun wollen. Er setzte sich auf sein Hinterteil, legte die Vorderpfoten aufs Bett und begann mit sanften Knurren Richards Hals zu lecken. Nur einen Augenblick später reagierte der Hybride. Sein Kreislauf kurbelte wieder an, sein Herzschlag und seine Atmung schienen kräftiger zu werden. Als Paul schließlich die Kehle seines Welpen ins Maul nahm und sanft, ohne einen Abdruck zu hinterlassen, zubiss, erlebte er die komplette Aufwachphase am eigenen Körper mit.
Er schloss die Augen.
Zuerst war da gar nichts, keine wirkliche Empfindung, dann stellte sich langsam die Schwärze ein. Dieselbige wurde allmählich heller, die Lampen an der Decke strahlten ziemlich intensiv, und dann drangen Geräusche an seine Ohren. Zuerst war da nur dieses nervige Piepsen, so gleichmäßig, dass es schon fast wieder einschläfernd wirkte. Nach und nach kamen noch andere Geräusche dazu, ein aufgeregtes Gemurmel im Hintergrund zum Beispiel. Und schließlich stellten sich auch die restlichen Sinneseindrücke ein. Die Tatsache, dass irgendein Druck auf ihm lastete, der aber nicht ganz unangenehm war.
Paul erkannte nach einiger Verwirrtheit, dass er sich gerade selbst wahrnahm, er hatte den Kopf auf Richards Brust gelegt.
Und dann ganz zum Schluss kamen die Gerüche. Das waren vielleicht viele. Er roch Desinfektionsmittel, die Medikamente, sogar den Tod, dessen fein süßlicher Geruch aus anderen Zimmern hierher drang. Doch das alles wurde überdeckt von der eindeutigen Witterung, die von vier Menschen in diesem Raum ausging und die nur allzu vertraut war.
Paul gab sanft Richards Kehle frei, gleichzeitig zog er sich aus dem Körper des Hybriden zurück. Dann öffnete die er die Augen und wartete darauf, dass sein Welpe dies ebenfalls gleich tun würde. Dass die Menschen sich alle interessiert um ihn herum geschart hatten, bemerkte er nicht. Er wartete einfach ab. Doch aus irgendeinem Grunde geschah nichts. Verdammt, was war da los?
„Paul?“ Der Werwolf blickte neben sich direkt in Schneiders fragende Augen. Der Drummer hatte ihm die ganze Zeit über den Nacken gekrault. Das bekam er erst jetzt mit.
„Paul, was ist los? Irgendwas stimmt doch nicht, oder?“
Der Weiße spürte die Blicke der anderen Menschen und hätte ihnen zu gerne eine Antwort gegeben, doch er hatte keine. Schwermütig schüttelte er den Kopf.
„Ich weiß es nicht.“, knurrte er dann betrübt. „Richard steht kurz vor dem Wachwerden, er kann uns ja sogar schon hören. Ich weiß nicht, warum er nicht einfach die Augen aufmacht...“ Wieder ein Kopfschütteln des Weißen. „Ich weiß es einfach nicht...“ Er hörte sich mehr als nur deprimiert an.
Dann wandte er sich wieder seinem Welpen zu: „Komm schon Rich...wo bist du?“
Immer noch Stille. Sie sahen sich besorgt an. Was lief gerade schief?
Till wollte schon zu einem „Und was machen wir jetzt?“ ansetzen, als man auf einmal ein sehr sehr leises raues Flüstern aus Richtung des Hybriden hören konnte: „Hab ich dir nicht gesagt, dass...du mich nicht Rich nennen sollst...“
Sofort wandten sich alle Blicke dem schwarzhaarigen Gitarristen zu, dessen Gesicht ein leises Lächeln zierte.
Paul, vor Freude überglücklich so heftig mit dem Schwanz wedelnd, dass er beinahe Schneider von den Füßen riss, brachte nur vier Worte hervor: „Richard! Du bist wach!“
„Naja...“, war da wieder das Flüstern des Angesprochenen. „Einer muss doch schließlich...auf dich aufpassen...oder?“
Paul konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, dann knurrte er leise: „Ja...ja, das ist ein Argument...“
Richards Lächeln wurde eine Spur breiter und dann schlug er mit einem leichten Blinzeln endgültig die Augen auf. Gleich darauf schloss er sie jedoch wieder. Die Deckenlampen waren nämlich wirklich verdammt hell. Nach einigen Augenblicken versuchte er es jedoch erneut und diesmal schaffte er es auch, die Augen offen zu halten und die Personen, die um sein Bett herumstanden einzeln anzusehen. Zum Schluss blieb sein Blick allerdings bei seinem Weißen haften.
„Du hast dir ja mächtig Zeit gelassen.“, meinte dieser dann. „Erst so ungeduldig und dann jagst du uns so einen Schrecken ein...“, setzte er kopfschüttelnd noch hinzu.
Wieder lächelte Richard, dann sah er seinen Werwolf entschuldigend an.
„Tut...mir ja leid..“, flüsterte er. „Aber irgendwie...ging das dann doch nicht so leicht...wie ich das mir vorgestellt hatte...“
„Mach dir nichts draus.“, mischte sich nun Schneider ein. „Hauptsache du bist endlich wieder wach.“ Die anderen bestätigten ihn mit einem eifrigen Nicken. Sie konnten gerade nicht so wirklich in Worte fassen, was sie im Moment empfanden. Sie konnten es ja noch nicht einmal so wirklich begreifen. Richard lebte. Und er würde leben. Sie würden alle leben. Wie auch immer sie das angestellt hatten, sie waren alle heil aus der Sache rausgekommen! Und das war in Anbetracht der Ausgangssituation und der weiteren Umstände mehr als nur ein Wunder.
Nun mischte sich der Klinikleiter wieder ein. Er hatte sich in den letzten Minuten zurückgehalten, da er den Menschen, dem Werwolf und dem Hybriden Zeit geben wollte. Wenn er genauer darüber nachdachte, war das schon eine seltsame Gruppe. Und trotzdem...verstanden sie sich. Eigentlich hochinteressant.
„Guten Tag.“, sagte er nun als er an das Bett des Hybriden herantrat. Erst jetzt wurde den Menschen klar, dass der Arzt ja auch die ganze Zeit über anwesend war.
„Ich bin...“
„Professor Joachim Gruber.“, beendete Richard seinen Satz mit einem Lächeln.
„Allerdings“, war die Antwort. „Sie scheinen ja einiges mitbekommen zu haben...“
„Das meiste, ja. Zumindest so viel, dass...ich einigermaßen auf dem Laufenden bin...“
Bis jetzt war Richards Stimme kaum über den Flüsterton hinausgekommen. Langsam begannen die Menschen sich wieder Sorgen zu machen. Doch weder den Arzt noch den Weißen schien das sonderlich zu stören.
„Gut. Ich will Sie ja auch nicht länger als nötig belästigen, wir können morgen über alles reden, wenn Sie Interesse haben.“ Man sah ihm an, dass er selbst ebenfalls hochinteressiert war. Er sprach gerade mit einem Hybriden! Kaum zu glauben.
„Fürs Erste würde ich nur gerne wissen, wie Sie sich fühlen und ob Sie irgendetwas brauchen.“
„Ich bin verdammt...müde...“, erwiderte Richard daraufhin. „Ich glaub...ich bin noch nie so müde gewesen...hätte nicht gedacht, dass Aufwachen so...anstrengend sein kann... Ich glaube...schlafen wäre jetzt keine schlechte Idee...“
Er sah die Personen um ihn herum an als erwartete er Zustimmung. Und die bekam er auch.
„Dann tun Sie das.“, meinte der Arzt lächelnd. „Wir sehen uns wieder, wenn Sie aufgewacht sind.“
„Ja eben.“, meinte jetzt auch Paul mit einem für die Menschen undefinierbarem Knurren, welches tatsächlich nur Richard, sein Welpe, verstand. „Schlaf mein Schwarzer. Ich bin da. Schlaf solange du willst... Und sei ein wenig geduldiger mit dir selbst.“, setzte er dann noch hinzu und stupste sanft seinen Hybriden am Hals.
„Ich werd’s mir merken.“, knurrte der ebenso leise zurück, dann schloss er wieder die Augen.
Träume und ihre Folgen
Richard schien sich zunächst an sein Versprechen zu halten und schlief den Großteil des Tages durch. Allerdings befielen ihn am Nachmittag Albträume. Zuerst waren da nur Bilder, Empfindungen – Dinge, die ihm unglaublich vertraut vorkamen und die er aber nicht einordnen konnte. Er sah Orte, die er noch nie zuvor gesehen hatte, begegnete Menschen und Hybriden, die er nicht kannte, kämpfte mit ihnen und beendete die Sache immer erfolgreich. Er stieg nach und nach in der Hierarchie des kleinen Rudels auf und sah auf einmal, wie er sich selbst und seine Freunde in der Wüste verfolgte. Er wusste nicht, woher diese Bilder kamen, doch noch während er darüber nachgrübelte, wechselte die Szene und es drängten sich ganz neue Bilder in sein Gehirn, in denen er noch einmal miterleben musste, wie er den Werwolf umbrachte und beinahe den grauen Hybriden getötet hätte.
Er sah Blut, sah sich selbst mit roten Augen und dann fühlte er auf einmal eine rasende Wut, gemischt mit Angst und Enttäuschung, sah sich selbst, wie er auf einen seiner Bandkollegen losging – er erkannte jetzt, dass es Schneider war – und spürte die Angst des Menschen unter ihm, seine Zähne waren nur noch Millimeter von der Kehle seines Freundes entfernt und der Hybride knurrte immer noch wutentbrannt, bereit beim kleinsten Zucken des Menschen zuzuschlagen und er hörte eine Stimme in seinem Kopf „Töte! Töte!“ und er biss zu.
Das Blut spritzte ihm ins Gesicht, er sah kurz, wie die Augen des Menschen brachen und seine Zähne bohrten sich noch tiefer in das weiche süße Fleisch, er machte sich mit einer wahren Freude, gepaart mit unheimlicher Aggression, daran, die Leiche seines Freundes zu zerfleischen und die ganze Zeit über hörte er ein bellendes Lachen...
Zitternd und schweißgebadet fuhr Richard aus dem Schlaf. Mit einem gehetzten Blick sah er sich keuchend im Zimmer um. Von seinen Bandkollegen war niemand hier, außer sein Weißer. Der hatte es irgendwie geschafft, sich zu dem Schwarzhaarigen aufs Bett zu quetschen und schlief seelenruhig neben seinem Welpen. Richard legte sich wieder hin, doch so wirklich beruhigen konnte er sich nicht. Noch immer hämmerte ihm das Herz in der Brust und auch sein Atem ging viel zu schnell. Er wurde die Bilder seines Traumes nicht mehr los, vor allem der zweite Teil rumorte in seinem Kopf und brachte alles durcheinander, wie ein Wirbelsturm, der sich durch die Landschaft pflügt und alles mit sich reißt.
Es hatte sich so verdammt echt angefühlt. Er hatte das Blut seines Freundes regelrecht schmecken können, obwohl er doch davon noch gar nicht gekostet hatte. Wie denn auch? Nie würde er auf die Idee kommen Blut zu trinken, weder als Mensch, noch als Hybride. Und erst recht nicht würde er einer der Personen, die ihm so nahe standen, etwas antun wollen.
Doch eines blieb: Er hatte getötet. Mutwillig und skrupellos. Es hatte ihm nicht mal etwas ausgemacht. Und er hätte noch weiter getötet, wenn er die Gelegenheit dazu gehabt hätte. Auch mutwillig und skrupellos. Und so sehr er in seinen aufgewühlten Gefühlen nach Mitleid oder einem schlechten Gewissen suchte – er fand nichts dergleichen. Das machte ihn fertig. Er hatte schon ein schlechtes Gewissen...irgendwo. Es meldete sich, eben weil er kein schlechtes Gewissen hatte. Er schüttelte den Kopf, um selbigen wieder klar zu bekommen. Seine eigene Logik kam ihm gerade sehr verwirrend vor.
Noch immer hatten sich weder Herzschlag noch Atmung normalisiert, irgendwie kam er nicht aus seiner kleinen Panikattacke heraus. Er wusste, wenn er so weiter machte, würde das noch unangenehme Konsequenzen haben und so tat er das Nächstbeste, was ihm einfiel: Er fing an, seinen Weißen sachte zu kraulen.
Der reagierte augenblicklich auf die Berührungen und kuschelte sich noch näher an den Schwarzhaarigen. Richard musste lächeln und vergaß für einen Augenblick das, was er gerade eben im Traum gesehen hatte. Gleichzeitig übermannte ihn die Müdigkeit wieder. Und so langsam beruhigte er sich nun. Jetzt regte sich auch der Werwolf und blinzelte ihn aus verschlafenen Augen an.
„Sag mal, hattest du mir nicht versprochen, dass du geduldiger mit dir sein wolltest?“, knurrte Paul jetzt leise und grinste leicht.
„Ich hatte gar nichts versprochen.“, verteidigte sich der junge Hybride müde. „Ich hatte lediglich gesagt, dass ich es mir merken werde...“
Er hörte sich traurig, resigniert und gleichzeitig leicht gereizt an, außerdem atmete er immer noch etwas zu schnell. Das bekam nun auch sein Weißer mit und schlagartig war der hellwach.
„Probleme?“, fragte er nun auf einmal scharf und Richard nickte leicht. „Was ist denn los?“ Der Werwolf legte seinen Kopf auf die Brust seines Welpen und bemerkte nun die immer noch hämmernden Herzschläge unter ihm.
„Hey hey, du bist ja ganz aufgeregt. Du musst dich beruhigen, was ist denn passiert?“
Der Schwarzhaarige zuckte nur mit den Schultern und fuhr fort, den Wolf zu kraulen. Doch der gab sich damit nicht zufrieden.
„Du hast mir meine Frage noch nicht beantwortet, Richard. Was ist los?“
„Ich hab geträumt...“, flüsterte der Angesprochene nur rau zurück. Eigentlich hatte er jetzt überhaupt keine Lust zu erzählen, was er gesehen hatte. Gleichzeitig wunderte er sich, dass Paul nicht zu wissen schien, was passiert war. Seit der Weiße ihn gebissen hatte, bekamen sie doch eigentlich alles voneinander mit. Das fing bei Gefühlen an und hörte bei einzelnen Gedanken auf. Was er allerdings nicht wusste, war, dass eben jener Wolf die Gedanken und Gefühle seines Welpen während des Schlafes ausgeblendet hatte. Er war geübt darin, seine geistigen Schutzmauern auch im Schlaf aufrecht zu erhalten und er hatte auch nicht weiter darüber nachgedacht, schließlich war es ihm zur Gewohnheit geworden. Außerdem war er der Meinung, dass man einer Person, egal ob Mensch oder etwas anderes wenigstens ein bisschen Privatsphäre lassen sollte und Träume zählten für ihn nun mal zu den intimsten Gedanken, die man haben konnte. Demzufolge hatte er auch nichts von dem mitbekommen, was Richard gesehen und gespürt hatte und diese Eindrücke gingen weit über normale Träume hinaus. Ebenso hatte er also auch nichts von der kleinen Panikattacke gespürt. Jetzt bekam er allerdings ein schlechtes Gewissen. Irgendetwas musste da vorgefallen sein.
„Schlimm?“, fragte er deshalb jetzt vorsichtig. Richard nickte nur, in seinen Augen standen schon wieder Tränen. Wann hatte er eigentlich in so kurzer Zeit so viel geheult? Energisch wischte er sich über die Augen, doch wirklich aufhalten konnte er es nicht.
„So schlimm?“, fragte Paul jetzt behutsam, aber trotzdem mit einer gewissen Schockiertheit in der Stimme. Wieder nur ein knappes Nicken.
Richard war regelrecht dankbar als er spürte, wie sein Weißer ihm nun den Hals leckte und dann seine Kehle sanft mit einem leisen Knurren zwischen die Zähne nahm – der größte Akt wölfischer Zuneigungsbekundung, den es geben konnte, gleichzeitig ein Zeichen der Unterwerfung. Eigentlich war es für Paul nur ersteres, allerdings fühlte er sich auch ein wenig schuldig. Er hätte Richards Bewusstsein nicht einfach ausblenden sollen.
Eine Weile lagen sie einfach nur so da, der Schwarzhaarige war immer noch mit Kraulen beschäftigt, bis der Wolf seine Kehle wieder freigab und ihn noch einmal sanft fragte: „Was ist denn passiert? Was hast du geträumt?“
Erleichtert stellte der Weiße fest, dass sich sein Welpe wieder komplett beruhigt hatte, allerdings war er verwundert, dass ihm jetzt Schamgefühle von dem Hybriden entgegenkamen. Anscheinend wollte der nicht darüber reden.
„Richard nun sag schon, was los war, ich kann es nicht riechen.“ Jetzt wurde er doch zunehmend ungeduldig.
„Ich will’s nicht erzählen...kannst du es dir nicht einfach ansehen? Geht das?“
Schon wieder dieses raue Flüstern und Paul machte sich mittlerweile echte Sorgen.
„Klar geht das.“, gab er sanft zurück. „Allerdings müsstest du dich auch noch einmal kurz daran erinnern...tut mir leid...“
Richard nickte bloß wieder.
„Immer noch besser als Erzählen...“, murmelte er dann vor sich hin und beschwor noch einmal, obwohl es ihm zuwider war, die Bilder aus seinem Traum, die Emotionen, die er gespürt hatte und auch die ganzen anderen Sinneseindrücke. Lange verweilte er jedoch nicht dort, er zog sich relativ schnell zurück und ließ seinen Weißen mit den Träumen allein. Er wollte es sich nicht noch einmal antun und er hoffte, dass er es auch nicht noch einmal musste. Doch tief in seinem Innern wusste er, dass ihn das noch eine lange Zeit verfolgen würde.
Paul sah sich Richards Erinnerungen an den Traum in aller Ruhe an und war keineswegs überrascht. Der erste Teil verwirrte ihn zunächst, doch dann kam ihm ein, dass das wohl Teile des Lebens von dem grauen Hybriden sein mussten. Manchmal kam es vor, dass sich so etwas beim Biss oder in dem Fall bei einer Hybridenverletzung übertrug, allerdings nicht zwangsläufig.
Auch den zweiten Teil konnte er sich gut erklären: Sein Welpe verarbeitete die Ereignisse, dazu kam die Angst, gefährlich für andere zu sein, das hatte er ja schon mal in der Wüste erwähnt. Der Weiße hielt diesen Einwand für völligen Schwachsinn, Richard war keinesfalls gefährlich. Es bereitete ihm aber Sorge, dass es den Schwarzhaarigen augenscheinlich so sehr mitnahm, was sich da ereignet hatte. Sonst hätte er sicherlich nicht so eine Panikattacke bekommen.
„Und? Fertig?“, hörte er jetzt die müde Stimme des Hybriden.
„Hmhmm...“, knurrte Paul nur leise, er wusste nicht, wie er das Thema angehen sollte. Er entschied sich für die direkte Variante: „Richard, du nimmst das doch nicht etwa ernst, oder?“
„Wie bitte?!“
Aus irgendeinem Grund war der Schwarzhaarige plötzlich richtig sauer. Trotz seiner Müdigkeit setzte er sich auf, schob den Wolf halb von sich herunter und sah ihm ohne zu blinzeln direkt in die Augen – eine offene Drohgebärde unter Wölfen, wie Hybriden und das wusste er. Das sagte ihm sein Instinkt.
„Wie sollte ich es denn sonst nehmen, außer ernst? Auf die leichte Schulter vielleicht?“
Er redete gefährlich leise, eindeutig kein gutes Zeichen bei ihm. Doch auch Paul war nicht der Auffassung, jetzt klein bei geben zu müssen – im Gegenteil. Er hielt den finsteren Blicken gelassen stand und meinte dann mit herausforderndem Knurren: „Ja, zum Beispiel!“
Der Hybride wollte schon etwas entgegnen, doch sein Weißer kam ihm zuvor: „Hör mal, was den ersten Teil des Traumes betrifft, den kann ich dir erklären: Das sind Erinnerungen aus dem Leben des grauen Hybriden, der dich angegriffen hat und...“
„Danke, das konnte ich mir auch schon zusammenreimen.“
Richard war sauer. Darum ging es ihm doch gar nicht!
Doch auch der Werwolf ließ sich nicht alles gefallen. Und schon gar nicht von so einem Jungspund, wie es sein Hybride war. Er sprang auf, warf sich gegen den Schwarzhaarigen und nagelte ihn mit den Pfoten auf den Schultern am Bett fest. Den Blickkontakt unterbrach er dabei nie und nun näherte er sich immer mehr der Kehle des Unterlegenen.
„Jetzt werd mal nicht frech, kleiner Welpe!“, knurrte er bedrohlich und gleichzeitig irgendwie sanft.
„Und unterbrich mich nicht. Den zweiten Teil kann ich dir nämlich auch noch erklären.“
Richard war zunächst völlig perplex von dem Überraschungsangriff des Weißen, nie hätte er gedacht, dass der seine dominante Stellung mal so deutlich machen würde. Es war schon irgendwo ein beklemmendes Gefühl, den riesigen Wolf über sich zu sehen, obwohl er wusste, dass der sich unter Kontrolle hatte und ihm nie etwas tun würde.
Ein unangenehmer Druck lastete auf seinen Schultern, obwohl er vermutete, dass Paul das meiste Gewicht schon auf die Hinterpfoten verlagert hatte, und gerade genug Kraft aufwendete, um ihn in einer liegenden Position zu halten, aber gleichzeitig nicht zu sehr wehzutun. So ähnlich musste sich Schneider gefühlt haben, nur hatte er das volle Gewicht des Wolfes zu spüren bekommen, gepaart mit mehreren messerscharfen Klauen, die sich in seine Schultern gebohrt hatten und er hatte nicht in die zwar etwas verärgerten, aber doch gleichzeitig sanft blickenden Augen schauen dürfen, sondern in blutrote Iriden, in denen sich blanker Hass wiederspiegelte.
Richard erinnerte sich schmerzlich an seinen Traum. Als die Bilder wieder vor seinen Augen auftauchten, schaffte er es einfach nicht mehr, dem Werwolf in die Augen zu sehen und blickte verlegen zur Seite. Damit gestand er dem Wolf auch gleichzeitig den „Sieg“ in diesem kleinen Duell zu.
Paul hatte sehr wohl die Gefühle seines Welpen mitbekommen und innerlich amüsierte er sich irgendwo darüber. Äußerlich blieb er dagegen ernst und vermied es tunlichst, dass der Schwarzhaarige etwas von seinen Gefühlsregungen mitbekam.
„Richard, sieh mich bitte an.“, knurrte er jetzt sanft. Er erhielt ein Kopfschütteln zur Antwort. Leicht verstärkte sich der Druck auf den Schultern des Hybriden. Der wusste, was das bedeutete, schüttelte aber wieder den Kopf.
„Ich...kann nicht...“, flüsterte er jetzt, zu groß, waren die Schuldgefühle. Zum einen wegen dem, was in der Wüste passiert war und zum anderen, weil er der Meinung war, seinen Weißen verletzt zu haben. Er hatte sich unverstanden gefühlt, ja, das war richtig, aber das war noch lange kein Grund, den Werwolf so anzufahren. Immerhin hatte der ihm innerhalb von vier Tagen dreimal das Leben gerettet.
Irgendwo schlugen da auch die Instinkte des Hybriden durch, denn als Welpe wandte man sich nicht gegen höhergestellte Mitglieder des Rudels und da Paul ihn gewandelt hatte, war er irgendwo wie ein zweiter Vater und somit sein Alpha geworden. Zumindest sagte ihm seine innere Natur das.
Und er war ja noch ein Welpe, so jung, wenn man bedachte, wie lange Hybriden leben konnten, so unerfahren mit seinem neuen Selbst – er musste sich nur an seine missglückten Flugversuche erinnern – und überhaupt hatte er keine Ahnung, was noch alles auf ihn zukommen würde und wie er damit umgehen sollte. Und der einzige, der ihm dabei helfen konnte, ein einigermaßen normales Leben zu führen, war nun mal der riesige weiße Wolf.
Tatsächlich würde der Hybride so lange seinen Welpenstatus behalten, bis er wieder mit sich selbst und anderen klarkommen würde und seine Fähigkeiten unter Kontrolle hatte. Und solange besaß er auch eine gewisse Immunität. Wie ein Welpe eben. Trotzdem konnte er sich nicht alles erlauben.
Paul tat es unheimlich leid, dass er seinen neuen dominanten Status dem Schwarzhaarigen gegenüber so deutlich machen musste, doch es ging nicht anders. Ließ er dem Hybriden alles durchgehen, konnte es geschehen, dass der irgendwann die Kontrolle über sich verlor und das musste um jeden Preis vermieden werden. Deshalb blieb er jetzt auch beharrlich dabei, seinen Willen durchzusetzen, auch wenn er seinen Freund damit quälte.
„Richard, ich wiederhole mich momentan ungern: Sieh mich an. Bitte!“
Tatsächlich blickte ihm den junge Hybride jetzt kurz in die Augen, blinzelte aber mehrmals heftig und sah sofort wieder weg. Doch das reichte dem Weißen schon, der jetzt die Pfoten von den Schultern des Schwarzhaarigen nahm und sich leise seufzend wieder neben ihn kuschelte. Langsam schob er seinen Kopf auf Augenhöhe mit seinem Welpen und der ertrug den Blickkontakt jetzt, da sie auf gleicher Höhe waren, auch wieder.
„Also, noch einmal.“, setzte Paul jetzt an. „Ich kann dir auch den zweiten Teil deines Traumes erklären und ich hoffe, dass du mich nicht schon wieder unterbrichst...“
Ein leichtes Kopfschütteln war die Antwort und der Wolf spürte erneut sanfte Streicheleinheiten.
„Weißt du, eigentlich ist das gar nicht so schwer. Du verarbeitest einfach, außerdem hab ich dich gebissen, du hast also wahrscheinlich einen Teil meiner Erinnerungen auch mitbekommen, kein Wunder, dass sich das alles vermischt. Und dazu kommt noch, dass das alles ja völlig neue Erfahrungen für dich waren, da ist es doch ganz logisch, wenn das in deinen Träumen präsent ist.“
„Ja aber...“
Richard stockte, er wusste nicht, wie er es ausdrücken sollte.
„Aber, es fühlte sich so real an. Als würde das alles noch einmal passieren. Und...und ich hab kein schlechtes Gewissen wegen diesem einen Werwolf...scheiße, das war auch noch ein Artgenosse von dir und überhaupt...ich kann kein Mitleid für ihn empfinden, obwohl ich es versuche – es geht einfach nicht! ... Das ist doch nicht normal...“
„Also erstens hab ich dir schon mal gesagt, dass das sehr wohl normal ist, zweitens möchte ich bitte nicht als Artgenosse von Wölfen beschimpft werden, die mutwillig anderer Leute Leben von Grund auf ändern und manchmal sogar zerstören und drittens ist es ganz logisch, dass sich das ‚real’ anfühlt. Himmel, Richard, das ist jetzt gerade mal zwei, drei Tage her, für dich muss es sich wie Stunden anfühlen, du hast schließlich im Koma gelegen. Klar, dass sich solche frischen Erinnerungen echt anfühlen, aber du kannst mir ruhig glauben: Das verblasst mit der Zeit.“
Der Schwarzhaarige sah seinen Weißen eine ganze Zeit nach dieser kleinen Rede nur schweigend an. Dann meinte er wieder mit diesem rauen Flüstern, das Paul jedes Mal eine Gänsehaut verpasste: „Ok, dann eben nicht Artgenosse, ist doch auch egal, aber kapierst du das denn nicht? Ich habe getötet – vielleicht war es diesmal jemand, der mich oder euch sonst umgebracht hätte, aber was ist, wenn es das nächste Mal jemanden trifft, dem ich sonst nie etwas tun würde? Freunde? Familie? Oder jemand ganz anderen, den ich noch nie vorher gesehen habe, einfach mal so, weil ich Lust habe? Was ist dann? Wer kann mich dann aufhalten? Du? Entschuldige, aber sollte ich dich beißen, dann hätte ich gleich noch jemanden auf dem Gewissen. Verstehst du das denn nicht? Ich bin gefährlich!“
Er hatte sich immer mehr in Rage geredet und Paul bemerkte, dass der Herzschlag seines Welpen schon wieder viel zu schnell ging. Von seiner Atmung ganz zu schweigen.
Der Weiße seufzte. So langsam gingen ihm die Argumente aus. Er hatte eigentlich nur noch eine Möglichkeit, wenn er seinen Welpen vor einem richtigen seelischen Knacks bewahren wollte. Doch in dem Moment, in dem er zu Sprechen ansetzte, spürte er, wie sich auf einmal zwei Arme um ihn schlangen und sein Fell nass wurde. Sein Welpe hatte sich an ihn gekuschelt, wie ein Kleinkind mit seinem Teddy schmusen würde und schien gar nicht daran zu denken, jemals wieder los zu lassen.
Sanft legte er jetzt seinen Kopf auf Richards Schultern, wie er es schon einmal in der Wüste getan hatte und ließ den Hybriden weinen. Im Moment war der sowieso nicht aufnahmefähig.
Als dann nach einiger Zeit die heftigen Schluchzer verebbten, versuchte es der Weiße noch einmal: „Richard? Ich möchte, dass du mir jetzt zuhörst, ok? Du bist nämlich nicht der Einzige mit diesem Problem.“
Paul spürte nur ein leichtes Nicken an seiner Seite und dann begann er wieder einmal leise zu erzählen.